7.

»Also?«

Nur dieses eine Wort. Aber etwas in Titchs Stimme machte es zu mehr als einer Frage; selbst mehr als einem Befehl. Sie hatten kein Wort gesprochen, seit Kiina die Spur des Daij-Djan entdeckt hatte, sondern nur die Pferde gesattelt, ihr weniges Gepäck und die beiden kostbaren Truhen auf den Packtieren festgeschnallt und den improvisierten Lagerplatz verlassen, so schnell es nur ging; ein Ritt durch eine stockfinstere Nacht, den ihre Eile zu einer Flucht und das unwegsame Gelände zu einem halsbrecherischen Risiko gemacht hatten. Erst jetzt, als das kleine Waldstück meilenweit hinter ihnen lag und sie sich wenigstens der Illusion hingeben konnten, in Sicherheit zu sein, gestattete Titch ihnen, wieder langsamer zu reiten. Und erst jetzt stellte er die Frage, auf die Skar die ganze Zeit über mit klopfendem Herzen gewartet hatte.

Und es war mehr als eine bloße Frage. Von Skars Antwort würde alles abhängen: Titchs weiteres Verhalten, mit Sicherheit Skars und vielleicht sogar Kiinas Leben; und möglicherweise das Schicksal ganz Enwors.

Er antwortete nicht gleich, und Titch wiederholte seine Frage auch nicht, sondern sah ihn nur stumm und mit steinernem Gesicht an, aber in seinen Augen war eine Härte, die Skar niemals zuvor an ihm gesehen hatte. Zum allerersten Mal war er wirklich das, was die meisten Menschen unter dem Wort Quorrl verstanden: ein Killer. Ein Ding, noch nicht ganz Mensch, aber auch nicht mehr Tier, das nur aus Kraft und Zorn bestand und zu nichts anderem als zum Töten gemacht war. Plötzlich hatte Skar Angst vor ihm; vor der Veränderung, die mit ihm vonstatten gegangen war.

Und doch war dies nicht der Grund, aus dem er nicht sofort antwortete. Er zögerte auch nicht etwa, um sich eine Ausrede einfallen zu lassen, obgleich er weiß Gott Zeit genug dazu gehabt hätte; und aus dem Stehgreif ein Dutzend Geschichten, die überzeugender waren als die Wahrheit. Aber er spürte einfach, daß Titch es wissen würde, wenn er ihn belog; und gleichzeitig hatte er Angst davor, sie auszusprechen, als ahne etwas in ihm, daß das Ding, das dort draußen in der Nacht umherschlich und ihn belauerte, mit jedem Male stärker wurde, wenn er seine Existenz bestätigte. Der Daij-Djan war wie eine Lüge: er wurde wirklicher, je öfter er über ihn sprach.

»Du hattest recht«, sagte er schließlich. »Er war die ganze Zeit über da.«

»Seit wann?« fragte Titch. Seine Stimme war kalt wie die einer Maschine, und vielleicht war es gerade das, was sie so drohend und furchteinflößend machte. »Seit Elay? Seit Drasks Burg? Oder schon vorher?«

»Seit mehr als zwanzig Jahren, Titch«, murmelte Skar. »Und ich glaube, schon länger. Vielleicht seit dem Tag meiner Geburt. Er ist ein Teil von mir.«

»Den du natürlich haßt.« Der Spott in Titchs Stimme tat weh. »Ja. So wie du den Krieger in dir.«

Titch machte eine zornige Handbewegung. »Ich will nicht mit dir diskutieren, Satai. Behalte deine geschliffenen Worte für dich. Ich weiß, daß du besser reden kannst als ich. Ich will einfach nur die Wahrheit hören. Wer bist du? Was willst du wirklich, und wozu hast du mich gebraucht?«

Skar hielt sein Pferd mit einem so heftigen Ruck am Zaumzeug an, daß das Tier vor Schmerz schnaubte und auszubrechen versuchte. Er brachte es zur Räson, ohne die Bewegung auch nur bewußt zu registrieren. Plötzlich spürte er nichts anderes als Wut; einen Zorn, der aus Hilflosigkeit geboren war und fast körperlich weh tat. »Verdammt!« brüllte er. »Was willst du hören? Daß ich dich die ganze Zeit über angelogen habe? Ja, zum Teufel, ich habe es! Aber nicht, weil es mir Spaß macht, sondern weil ich dieses ... dieses Ding genauso fürchte wie du. Und ich hasse es, ja! Ich hasse es mehr, als du dir vorstellen kannst!«

Titch blieb ganz ruhig. Skars Zornesausbruch prallte von ihm ab, ohne daß sich auch nur etwas an seinem Blick änderte, geschweige denn an der eisigen Entschlossenheit, die Skar spürte. Dafür lenkte Kiina ihr Pferd mit einer heftigen Bewegung herum und versuchte das Tier zwischen Skars und Titchs Pferde zu drängen, was ihr aber nicht gelang.

»Wovon redet ihr?« fragte sie. Ihr Blick irrte haltlos zwischen Titchs und Skars Gesichtern hin und her, und was sie sah, ließ sie mit jeder Sekunde ängstlicher werden. »Was ... was bedeutet das alles. Titch! Was hat das zu bedeuten? Was waren das für Spuren? Was meint ihr? Skar!«

»Sag es ihr«, grollte Titch.

»Bitte, Titch, ich glaube nicht, daß das -«

»Sag es ihr.« verlangte Titch noch einmal, leise, scharf und im gleichen, keinen Widerspruch duldenden Ton wie zuvor. »Sag ihr alles, Satai. Ihr und mir. Jetzt! Oder ich schwöre dir, daß ich auf der Stelle kehrtmache und dich allein weiterreiten lasse. Nicht«, fügte er bitter und mit einem abfälligen Verziehen der Lippen hinzu, »daß ich noch glauben würde, daß das einen Unterschied macht.«

Kiina hob in einer hilflosen, flehend wirkenden Geste die Hände. »Was soll er mir sagen?«

»Die Wahrheit über den Daij-Djan«, flüsterte Skar. »Das Wesen, dessen Spuren du gefunden hast.« Aber er war nur ein Schatten, der keine Spuren hinterließ. »Das Ding, das die Krieger auf Crons Hof erschlagen hat.«

»Der Daij-Djan?« Kiinas Reaktion verriet deutlich, daß sie diesen Namen nicht zum ersten Mal hörte. »Aber ich dachte, er wäre ... vernichtet. Der Dronte...«

»Deine Mutter hat dir von ihm erzählt«, vermutete Skar, ehe ihm einfiel, daß nicht nur Gowenna Kiina die Geschichte von ihrer ersten Begegnung mit der Sternenbestie erzählt hatte, sondern er selbst. Trotzdem verbesserte er sich nicht, sondern fuhr fort: »Aber sie hat dir nur erzählt, was sie glaubte.«

»Und was hat sie geglaubt?« fragte Titch auf eine Art, die Skar erneut zusammenfahren und den Quorrl fast verzweifelt anblicken ließ. Die Bitterkeit in Titchs Stimme tat ihm weh; mehr als je zuvor.

»Daß er nur ein Ungeheuer war«, sagte er zögernd. »Ein ... Ding. Ein Geschöpf der Sternengeborenen, wie der Dronte oder die Ultha - oder das Netz.« Er machte eine Handbewegung, die klar machte, daß er die Aufzählung beliebig fortsetzen konnte. »Aber das war er nicht. Er hat nur einen Körper bekommen, damals. Aber er war schon immer da. In mir.«

»In dir?«. Kiina versuchte zu lachen, aber es gelang ihr nicht. In die verunglückte Mimik, zu der ihr Spott geriet, mischte sich eine erste Spur aufkeimenden Entsetzens, das sich nur noch einen Moment hinter Hysterie verbergen konnte.

»Was ... was meinst du ... damit?« stammelte sie.

»Nicht so wie in Helth«, sagte Skar rasch. »Er... er gehört zu mir. Er ist ein Teil von mir, so wie... wie ich ein Teil von ihm bin.«

Es war so schwer, es in Worte zu fassen; vielleicht, weil auch er selbst bis jetzt nicht wirklich begriffen hatte, wie viel seiner Seele seinem Dunklen Bruder gehörte, und wie wenig noch ihm. Vielleicht war es genau umgekehrt, und vielleicht war er der Schatten, ein lächerlich zappelndes Etwas, das sich einbildete, Herr über ein Leben zu sein, in dem es in Wahrheit nur geduldet gewesen war, von Anfang an. »Ich habe geglaubt, ich könnte ihn besiegen«, fuhr er fort. »Aber ich bin mir nicht mehr sicher.« Titch starrte ihn an. Er schwieg, verzog nicht einmal eine Miene, aber Skar spürte genau, daß ihm diese Worte nicht reichten. Er hatte den Quorrl belogen, vielleicht nur einmal, aber es war einmal zu oft gewesen. Und plötzlich riß Titch sein Pferd herum, rammte ihm die Fersen in den Leib und sprengte davon, so schnell, daß Skar nicht einmal Zeit fand, einen Ruf auszustoßen, um ihn zurückzuhalten. Die Nacht verschluckte den Quorrl binnen Sekunden. Nur das dumpfe Dröhnen seiner Hufschläge war noch für eine Weile zu hören, bis auch dieses Geräusch leiser wurde und schließlich ganz verklang.

»Er wird wiederkommen«, sagte Skar leise, zu Kiina gewandt und ohne wirkliche Überzeugung. Denn wenn nicht, dann ist das unser Todesurteil. Auch seines. »Er kommt bestimmt zurück. Er... braucht sicher einfach eine Weile für sich.«

Er drehte sich im Sattel um und sah Kiina an, aber das Mädchen schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. Aus weit aufgerissenen Augen starrte es in die Nacht hinaus, in die Richtung, in der Titch verschwunden war; aber Skar war fast sicher, daß sie etwas ganz anderes sah.

»Kiina«, sagte er schleppend. »Ich -«

»Erzähl es mir«, unterbrach ihn Kiina. »Alles.«

Skar blickt sie an, schwieg, und sah schließlich zu Boden. Er wollte reden, endlich mit jemandem reden, der sein dunkles Geheimnis mit ihm teilte und es ihm somit ein wenig leichter machte, es zu ertragen; und gleichzeitig fürchtete er sich davor wie vor nichts anderem auf der Welt.

Aber dann sah er auf und glaubte einen Schatten zu sehen, ein flüchtiges schwarzes Huschen vor der noch dunkleren Farbe der Nacht, und mit dem Wind wehte ein unhörbares böses Lachen zu ihm heran, ein Geräusch, das voller Spott und Hohn war, aber auch das Versprechen auf kommenden, noch größeren Schrecken mit sich brachte, und etwas wie Trotz regte sich ihn ihm.

Skar begann zu reden.

Загрузка...