15.

Der gleiche Tag, aber später, und wieder im Inneren des Berges: sie befanden sich in Rowls Gemach, einem riesigen, halbrunden Raum, dessen Decke sich gute dreißig Fuß über ihren Köpfen spannte. Es war ein wenig heller hier drinnen als in den düsterroten Gängen und Katakomben Carans, denn Rowl hatte zusätzlich fast ein Dutzend Fackeln entzündet, deren knisterndes Feuer nicht nur das bedrückende Höllenlicht der Katakombenwelt vertrieb, sondern auch die warme Feuchtigkeit, die in den endlosen Gängen und Treppenfluchten nistete. Trotzdem fühlte sich Skar so unbehaglich wie in dem lichtlosen Gefängnis, in dem er seine ersten Stunden in Caran verbracht hatte. Es war nicht immer gut, zu sehen, wo man sich befand. Und diese Kammer... Sein Verdacht, daß Caran weder ein Berg noch natürlichen Ursprungs war, war fast zur Gewißheit geworden, schon auf dem Weg hier herauf. Es war schwer, sich ohne Anhaltspunkte und im Innern eines zyklopischen... Gebildes wie Caran zu orientieren, aber Skar war ziemlich sicher, daß sie sich dicht unterhalb der abgeflachten Spitze des Pyramidenberges befinden mußten. Rowl hatte sie durch Stollen und Gänge geführt, die scheinbar meilenlang gewesen waren: endlose Treppenfluchten hatten sich mit niedrigen, vollkommen leeren Gängen und schrägen Rampen abgelöst, und ein paarmal hatten sie klettern müssen; nicht, weil es die Erbauer Carans so vorgesehen hatten, sondern weil Teile der chtonischen Anlage zusammengebrochen waren - manchmal über primitive Treppen und Leitergerüste aus Holz, manchmal über steile Halden aus Trümmern und scharfkantigem Schutt. Caran war ein Alptraum; ein Alptraum aus Stahl und Rost, denn nichts hier war natürlichen Ursprungs. Der Berg war kein Berg, sondern ein Gebäude, ein tief in die Erde gerammtes Gegenstück zum flüsternden Turm im Herzen des Drachenlandes, nur größer; und unendlich viel älter. Auf dem Weg hier herauf hatte Skar die Last der Jahrhunderttausende gespürt, die an diesen Mauern vorübergegangen waren wie Stunden im Leben eines Menschen.

Seltsamerweise half ihm diese Erkenntnis nicht, mit dem Unwohlsein fertig zu werden, das Caran ihm einflößte. Das Wissen, daß dies ganz und gar kein magischer Ort war, sondern nur ein weiteres Überbleibsel aus der phantastischen Welt der Alten hätte ihn beruhigen müssen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Skar kam sich eingesperrt vor, lebendig begraben in einer riesigen Falle aus Metall und erstarrter Zeit.

Caran war nicht tot, das fühlte er. Die titanischen Wände aus Stahl, von Jahrhunderttausenden oder auch -millionen in zusammengebackene Gebilde aus scharfkantigem Rost verwandelt, die uralte, verbrauchte Luft, die zum Husten reizte und ihm trotz der allgegenwärtigen Feuchtigkeit immer das Gefühl gab, Durst zu haben, die toten Dinge, unverständliche Hinterlassenschaften einer Kultur, deren Denken so fremd wie ihre Architektur unangenehm gewesen war, das alles suggerierte dem Betrachter das Gefühl von Verfall und Tod. Aber es war falsch. So zerfallen und leer dieses Gebilde auch sein mochte, etwas war hier, etwas, das lebte, oder zumindest existierte. Es hatte nicht einmal lange gedauert, bis Skar begriffen hatte, woher dieses Gefühl kam: obwohl äußerlich vollkommen verschieden, erinnerte ihn Caran doch an Ennarts Turm im Tal der Drachen. Es war das gleiche Gefühl des ständig Belauertwerdens, das gleiche Empfinden unsichtbarer böser Augen, die ihn aus Ecken und Winkeln heraus anzustarren schienen, gesichtslose Dämonenfratzen, die ihn von den Wänden herab angrinsten und blitzartig verschwanden, wenn er versuchte, genauer hinzusehen.

Skar verscheuchte den Gedanken und sah wieder zu Rowl auf, der am anderen Ende des wuchtigen Metalltisches Platz genommen hatte, der wie ein Pilz aus Rost aus dem Boden wuchs. Titch hatte länger als eine Stunde geredet, und Rowl hatte sich verändert in dieser Zeit. Nicht äußerlich. Sein Gesicht war noch immer so unbewegt wie vorher, und seine Haltung noch immer die eines Herrschers, obwohl er sich lässig auf eines der sonderbaren Sitzmöbel gelümmelt hatte, die wie der Tisch und die übrigen Möbelstücke(?) direkt aus dem Boden hervorwuchsen. Trotzdem spürte nicht nur Skar, wie erschüttert der Quorrl war; erschüttert und auf eine Art und Weise getroffen, die ihn an die schreckliche Veränderung erinnerte, die mit Cron vor sich gegangen war, kurz vor seinem Tod. Skar hatte versucht, sich in Titchs Erzählung einzumischen, aber der Bastard hatte ihn so rüde unterbrochen, daß er es kein zweites Mal versuchte. Was Titch erzählte, war eine Sache der Quorrl, und nur der Quorrl. Daß Skar - selbst als Akteur - in die Geschehnisse um die Ssirhaa hineingezogen worden war, änderte daran gar nichts.

»Und was erwartet ihr jetzt von mir?« fragte Rowl. Er klang müde; erschüttert. Sein Gesicht, seine Haltung und selbst seinen Blick hatte Rowl noch immer unter Kontrolle. Seine Stimme nicht. Sie zitterte. Aus jedem einzelnen Wort sprach Angst. Und etwas hier fing diese Angst auf, griff mit gierigen, unsichtbaren Klauen danach und saugte sich voll damit, wie ein Schwamm, der nach Äonen wieder mit Wasser in Berührung kam. Skar spürte es; so deutlich, daß er fast glaubte, ein widerliches Schmatzen und Schlürfen zu hören, die ersten mühsamen Lebensäußerungen der Bestie, die aus ihrem ewigen Schlaf erwachte.

Es beginnt auch hier, dachte er. Nicht so schnell wie im schwarzen Turm Ennarts, und nicht mit so entsetzlicher Zielbewußtheit wie in Drasks Burg, die ihnen um ein Haar alle zum Grab geworden wäre, aber es begann. Er wußte es. Auch Caran war ein Vermächtnis der Alten, und es begann zu erwachen, kaum, daß er auch nur in seine Nähe gekommen war. Und er wußte noch etwas mit unerschütterlicher Sicherheit: daß Caran ebenso untergehen würde wie diese beiden Orte. Wie vielleicht ganz Enwor.

»Die Ssirhaa«, flüsterte Rowl. Er schüttelte den Kopf, sah abwechselnd Skar und Titch an und spannte die Hände um die Armlehnen seines Sessels; so kraftvoll, daß das rostzerfressene Metall bedrohlich knirschte. »Soll ich dir glauben, Titch?« Anders als bisher antwortete Titch nicht mit einer scharfen Bemerkung oder auch nur mit Spott. Er nickte einfach. »Du weißt es doch längst«, sagte er, nach einer ebenso langen, nachdenklichen Pause wie der, die Rowl vorher gemacht hatte. »Du weißt besser als ich, was in Ninga vorgeht. Und nicht erst seit heute.«

»Weiß ich das?«

»Die Frage ist eher, ob du es wissen willst«, antwortete Titch. Er machte eine komplizierte Quorrl-Geste, deren Sinn Skar verschlossen blieb, die Rowl aber zu einem fast ärgerlichen Stirnrunzeln veranlaßte. »Du kannst mir nichts vormachen, Rowl«, fuhr er fort. »Ich kenne dich. Dich und deine Bastarde. Vergiß nicht, daß wir einmal Feinde waren. Und ich weiß alles über meine Feinde.«

Rowl lächelte. Schwieg. Zum ersten Mal, seit sie hier heraufgekommen waren, suchte sein Blick bewußt den Skars.

»Und du, Satai?« fragte er. »Glaubst du auch, wir sollten uns gegen unsere eigenen Götter auflehnen?«

Skar antwortete nicht sofort. Titch hatte Rowl beinahe alles erzählt, was seit ihrer ersten Begegnung vor den Toren der Trutzburg der Zauberpriester geschehen war. Beinahe - nicht vollkommen. Von seiner - Skars - wirklichen Rolle hatte er kein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Skar fragte sich, wie lange es noch dauern mochte, bis sie selbst in dem Gespinst aus Lügen und Halbwahrheiten die Orientierung verlieren würden, das Titch in den vergangenen Stunden gesponnen hatte. In seiner Geschichte waren zu viele Lücken; zu vieles, was Rowl mißtrauisch oder zumindest nachdenklich machen mußte, sobald er Gelegenheit fand, in Ruhe über das nachzudenken, was Titch ihm erzählt hatte. Er mußte aufpassen.

»Sie sind nicht eure Götter«, sagte er zögernd.

»Sie haben uns erschaffen«, sagte Rowl.

»Und?« Skar machte eine wegwerfende Geste. »Deine Männer haben ihre Kleider und Waffen selbst erschaffen. Sind sie deshalb Götter?«

»Das ist ein Unterschied.«

»Das ist es nicht«, behauptete Skar verärgert. »Es ist eine Frage des Wissens, nicht göttlicher Macht.«

Er beobachtete Rowl genau, und er überlegte sich jedes Wort zweimal, ehe er es aussprach. Ohne daß er selbst es auch nur gemerkt hätte, war seine Art zu reden so langsam und betont geworden wie die, in der sich Rowl und Titch unterhalten hatten. Skar war nicht halb so sicher wie Titch, daß sie Rowl wirklich trauen konnten. Daß die Bastarde sich gegen die Herrscher in Ninga auflehnten, bedeutete keineswegs automatisch, daß sie sich auch gegen ihre Götter auflehnen mußten. Ganz im Gegenteil - Skar war nicht überzeugt davon, daß er sich nicht um den Hals redete mit dem, was er sagte. Trotzdem fuhr er fort: »Ich habe Ennart gegenübergestanden, Rowl. Er war kein Gott.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Rowl. »Bist du schon so vielen Göttern begegnet, daß du sie erkennst, wenn du einen siehst?«

»Nein«, antwortete Skar. »Aber ich erkenne einen Betrüger, wenn ich einen sehe. Und um auf die Frage zurückzukommen, Rowl - es ist völlig gleich, ob ihr euch gegen die Ssirhaa auflehnen wollt oder nicht. Es ist nicht eure Entscheidung. Ennart und die anderen Ssirhaa haben längst entschieden.«

»Unseren Tod?« Rowl bemühte sich, spöttisch zu klingen, aber es mißlang. Und Skar antwortete auch nicht, sondern sah ihn nur weiter schweigend und durchdringend an, bis es plötzlich Rowl war, der unter seinem Blick immer nervöser wurde und schließlich wegsah.

»Ihr verlangt zu viel von mir«, sagte er.

»Zu viel? Was, Rowl? Daß du um dein Leben kämpfst? Und wenn schon nicht um deines, dann um das der Männer, die dir ihre Leben anvertraut haben?«

Rowl wirkte irritiert. »Was soll ich tun?« fragte er. »Meine Männer bewaffnen und Ninga stürmen? Wenn du die Wahrheit sagst, Satai, dann würde ich sie damit in den Tod schicken.« Er schüttelte den Kopf, noch immer verstört und unsicher, aber zugleich auch entschlossen. »Ich brauche Zeit«, sagte er. »Zeit ist genau das, was wir nicht haben, Rowl. Ich bin ziemlich sicher, daß sie wissen, wo Titch und ich sind. Laß dir genug Zeit, und du brauchst nicht mehr nach Ninga zu gehen, um dich davon zu überzeugen, daß wir die Wahrheit sagen!« Er sprach lauter weiter, schrie fast: »Verdammt, Rowl, sie sind bereits auf dem Weg hierher! Titchs Männer fliehen nicht vor der Garde!«

»Caran ist sicher«, beharrte Rowl. Die Worte klangen hohl wie das bedeutungslose Plappern eines Kindes, das sich selbst Mut zu machen versucht. »Keine Macht dieser Welt kann den Wächter überwinden«, fuhr er fort. »Frag Titch - er hat es versucht. Er und viele andere.«

»Die Ssirhaa haben den Wächter erschaffen, du Narr«, sagte Titch leise.

»Und selbst, wenn es nicht so wäre«, fügte Skar hinzu. »Was glaubst du, wie lange es dauert, bis sie das Wort in Erfahrung bringen? Einen Tag? Zwei? Sie sind Götter.«

»Hast du nicht gerade behauptet, genau das wären sie nicht?«

»Für mich. Für Titch. Vielleicht für dich. Für viele deiner Männer werden sie es sein, wenn sie ihnen gegenüberstehen, Rowl. War Cron der einzige Quorrl außerhalb Carans, der das geheime Wort kannte?«

»Nein«, gestand Rowl widerstrebend. »Aber es gibt nicht viele. Nur eine Handvoll, und die -«

»Einer reicht«, unterbrach ihn Skar. »Du kennst die Macht der Ssirhaa nicht.«

»Ich brauche Zeit«, beharrte Rowl. »Ich... kann das nicht entscheiden. Nicht so schnell, und nicht allein. Ich muß... Erkundigungen einziehen. Mit ein paar Leuten sprechen. Und mit meinen Männern.«

»Bist du ihr Führer oder nicht?« fragte Skar.

»Das bin ich«, sagte Rowl. »Ihr Führer, Satai. Nicht ihr Herrscher. Ich befehlige sie nur so lange, wie sie es wollen. Ich kann ihnen nicht befehlen, ihre Götter zu verleugnen.«

»Dann mach ihnen klar, daß alles, was sie von ihren Göttern zu erwarten haben, der Tod ist«, erwiderte Skar. Verzweiflung begann sich in ihm breitzumachen. Er spürte, daß Rowls Selbstsicherheit gründlich ins Wanken geraten war, aber er spürte auch ebenso deutlich, daß der Bastard keinen Schritt mehr nachgeben würde. Nicht jetzt. Und wahrscheinlich hätte er umgekehrt kaum anders reagiert, wäre er an Rowls Stelle gewesen. Der Quorrl brauchte einfach Zeit, um all das zu verarbeiten, was er innerhalb der letzten Stunden gehört hatte.

Aber Zeit war genau das, was sie am allerwenigsten hatten. Er vor allem.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Rowl noch einmal: »Ich brauche Zeit. Zwei Tage, vielleicht drei.«

»So viel Zeit haben wir nicht«, sagte Titch.

»O doch, die habt ihr«, widersprach Rowl, plötzlich wieder hart, in befehlendem, herrischem Ton. »Ihr habt nichts zu befürchten. Bis ich mich entschieden habe, steht ihr unter meinem persönlichen Schutz.«

»Du hast uns dein Wort gegeben -«

»Euch am Leben zu lassen und nach Ninga zu bringen, ja«, fiel ihm Rowl ins Wort. »Ich habe nicht gesagt, wann ich euch dorthin bringe.«

»Skar stirbt«, sagte Titch ernst. »Und das Mädchen auch.«

»So schnell stirbt es sich nicht«, erwiderte Rowl gereizt. Er stand auf. »Kein Wort mehr jetzt! Ich werde euch meine Entscheidung wissen lassen, sobald ich sie gefällt habe. Geht jetzt!« Skar erhob sich niedergeschlagen, während sich Titch nicht von seinem Platz rührte. »Hältst du so dein Wort, Bastard?« fragte er bitter.

Rowl starrte ihn an. Seine Augen blitzten zornig. »Du hast die Wahl, Krieger«, sagte er betont. »Du kannst aus freien Stücken in dein Gemach gehen, oder als Gefangener. Aber gehen wirst du. Jetzt.«

Titch hielt seinem Blick noch eine weitere Sekunde lang stand, ehe er mit einem Ruck von seinem Stuhl aufsprang und sich zum Ausgang wandte. Als Skar ihm folgen wollte, rief ihn Rowl noch einmal zurück: »Satai!«

Skar blieb stehen, und auch Titch verharrte mitten im Schritt und drehte sich mit mißtrauisch gerunzelter Stirn zu Rowl um. Der Bastard starrte ihn an, und es war etwas in seinem Blick, was Titch bewog, nur noch eine Sekunde stehenzubleiben, ehe er abermals herumfuhr und davonstürmte.

»Auf ein Wort, Satai«, sagte Rowl, als sie allein waren.

»Was willst du wissen?« fragte Skar grob. »Ob Titch die Wahrheit sagt?«

»Nein.« Rowl schüttelte heftig den Kopf, setzte sich wieder und ließ schwer die Arme auf die Lehnen seines Sessels fallen. »Ich weiß, daß er mich belügt.« Er lächelte flüchtig, als Skar antworten wollte, und hob abwehrend die Hand. »Gib dir keine Mühe, Satai. Ihr belügt mich. Beide. Zumindest verschweigt ihr mir etwas.«

Fast zu seiner eigenen Überraschung fühlte Skar sich nicken. »Das stimmt«, sagte er. »Aber es ist nichts, was dich anginge. Es hat mit... mit mir zu tun. Nur mit mir. Was Titch über die Sternengeborenen und die Ssirhaa erzählt hat, ist die Wahrheit.«

»Ich weiß«, sagte Rowl.

Skar sah überrascht auf. »Du weißt, was -«

»Ich wußte, daß etwas passiert«, sagte Rowl. »Nicht was. Aber eure Geschichte paßt zu gut zu dem, was hier geschieht, als daß sie völlig erlogen sein könnte. Trotzdem: ich habe dich nicht zurückgerufen, um darüber mit dir zu reden.«

»Sondern?«

Rowl zögerte. Sein Blick blieb weiter auf Skar gerichtet, und trotzdem brachte er irgendwie das Kunststück fertig, ihm auszuweichen. Skar hatte das Gefühl, daß es ihm schwer fiel, weiter zu reden.

»Über dich, Satai«, sagte er schließlich.

Skar schwieg.

»Du bist mehr, als du zugibst, Satai«, fuhr Rowl fort, als die erhoffte Reaktion ausblieb. »Ich sehe dich an, und ich sehe einen alten Mann. Einen Satai, der von sich behauptet, nur noch wenige Tage zu leben zu haben, und der ganz so aussieht, als wäre das die Wahrheit. Einen Krüppel. Aber da ist noch mehr. Etwas an dir macht mir angst, Satai, und das verstehe ich nicht. Warum habe ich Angst vor dir?«

»Vielleicht, weil ich schlechte Nachrichten bringe«, sagte Skar ausweichend. Er begann sich immer unbehaglicher zu fühlen. Er hatte das Gefühl, aus Glas zu sein. Rowl mußte ihn einfach durchschauen, so mühelos, wie er Titch durchschaut hatte. »Schlechte Nachrichten sind nichts Besonderes für einen Mann wie mich«, antwortete Rowl.

»So schlechte Nachrichten?«

»Du bist nicht der erste, der das Ende der Welt prophezeit.« Rowl beugte sich in seinem bizarren Sessel vor, legte die Handflächen flach auf den Tisch und starrte Skar durchdringend an. »Es ist nicht das, was du tust oder sagst, Satai. Es ist das, was du bist.«

Skar schwieg weiter, denn er spürte, daß es nichts gab, was er sagen konnte. Jedes Wort, gleich welches, hätte Rowls Mißtrauen mehr geschürt. Und Rowl schien auch nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet zu haben, denn nach einigen Sekunden ließ er sich im Sessel zurücksinken, legte den Kopf gegen die wuchtige Lehne aus rissigem Metall und schloß die Augen. Er seufzte tief. »Weißt du, was das hier ist?« fragte er plötzlich.

»Was?«

Rowl machte eine weit ausholende Armbewegung, ohne die Augen zu öffnen. »Dies alles hier. Caran.«

»Nein«, antwortete Skar. »Woher sollte ich? Ich war niemals zuvor hier.«

»Aber du weißt, was es nicht ist.«

»Wofür es die meisten halten«, sagte Skar nickend. »Ein Berg. Höhlen.«

»Ja.« Rowl seufzte, öffnete endlich die Augen und stand wieder auf. Als er an Skars Seite trat, überragte er ihn wieder um mehr als eine Haupteslänge. Und trotzdem schien er etwas von seiner Größe eingebüßt zu haben, auf eine schwer in Worte zu fassende Weise müder geworden zu sein. Voller Schrecken begriff Skar, daß es die gleiche, unheimliche Veränderung war, die auch mit Cron vonstatten gegangen war, kurz vor seinem Tod. Längst nicht so heftig, aber spürbar.

Es beginnt auch hier, Bruder. Du bringst den Tod, egal, wo du hingehst.

»Es ist ein Berg, Satai«, murmelte Rowl. »Aber er wurde gemacht. Jemand hat ihn gebaut. Jemand hat dieses ungeheuerliche ... Ding erschaffen, so mühelos, wie wir eine Burg bauen, oder eine Stadt. Ein Ding von der Größe eines Berges, mit Tausenden von Räumen und Meilen über Meilen von Gängen und Fluren. Wir sind viele, Skar. Tausende. Und doch bewohnen wir nur einen kleinen Teil der Höhlen. Weißt du, warum?« Skar schüttelte stumm den Kopf.

»Weil sie uns angst machen«, sagte Rowl. »Sie schützen uns, aber wir bezahlen einen hohen Preis für diesen Schutz. Höher, als sich die anderen dort draußen vorstellen können. Und es gibt Dinge in diesen Höhlen, die ...« Er unterbrach sich, schwieg eine Sekunde und wechselte abrupt das Thema.

»Dieser Turm, in dem ihr auf den Ssirhaa gestoßen seid, Skar - war er wie dieser?«

Skar wollte antworten, aber plötzlich wurde ihm klar, daß er die Antwort nicht wußte. Er hatte darüber nachgedacht, von dem Moment an, in dem ihm klargeworden war, was Caran wirklich war, aber nicht sehr lange und nicht sehr intensiv. Es war, als hätte ihn etwas daran gehindert, länger als einen Augenblick über diese Frage nachzudenken.

Er wußte sogar, warum dies so war. Sich mit diesem absurden Titanengebilde zu beschäftigen, hieße, seinem bösen Flüstern Einlaß in seine Gedanken zu gewähren. Jetzt mußte er es. Sein Blick glitt über die bizarre, zum größten Teil unverständliche Einrichtung, die zu groß für einen Menschen und gerade eine Spur zu klein für quorrlsche Bewohner war, tastete über den Boden, rostig und rot wie alles hier drinnen, aber von Millionen von Füßen so glatt wie ein Spiegel poliert, die Wände mit ihren sonderbar geformten Türen und den Dingen, die darin eingelassen waren: an zwei der vier Wände befanden sich matte Spiegel von rechteckiger Form und mehr als Manneslänge, die meisten blind geworden, einige zerbrochen, so daß sein Blick in dunkle Höhlen dahinter fiel, in denen es unheilvoll glitzerte, und andere, völlig fremdartige Dinge, die an und in den Wänden aus zusammengebackenem Rost befestigt waren. Von vielen waren nur noch Umrisse zu gewähren: rechteckig oder rund, manche auch von Formen, die einfach zu bizarr waren, um sie zu beschreiben, aber eindeutig geschaffen, nicht durch Zufall entstanden. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein. Caran ist... anders.« Schlimmer, fügte er in Gedanken hinzu. Trotz allem hatte er in Ennarts Turm im Drachenland noch Vertrautes entdecken können: Türen, die auch wie Türen aussahen, auch wenn sich die Räume dahinter von Etage zu Etage bewegten und für Riesen gemacht zu sein schienen, Möbel, die nicht aus dem Boden wuchsen und wie gestaltgewordene Fieberphantasien aussahen, und Fenster, durch die man nach draußen sehen konnte. Seine Antwort schien Rowl zu erleichtern. Trotzdem zitterte seine Stimme noch immer, als er weitersprach.

»Ich versuche oft, mir vorzustellen, was für ein Volk es wohl gewesen sein mag, das solche Macht hatte. Aber ich kann es nicht.«

»Niemand kann das«, sagte Skar.

Rowl sah ihn auf eine Art an, die Skar schaudern ließ. Aber er ging nicht auf seine Antwort ein, sondern fuhr mit leiser, beinahe abwesender Stimme fort: »Ich denke darüber nach, seit ich das erste Mal herkam. Ich frage mich, welche Welt es gewesen sein mag, in der Wesen von solcher Macht gelebt haben. Manchmal träume ich davon. Und manchmal träume ich, daß sie wiederkommen. Daß sie jemanden schicken, ihr Eigentum zurückzufordern.« Er legte eine winzige Pause ein. »Bist du dieser Mann, Satai?«

Skar erschrak. War es so leicht, seine Gedanken zu lesen? »Nein«, sagte er. Unsicher und mit einem nur halb geglückten Lächeln fügte er hinzu: »Wie kommst du auf diese Idee?« Statt direkt zu antworten, ging Rowl zu einer der Seitenwände und winkte ihm, nachzukommen. Skar setzte sich zögernd in Bewegung, blieb aber in sicherem Abstand zu dem Quorrl stehen.

»Gib acht, Satai«, sagte Rowl. »Ich will dir etwas zeigen.« Seine Hand berührte eine Vertiefung auf einer der metallenen Truhen, die die Wände flankierten, und plötzlich glomm inmitten des rostroten Chaos unter seinen Fingern ein winziges, rotes Auge auf. Skar fuhr überrascht zusammen. Aber das war es nicht, was Rowl ihm zeigen wollte. Seine Hand wies auf eine Stelle hinter Skars Rücken. Er nickte auffordernd, während sein Blick wie gebannt an Skars Gesicht hing.

Skar drehte sich herum und sah in die angegebene Richtung - und schrie überrascht auf.

Einer der großen, blinden Spiegel war nicht mehr blind.

Es war auch kein Spiegel mehr.

Statt rostrotem Widerschein und flackernden Lichtreflexen zeigte die gläserne Fläche ein naturgetreues Bild der Felsebene vor dem Eingang Carans, und nicht nur das: auf dem Plateau am Ende des Saumpfades waren Titchs Quorrl zu erkennen, eine quirlende grüngraue Masse, die sich bewegte!

Skar keuchte. »Aber das ist -«

»Zwei der kleineren Spiegel haben das schon immer getan«, sagte Rowl hinter ihm. »Sie sind der Grund, aus dem es nie jemandem gelungen ist, uns zu überraschen, Satai. Du kannst alles auf ihnen sehen, was im Umkreis von fünf Meilen geschieht. Und manchmal andere Dinge, die wir nicht verstehen.«

Skar hörte kaum hin. Sein Blick hing wie gebannt an dem sich bewegenden Bild. Er redete sich ein, daß dies nichts als ein weiterer Trick der Sternengeborenen war, ein weiteres Vermächtnis ihrer ungeheuerlichen Macht und ihres unvorstellbaren Könnens, aber das nutzte nichts. Der Anblick erschlug ihn fast. Er glich nichts, was er jemals gesehen hatte; nichts, was er sich jemals vorgestellt hatte. Ein Bild, das sich bewegte, war... war unmöglich.

Unsicher trat er näher, brachte es aber nach ein paar Schritten einfach nicht fertig, weiter zu gehen, und blieb wieder stehen. Sein Blick saugte sich an der leicht nach außen gekrümmten Scheibe und den daumennagelgroßen Quorrl-Gestalten darauf fest. Wenn er aufmerksam genug hinsah, konnte er sogar die Wolken erkennen, die über den Himmel zogen.

»Was ... was ist das?« fragte er stockend.

»Nur eines von vielen Geheimnissen, die Caran birgt«, antwortete Rowl. Er trat neben Skar und blickte abwechselnd ihn und die auf Spielzeuggröße zusammengeschrumpfte Quorrl-Armee auf dem Spiegel an. »Etwas, das so alt ist wie Caran. Ein Vermächtnis der Wesen, von denen du behauptest, sie wären keine Götter, Satai. Was draußen geschieht, siehst du hier, obwohl eine halbe Meile Stahl zwischen uns und ihnen ist. Wir werden auch das Heer aus Ninga rechtzeitig sehen, auf einem der anderen Zauberspiegel.«

»Ich glaube nicht an Zauberei«, sagte Skar. Es war fast nur ein Reflex; ein Satz, den er einfach ein paarmal zu oft gesagt hatte, bei ähnlichen - wenn auch weniger dramatischen - Begebenheiten wie jetzt, als daß er ihn zurückhalten konnte.

Rowl lächelte. »Ich auch nicht«, sagte er. »Aber das Wort ist so gut wie jedes andere.«

»Und du sagst, es gibt... noch mehr davon?« murmelte Skar. Er wollte Rowl ansehen, aber er konnte es nicht. Der Spiegel hielt seinen Blick gefangen. Es war ihm unmöglich, wegzusehen. Rowls Nicken bemerkte er nur aus den Augenwinkeln.

»Drei«, antwortete Rowl. »Zwei von ihnen haben das schon immer getan. Dieser da erst seit wenigen Monaten.« Er seufzte. »Das ist es, was mir angst macht, Satai.«

»Seit... wenigen Monaten?« Skar erschrak; so heftig, als wüßte er, was Rowls Worte bedeuteten. Etwas in ihm wußte es. »Seit zwei Monaten - vielleicht schon länger, aber vor zwei Monaten habe ich es bemerkt. Und das ist nicht alles, Satai. Es gibt... andere Dinge, die plötzlich erwachen. Räume, die ewig im Dunkel lagen, sind wieder hell erleuchtet, und manchmal hört man... Geräusche.« Plötzlich war die Furcht wieder in seiner Stimme. »Manchmal gehe ich hinunter, Satai, in die Katakomben unter dem Berg, und ich habe Dinge dort gesehen, die... fürchterlich waren. Caran erwacht, Satai. Er hat geschlafen, vielleicht seit dem Tag, an dem seine Erbauer weggegangen sind, aber er erwacht wieder. Jemand... hat ihn geweckt.« Du? fügte sein Blick hinzu.

»Dann solltet ihr... nicht mehr hierbleiben«, sagte Skar mühsam. Es fiel ihm schwer, zu sprechen; nicht die Tätigkeit des Redens selbst, sondern das Formulieren der Worte. Nicht nur sein Blick, auch sein Geist war gelähmt von dem, was er sah. Der Anblick des magischen Spiegels füllte ihn so vollkommen aus, daß in seinem Kopf einfach kein Platz für irgendeinen anderen Gedanken war.

»Vielleicht«, sagte Rowl. »Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht wird alles ein wenig besser.«

»Ennarts Turm brach zusammen, als er versuchte, ihn zu erwecken.«

»Ennart war ein Narr, nach allem, was ihr mir erzählt habt«, antwortete Rowl. »Er mag die Macht eines Gottes gehabt haben, aber er war dumm.«

»Ihr müßt weg!« sagte Skar. Plötzlich wußte er, daß ihn sein Gefühl nicht getäuscht hatte - etwas war hier, eine ungeheuerliche Gefahr, die nicht einmal halb so verborgen war, wie er bisher geglaubt hatte, sondern sich ganz offen zeigte. Sie alle - ihn eingeschlossen - waren noch nicht in der Lage, sie zu erkennen, aber er wußte auch, daß es zu spät sein würde, wenn es ihnen gelang. Es war wie Drasks Turm - die Falle war vielleicht einfach zu offensichtlich, um sie zu sehen.

»Das können wir nicht, Satai«, antwortete Rowl.

»Aber ihr könnt nicht hierbleiben!«

»Und wir können auch nirgendwo hingehen.« Rowl seufzte und drehte sich herum. Skar hörte, wie er wieder zur gegenüberliegenden Wand zurückging. Sekunden später erlosch das Bild an der Wand.

Trotzdem dauerte es noch lange, ehe er sich vom Anblick des wieder matt gewordenen Zauberspiegels losreißen und zu Rowl umdrehen konnte.

»Es gibt keinen Ort, an den wir gehen könnten«, sagte Rowl noch einmal. »Ich weiß es, und Titch weiß es ebenso. Und auch du solltest es wissen, wenn du wirklich der Mann bist, für den ich dich halte.«

»Das ist Unsinn!« widersprach Skar. »Ninga -«

»Ninga!« Rowl machte eine wegwerfende Handbewegung. »Oh, ich weiß - wir könnten uns Titchs Heer anschließen und Ninga im Sturm nehmen. Wir könnten es sogar ohne Titchs Hilfe tun. Wir hätten Ninga auch schon vor einem Jahr erobern können, oder vor hundert. Aber was hätte das geändert?«

»Ich ... verstehe nicht...«, sagte Skar hilflos.

»O doch, Satai, das tust du«, sagte Rowl. »Was würde es nutzen? Wir könnten die Herrscher in Ninga besiegen. Wir könnten Cant mit Gewalt erobern. Das hätten wir schon immer gekonnt. Caran ist nicht leer, Satai. Es gibt Waffen hier. Waffen wie die der Ehrwürdigen Frauen, und schlimmere. Niemand könnte uns widerstehen. Aber was haben wir zu gewinnen?«

»Die Freiheit«, sagte Skar.

»Freiheit?« Rowl lachte über das Wort wie über einen schlechten Scherz. »Welche Freiheit, Satai? Die Tyrannenherrschaft der Tempelpriester durch eine andere Tyrannenherrschaft zu ersetzen? Zu tyrannisieren, statt tyrannisiert zu werden? Zu verfolgen, statt verfolgt zu werden? Denk nach, Satai! Bist du mit allen Herrschern einverstanden, draußen, in eurem Teil der Welt?«

»Natürlich nicht«, antwortete Skar.

»Und gibt es ein Land in eurer Welt, das den Satai hätte widerstehen können, hätten sie sich zusammengeschlossen und es angegriffen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln, bevor Skar auch nur reagieren konnte. »Natürlich nicht. Warum also sollten wir es tun? Es gibt dort draußen nichts für uns zu gewinnen, Satai. Wir leben, es gibt niemanden, der über uns bestimmt. Hier sind wir frei. Dort draußen blieben wir ewig Gejagte, auch als Herren.«

»Wenn es Ninga nicht mehr gibt -«

»Es sind nicht die Priester im Goldenen Tempel«, unterbrach ihn Rowl. »Es ist das Volk der Quorrl selbst, das uns nicht will, begreif das doch. Wir wären ewig ausgestoßen; Verfemte, selbst auf dem Thron Cants. Sollen wir das gegen unsere Freiheit eintauschen?«

Freiheit? dachte Skar. Die Freiheit, lebendig in einem berggroßen Sarg aus Stahl eingeschlossen zu sein, der langsam, aber unerbittlich, ihre Seelen vergiftete? Wenn das Freiheit war, war er nicht sicher, daß es sich lohnte, dafür zu kämpfen.

Aber er sprach nichts von alledem aus. Rowl hatte ihn nicht zurückgehalten, um Antworten zu bekommen, das begriff er plötzlich. Er hatte nur jemanden gebraucht, der zuhörte.

»Bitte laß dir nicht zu viel Zeit«, sagte er.

»Natürlich nicht«, antwortete Rowl. »Aber deine Sorgen sind unbegründet. Du wirst nicht sterben, solange du in Caran bist. Niemand hier wird krank oder altern.«

Das hatte Skar gar nicht gemeint. Die Sorge um sein eigenes Leben war sein geringstes Problem. Die Dinge hatten sich längst zu schnell und zu gewaltig entwickelt, als daß die Mächte, die sie lenkten, es zulassen würden, daß er einfach starb und damit vielleicht den Lauf der Geschichte änderte. Trotzdem sah er Rowl verwirrt und zweifelnd an. »Was meinst du damit?«

»Das, was ich sage«, antwortete Rowl, plötzlich wieder lächelnd. »Es ist so. Niemand weiß, warum, aber es ist die Wahrheit. Und nun geh - bitte. Geh zu Titch und sag ihm, daß ihr meine Entscheidung binnen zweier Tage bekommt.«

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