Das Wasser des Sturzes rauschte so unbeteiligt und kraftvoll nieder, wie es dies seit Millionen von Jahren tat, und wie es vermutlich auch noch in Millionen Jahren sein würde; eine gewaltige, schweigende Macht, die in ihrer ruhigen Majestät selbst die bizarre unterirdische Welt AetAhen zu einem Nichts zu degradieren schien. Aus der Tiefe drang ein machtvolles dumpfes Dröhnen zu ihnen empor, und Kiina konnte die Kälte spüren, die wie ein eisiger Hauch der Ewigkeit von der Wand aus stürzenden Wassermassen ausging.
Wie viele Jahrmillionen hatte dieser Fluß gebraucht, sich eine halbe Meile tief in den Granit der Erde zu graben? Wie viele Königreiche hatte er entstehen und untergehen sehen? Wie viele Völker waren an seinen Ufern erwacht und wieder verschwunden?
Kiinas Gedanken begannen auf sonderbaren Pfaden zu wandeln, während sie dastand und den Wasserfall ansah. Aber vielleicht waren sie gar nicht so seltsam; vielleicht war das hier der einzige wirkliche Grund, aus dem Welten wie Enwor existierten; nicht das hektische, von Anfang an zum Scheitern verurteilte Streben der Menschen nach Macht und Ewigkeit, sondern die elementaren Gewalten der Schöpfung, deren Wirken ihnen nur ziellos und blind vorkommen mochte. Hatten Menschen jemals die Ewigkeit gesehen? Hatten denkende Wesen jemals das Verstreichen der Jahrhunderttausende gefühlt, wie Tage, die aufeinander folgten? Die Berge hatten es. Die Flüsse hatten es, und Feuer und Sturm hatten es. Vielleicht war es gerade umgekehrt - vielleicht waren sie die Hüter dieser Dinge, nicht die Krone der Schöpfung, sondern vergängliche kleine Werkzeuge, deren einziger Daseinszweck es war, sich fortzupflanzen und eine kleine Strecke der Ewigkeit als Volk zu existieren, ehe sie wieder verschwanden, auf die eine oder andere Weise.
Sie mußte sich plötzlich beherrschen, um nicht die Hand auszustrecken und die gläserne Wand dicht vor sich zu berühren, obwohl sie wußte, daß es sie töten würde. Was aussah wie eine Wand aus mattem Glas, die sich in einem sanften Wind bog und verzerrte, das war ein Fallen und Reißen von so ungeheuerlicher Wucht, daß schon die flüchtigste Berührung ausreichen mußte, sie von den Füßen und in die Tiefe zu reißen.
Und vielleicht wäre dieser der beste Ausweg. Das einzige, was Sinn machte.
Sie vertrieb den Gedanken, trat langsam einen Schritt vom Ende der stählernen Röhre zurück und nickte den beiden Quorrl zu.
Sie hatten Skars Leichnam in den schwarzen Mantel eines Hohen Satai gewickelt und hierher zurückgetragen, an den einzigen Ort in dieser angstmachenden unterirdischen Welt aus rotem Licht und Furcht, an dem der Tag herrschte. Der einzige Ort, der eines Mannes wie Skar würdig war.
Seltsam - sie empfand beinahe keine Trauer. Trauer war etwas, das stets mit Hadern verbunden war - mit dem Verlust eines Menschen, der zu früh gegangen war, obwohl es nicht hätte geschehen dürfen.
Aber er hatte nicht anders enden können als so. Er hatte den Tod gesucht; vielleicht seit dem Tag seiner Geburt.
Titch und Rowl hoben den toten Körper gemeinsam hoch und traten an ihr vorbei. Sie zögerten einen Moment, und Titch sah sie an, als erwarte er, daß sie etwas sagte; irgend etwas von Gewicht, oder vielleicht auch nur ein Gebet.
Aber sie schwieg. Es war alles gesagt worden, was zu sagen war. Rowl hatte vorgeschlagen, Skars Leichnam mitzunehmen und ihn mit den Ehren eines Königs zu begraben, aber sowohl Titch als auch sie hatten diesen Vorschlag abgelehnt. Er war hier heruntergekommen, um sein Leben für seine Welt zu geben, und es wäre ihnen beiden wie Verrat vorgekommen, hätten sie seinen toten Körper mit zurückgebracht, nach oben, in die Welt, für die er so viel geopfert und die ihm so wenig dafür zurückgegeben hatte. Er sollte gehen, wie er gekommen war - still und unbemerkt, ein Mann, der aus dem Nichts erschien und ins Nichts verschwand. Und gab es ein würdigeres Grab für ihn als dies? Sie gab Titch einen Wink mit den Augen, und er und der Bastard warfen den toten Körper mit aller Macht in den Sturz hinein. Die gläserne Wand teilte sich, schien ihn für den Bruchteil einer Sekunde schwerelos zu halten - und schloß sich wie ein Vorhang aus kristallener Schwärze. Er würde auf ewig dort unten liegen, gehalten und behütet von der Urkraft der Schöpfung selbst.
»Eine Minute«, murmelte Rowl. »Wären wir nur eine Minute früher gekommen...«
»Es hätte nichts geändert«, antwortete Kiina. »Ich glaube, er hat es so gewollt.«
»Niemand will sterben«, murmelte der Bastard.
»Er hat die Unsterblichkeit kennengelernt, Rowl. Nur für wenige Tage, aber er hatte die Macht und das Wissen eines Gottes. Welchen Sinn kann ein Leben haben, wenn man die Ewigkeit verloren hat?«
Titch und Rowl traten zurück, und Kiina nahm noch einmal ihren Platz ein und sah in die Tiefe. Unter ihr war nichts als schaumiges Weiß und kochende Bewegung, und doch war es ihr für einen Moment, als sehe sie ihn, eine kleine, unendlich verlorene Gestalt, die hoch aufgerichtet in den tobenden Gischtwolken stand und ihr zuwinkte. Es war nur eine Illusion, sie wußte es, aber sie hob trotzdem ihrerseits die Hand und erwiderte seinen Gruß, und sie wußte, daß sie ihn genauso in Erinnerung behalten würde.
Dann senkte sich ihre Hand auf den Gürtel, zog den Scanner hervor und warf auch ihn in das kochende Weiß hinab. Die Waffe war nutzlos geworden. Sie hatten Skars Körper aus der Kammer geschafft, und sie war noch einmal stehengeblieben und hatte den Scanner abgefeuert, immer und immer und immer wieder, bis das Herz der unterirdischen Stadt zu einer Hölle aus weißglühendem schmelzendem Stahl und explodierenden Flammen geworden war, und auch dann noch, so lange, bis aus dem Feuer der Sterne, das ihre Hand verschleuderte, ein matter Glanz wurde und der Scanner in ihren Fingern zu glühen begann.
Vielleicht würde er wieder funktionieren, wenn sie ihm Zeit gab, sich zu erholen. Aber sie wollte ihn nicht mehr. Nie mehr. Sie hatte erst jetzt begriffen, was Skar gemeint hatte, als er sagte, daß sie diesen Krieg verlieren mußten, bedienten sie sich der gleichen Waffen wie die, gegen die sie kämpften. Sie hatte es erst wirklich begriffen, als Rowl, Titch und sie den gleichen Weg gingen wie Skar vor ihnen, und als sie den geballten Tod in dem Schacht hinter sich sahen, den Tod für hundert Welten, der noch immer darauf wartete, entfesselt zu werden. Das Geschenk der Götter. Das einzige Erbe, das sie ihren Kindern für die Ewigkeit hinterlassen hatten.
Und nach einer weiteren Stunde zog sie auch den kleinen Kasten aus dem Gürtel, den Skar ihr anvertraut hatte, und schleuderte auch ihn den Wasserfall hinaus. Es war Skars Wille gewesen, daß sie einen Ort fand, an dem er nicht wieder gefunden wurde. Und sie hatte ihn gefunden. Einen Ort und einen Wächter, wie er besser nicht vorstellbar war.
Aber sie wandte sich auch jetzt noch nicht um, sondern zögerte noch einmal und hob die Hand vor das Gesicht. Ihr Blick glitt über das silberne Blitzen des Ringes an ihrem Mittelfinger, dem Symbol ihrer Macht, Skars allerletztem Geschenk an sie. Langsam, aber mit ganz sicheren, ganz ruhigen Bewegungen, zog sie ihn vom Finger.
»Was tust du?« fragte Titch.
Kiina lächelte. »Was ich tun muß«, antwortete sie.
Der Quorrl hob den Arm, wie um sie zurückzuhalten, und ließ die Hand dann wieder sinken. Wortlos sah er zu, wie Kiina mit aller Kraft ausholte und den heiligen Ring der Ehrwürdigen Frauen so weit in den Sturz hinausschleuderte, wie sie konnte. »Du hast soeben ein Königreich verschenkt«, sagte er. »Das war der Ring der Margoi. Wer ihn besitzt, wäre der Herrscher der Errish gewesen.«
»Es gibt sie nicht mehr«, sagte Kiina lächelnd. »Und wenn doch, so brauchen sie keinen Herrscher.« Sie wandte sich zu ihm um, sah erst ihn, dann Rowl und dann wieder ihn an. »Wir müssen aufhören, zu herrschen, Titch. Vielleicht war es das, wofür er wirklich gekämpft hat.« Sie würden lernen müssen, wie dieser Fluß zu werden, dachte sie. Wie die Berge, wie der Sturm. Sie würden lernen müssen, sich gegenseitig zu respektieren, statt sich zu beherrschen.
»Was wirst du jetzt tun?« fragte sie, an Titch gewandt.
»Das alles hier zerstören«, antwortete der Quorrl. »Und wenn ich es nicht kann, dann wenigstens dafür sorgen, daß es nie wieder gefunden wird. Ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwie wird es mir gelingen.«
»Und dann?« Kiina deutete mit einer Kopfbewegung nach oben, wo über einer halben Meile Felsen und Ewigkeit die neue Welt der Menschen und Quorrl auf sie wartete.
Titch zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Mein Volk braucht Männer, die es führen. Aber ich weiß nicht, ob ich es will. Ob ich es sollte.«
»Ohne dich wäre keiner von uns hier«, sagte Rowl. »Cant braucht einen neuen König.«
Titch sah ihn an, verzog das Gesicht. »Es hat einen neuen König, Rowl. Den besten, den es sich wünschen kann. Ich bin nur ein Krieger, nicht mehr.«
»Vielleicht stimmt das sogar«, antwortete Rowl. »Aber wer sagt, daß ein Land nur einen König haben kann? Cant ist ein großes Land, und es hat einen großen Thron.«
Und plötzlich verzog sich Titchs Gesicht zu einem Lächeln. »Das stimmt«, sagte er. »Aber dein Hintern ist breit genug, ihn allein auszufüllen, dreckiger Bastard.« Er schüttelte lachend den Kopf, als Rowl abermals widersprechen wollte, und deutete auf Kiina. »Sie hat recht, weißt du? Auch ich möchte lernen, wie es ist, zu leben, statt zu herrschen. Es tut mir leid, daß du es bist, der den schlechteren Teil erwischt hat - aber ich fürchte, du bist derjenige von uns, der König werden muß.
Pech für dich«, fügte er lachend hinzu.
Rowl antwortete mit Worten seiner Muttersprache, die Kiina nicht verstand, und zwischen den beiden Quorrl entbrannte eine Art freundschaftlicher Streit, dem Kiina eine Weile lächelnd zusah, ehe sie sich umdrehte, Skars Schwert aufhob und unter ihren Gürtel schob.
Als sie gehen wollte, rief Titch ihren Namen, und sie drehte sich noch einmal zu ihm um.
»Wo willst du hin, Menschenjunges?« fragte er.
Kiina zuckte mit den Schultern. »Enwor ist groß - Fischgesicht.« Sie lächelte, zuckte abermals mit den Schultern und machte eine vage Bewegung mit beiden Händen. »Irgendwohin.«
»Das trifft sich gut«, antwortete Titch und trat neben sie. »Dann haben wir denselben Weg.«
ENDE