Eine Stunde später und eine Meile näher an der Hölle sah Skar zum ersten Mal wieder Tageslicht. Die Treppe hatte ihn weiter in die Tiefe geführt, noch einmal hundert, vielleicht auch zwei- oder dreihundert Meter unter das Allerheiligste des Tempels, in die verbotenen Katakomben der Heiligen Insel, von deren Existenz vielleicht nicht einmal die Priester gewußt hatten. Niemand war je hier heruntergekommen; nicht seit Hunderttausenden von Jahren. Es gab keine Hindernisse, keine Fallen oder Sperren, nicht einmal eine einfache Tür, aber die Stufen, die Skar hinabgeschritten war, waren seit Urzeiten von keinen lebenden Wesen Fuß mehr berührt worden. Der Staub, der auch hier auf Wänden und Boden lag, war zu einer fingerdicken, granitharten Schicht geworden, bar jeder Spur, und darüber hinaus wußte Skar einfach, daß es so war. Und es bedurfte dazu nicht einmal seiner geliehenen Kräfte: er spürte, daß er das erste lebende Wesen war, das es seit undenklichen Zeiten wagte, die Stille hier unten zu durchbrechen. Selbst die Einsamkeit bekam Substanz, wenn sie nur lange genug andauerte.
Dabei war es hier unten keineswegs still oder gar leblos. In gewissem Sinne ähnelten die zyklopischen Höhlen und Gänge den Katakomben Carans, nur daß sie größer waren, besser erhalten und perfekter gestaltet, und unsagbar älter. Er war zahlreichen Dingen begegnet, die nicht einmal er verstand - den großen, metallenen Spinnen, wie sie auch durch die steinernen Eingeweide der Bergfestung gekrochen waren, aber auch anderen, die sich geschäftig hin und her bewegten, ohne von seinem Eindringen auch nur Notiz zu nehmen, und Dinge taten, die schon vor Jahrhunderttausenden sinnlos geworden sein mochten.
Jetzt war er seinem Ziel ganz nahe.
Es hatte irgend etwas mit diesem Licht dort vorne zu tun; Tageslicht, das es gar nicht geben durfte, eine viertel Meile unter der Erde. Es war ein Kreis aus weißem, sonderbar weichem Licht, noch winzig klein durch die große Entfernung, in der er sich vor ihm befand, und viel zu perfekt, um natürlichen Ursprungs zu sein. Aber war hier unten überhaupt irgend etwas natürlichen Ursprungs? Er versuchte, in Gedanken die Strecke zurückzuverfolgen, die er bis hierher gegangen war, und die Größe dieser ungeheuerlichen unterirdischen Festung zu erfassen, aber seine Phantasie kapitulierte vor dieser Aufgabe. Caran war groß gewesen, aber das hier war... unvorstellbar. Eine Stadt unter der Erde, ein Durch- und In- und Nebeneinander von Sälen und Gängen und bodenlosen Schächten, das Platz für Millionen von Menschen bot.
Während er weiterging und sich dem Ring aus weißer Helligkeit näherte, fielen ihm Ennarts Worte ein: Dieser Kontinent wurde gebaut, Skar. Und vielleicht hatte er bis heute nicht wirklich begriffen, wie der angebliche Ssirhaa diese Worte gemeint hatte.
Er brauchte lange, um sich dem Licht so weit zu nähern, daß er erkannte, was es war: ein Ring aus schwarzem Stahl, der in den Fels getrieben worden war, doppelt so hoch wie ein Mann und zehn oder mehr Meter lang. Auf seiner anderen Seite schimmerte Tageslicht - aber er konnte den Himmel trotzdem nicht erkennen. Dicht hinter dem jenseitigen Ende der stählernen Röhre spannte sich etwas, das er im ersten Moment für eine Wand aus Glas hielt, ehe er sah, daß sie sich bewegte.
Dann wurde ihm klar, wo er sich befand.
Die schimmernde Wand war Wasser, Wasser, das mit ungeheurer Wucht eine viertel Meile über ihm über den Rand des Sturzes schoß und noch einmal die gleiche Distanz zurücklegte, ehe es zu einer gewaltigen Wolke aus Gischt und kochendem Schaum und dann, noch einmal Meilen um Meilen weiter, wieder zu dem wurde, was es war, ehe es seinen endlosen Fall begann: dem Ningara. Er befand sich auf der anderen Seite des Sturzes; hinter dem Wasserfall.
Ein passender Ort, um es zu Ende zu bringen, dachte er. Und - wenn es kein Zufall, sondern von den Schöpfern dieser chtonischen Welt so gewollt war, woran Skar kaum noch zweifelte - ein Akt abgrundtiefen schwarzen Humors, wie ihn wohl nur die Götter selbst zustandebringen konnten: es war sein Zuhause; der Ort, an dem die Kreatur geboren war und an den sie sich wieder zurückgezogen hatte, um ihren Jahrmillionen dauernden Schlaf zu schlafen. Das Wesen, das zu dem einzigen Zweck erschaffen worden war, das Volk der Quorrl auszulöschen, lebte unter dem Herzen dieses Volkes, in ebenjenen Felsen, auf denen das größte Heiligtum der Schuppenkrieger errichtet war.
Skar blieb eine Zeitlang reglos stehen und blickte in das rauschende Weiß jenseits der stählernen Röhre hinaus, und eine große Ruhe überkam ihn. Er hatte noch immer Angst, denn obwohl es die Ewigkeit war, die auf ihn wartete, die Unsterblichkeit und Macht der Götter, von der er trotz allem bisher nur einen winzigen Hauch in sich trug, war ein kleiner Teil von ihm noch immer menschlich; und dieser winzige verbliebene Rest war fast wahnsinnig vor Furcht.
Aber er hatte keine Wahl.
Er war das einzige, was noch zwischen dem Jetzt und dem endgültigen Untergang dieser Welt stand.
Skar drehte sich herum, um weiterzugehen, und blieb dann noch einmal stehen. Das weiche Licht, das durch den Sturz hereindrang, beleuchtete auch die gegenüberliegende Seite des Tunnels, der ihn hierhergeführt hatte, und Skar sah, daß sich die metallene Röhre dort fortsetzte. Der Fels, in den sie eingelassen war, war verbrannt; zum Teil geschmolzen und zu schwarzen Tränen auf dem Boden erstarrt. Und es konnte noch nicht sehr lange her sein, daß hier Gewalten getobt hatten, die ausreichten, Granit zu schmelzen.
Zögernd drehte er sich vollends herum, ging auf den stählernen Tunnel zu und spähte hinein. Er schien nicht besonders lang zu sein - das Tageslicht verlor sich nach ein paar Schritten auf dem makellosen Schwarz seiner Wand, aber auch an seinem jenseitigen Ende war Helligkeit; das gleiche, düsterrote Licht, das überall hier unten herrschte, nicht hell genug, Einzelheiten zu erkennen, aber ausreichend, um ihn sehen zu lassen, daß der Tunnel in einem Hohlraum gewaltigen Ausmaßes zu enden schien.
Skar blickte wieder den Gang hinab. Die Kreatur wartete auf ihn. Er spürte ihre Nähe, viel, viel deutlicher, als er sie oben gefühlt hatte, selbst deutlicher als in dem Moment, als er die Brücke und damit ihren Körper berührte, und er spürte ihre Ungeduld. Sie hatte eine Million Jahre auf ihn gewartet, und jede weitere Sekunde mußte unerträglich für sie sein.
Und trotzdem setzte er nach einer weiteren Sekunde den Fuß auf den schwarzen Stahl, nahm noch einmal all seine Kraft zusammen und trat in den schwarzen Tunnel. Hinter und in ihm schrie die Kreatur voller Enttäuschung und Ungeduld auf, aber irgendwoher nahm er die Kraft, ihrem Zorn noch einmal zu widerstehen und weiter zu gehen.
Die Röhre war nicht sehr lang. Skar ging ein Dutzend Schritte, in denen aus dem rötlichen Nebel vor ihm Schatten und die Umrisse gewaltiger, fremdartiger Dinge wurden, dann noch eines und noch eines - und blieb erschüttert stehen.
Unter ihm lag ein Schacht von wahrhaft ungeheuerlicher Größe. Seine gegenüberliegende Wand mußte eine Meile entfernt sein, vielleicht weiter, und in der Tiefe verlor sich sein Blick in grundloser Schwärze, die nur seine Phantasie mit Schatten und der dämonischen Bewegung der Hölle erfüllte, in die er hinabführen mochte.
Und da waren sie: Eingesponnen in ein Netz titanischer metallener Verstrebungen und Träger, gefangen wie die Beute einer ungeheuerlichen Spinne und so tödlich wie der Zorn der Götter warteten sie auf ihn. Schimmernde schwarze Geschosse, schlanken, geflügelten Stahlpfeilen gleich, gefüllt mit der Urkraft der Schöpfung und zu keinem anderen Zweck erschaffen als der Vernichtung, und in ihrer Schlichtheit und Majestät trotzdem von einer fast morbiden Schönheit.
Es mußten Hunderte sein, wenn nicht Tausende, dachte Skar. Die Waffen der Alten. Das Sternenfeuer, das Enwor von einer blühenden Welt in eine Hölle verwandelt hatte, vor fünftausend Generationen von ihren Schöpfern in diesen bodenlosen Schacht im Schoß der Erde versenkt, aber noch immer da, noch immer tödlich, und noch immer bereit, zu vollenden, was ihre Erbauer begonnen hatten.
Eines der stählernen Spinnennetze war leer. Elay.
Und die anderen?
Er dachte an das so harmlos winzige Kästchen, das er Kiina gegeben hatte, und Bilder und die Namen von Städten zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Ikne. Bel-Ishtar. Denwar. Kohon. Malab. Orkala.
Enwor.
Dutzende von Städten in Dutzenden von Ländern, deren Bewohner vielleicht nicht einmal gewußt hatten, daß dieser Krieg tobte, geschweige denn, worum er gefochten wurde, und mehr: die unbekannten Länder auf den anderen, unbekannten Kontinenten jenseits der Meere, die eisigen Inseln des Nordens, die fruchtbaren Ebenen des südlichen Kontinents und die Länder und Meere auf der anderen Seite der Welt, und selbst dann wäre dieses Waffenarsenal der Hölle nicht leer, sondern noch immer bereit, Enwor ein drittes und viertes und fünftes Mal zu verbrennen, immer und immer und immer wieder.
Wahnsinn, dachte er. Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn. Vielleicht waren die Sternengeborenen Götter gewesen, aber wenn, dann Götter aus einem Universum des Irrsinns, Götter, die nicht von den Sternen, sondern aus der Hölle herabgestiegen waren, und die gar keine andere Wahl gehabt hatten, als sich am Schluß selbst zu vernichten.
Welches Erbe habt ihr uns hinterlassen?
Plötzlich ertrug er den Anblick nicht mehr. Er fuhr herum, rannte den stählernen Tunnel zurück und floh aus seiner Nähe, rannte, so schnell er konnte, bis seine Beine sich einfach weigerten, ihn weiter zu tragen, und seine Lungen bei jeden Atemzug unerträglich schmerzten.
Keuchend sank er gegen die Wand, schloß die Augen und zwang sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Das Zittern seiner Glieder beruhigte sich allmählich, aber die Bilder hinter seiner Stirn verblaßten nicht, sondern wurden immer schlimmer: er sah die geflügelten Todesboten, aber er sah auch Gesichter, das goldene Antlitz Ennarts, zu einem höhnischen, irren Lachen verzerrt, den Haß in Ians Augen, und den bösen Triumph darin, selbst im Moment seines Todes, und den funkensprühenden Feuerkörper des Dämonen, den er in Ennarts Turm im Tal der Drachen gesehen hatte, eine Warnung, die er zu spät, viel zu spät begriffen hatte. Und das Gesicht eines alten Mannes. Er hatte etwas zu ihm gesagt, etwas, das wichtig war, unglaublich wichtig, aber er hatte es ... vergessen. Er hatte es einfach vergessen. Bis jetzt.
Als er die Augen öffnete, stand sie vor ihm.
Skar erschrak nicht. Er hatte gewußt, daß sie ihre Ungeduld nicht mehr länger zügeln und ihn holen würde, wenn er zu lange damit zögerte, zu ihr zu kommen, und sie hatte Erbarmen mit dem winzigen verbliebenen menschlichen Teil in ihm und hatte eine Gestalt angenommen, die ihn nicht erschreckte - schlank, kleiner als er selbst und von fast menschlichen Proportionen, wenn auch unfertig, wie eine Puppe aus schwarzem Lehm, deren Schöpfer sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihr ein Gesicht oder Finger zu geben, erinnerte sie mehr an den Daij-Djan als wirklich an einen Menschen. Aus ihrem Rücken ragte ein fingerdicker Strang schwarzen, pulsierenden Fleisches, wie der Faden einer Marionette.
Das Geschöpf hatte keinen Mund, um mit ihm zu sprechen, und es machte auch keine Bewegung, sondern stand einfach nur da und schien ihn anzublicken, aber Skar wußte auch so, warum es gekommen war. Er dachte an Kiina, und eine tiefe Trauer überkam ihn, als er sich von der Wand abstieß und dem Boten der Sternenkreatur folgte.
Der Weg war nicht mehr sehr weit.
Der Gang endete nach knapp hundert Schritten vor einer runden Tür aus Stahl, die Tonnen wiegen mußte, sich aber lautlos und wie von Geisterhand bewegt öffnete, als Skar und sein dämonischer Führer sich ihr näherten. Und noch ehe er sie durchschritt, wußte er, daß er sich nun im Herzen dieser unterirdischen Welt befand, dem Ort, an dem schon einmal über das Schicksal der Welt entschieden worden war.
Der Raum war klein; verglichen mit dem, was er auf dem Weg hierher gesehen hatte. Blinkende Lichter und unverständliche Geräte und Apparaturen füllten die Wände, und genau gegenüber der Tür befand sich ein Tisch mit einer geneigten Platte, in die Schriftzeichen einer längst untergegangenen Sprache eingraviert waren.
Die Sternenkreatur erwartete ihn, und als Skar sie sah, war er im ersten Moment beinahe enttäuscht, denn auch sie ähnelte einem Menschen, wie das Geschöpf, das geschickt worden war, um ihn zu holen. Aber dann wurde ihm klar, wie unbedeutend ein Körper war. Sie konnte jedes beliebige Aussehen annehmen, sie war der Dronte gewesen, das gigantische schwarze Gespinst unter dem Wald von Cearn, und die Brücke, die Titchs Heer auf die Inseln gebracht hatte, und auch diese Gestalt hatte sie nur gewählt, um mit ihm zu reden, ihm in einem Aussehen gegenüberzutreten, das dem seinen entsprach. Sie hätte nicht einmal hier unten auf ihn warten müssen, dachte er. Sie hatte kein Herz, kein irgendwie geartetes Zentrum oder etwas, das einem menschlichen Gehirn entsprach. Sie war einfach eine ungeheuerliche Masse lebender Materie, ein Netz aus finsterem Protoplasma, das vielleicht nicht nur Cant, sondern diese ganze Welt durchdrang, und ihr kleinster Teil war so mächtig und unverwundbar wie ihre Gesamtheit. Sie alle - selbst Ennart - hatten geglaubt, sie wäre vernichtet, zerstört bis auf einen winzigen Rest, aus dem sie zu neuer Größe heranwachsen mußte, aber das stimmte nicht. Sie hatte immer existiert. Es hatte sie immer gegeben, wie die Quorrl, wie die Menschen, wie diese Welt. Vielleicht war sie das älteste lebende Ding auf diesem Planeten, und vielleicht war sie älter als diese Welt, älter als die Sonne, denn das, woraus sie entstanden war, war von den Sternen gekommen; zusammen mit ihren Schöpfern.
Die Sternenkreatur hob die Hand. Ein Schatten huschte über ihr nur angedeutetes Gesicht, und wenn sie überhaupt in der Lage war, so etwas wie Freude zu empfinden, dann war es genau das, was sie in diesem Moment spürte. Skar versuchte nachzuempfinden, was in einem Geschöpf vorgehen mußte, das unendlich lange auf seine Befreiung gewartet hatte, aber er konnte es nicht.
HERR Wieder war es kein Wort, keine Telepathie, sondern eine Stimme, die aus ihm selbst kam, denn er war viel mehr Teil der Kreatur, als er bisher geahnt hatte. Es war nur Skars Bewußtsein, das unter dieser vollkommen fremden, allumfassenden Art der Kommunikation zerbrochen wäre, hätte es nicht versucht, es in Worte und für ihn begreifbare Empfindungen zu verwandeln. »Ich bin gekommen«, sagte er.
Die schwarze Hand aus Fleisch, das kein Fleisch war, streckte sich weiter aus. KOMM. ICH GEHÖRE DIR.
Skar machte einen Schritt - und blieb wieder stehen.
Er konnte es nicht.
Er war hier heruntergekommen, um zu sterben, seine menschliche Existenz aufzugeben und Teil dieses ungeheuerlichen Wesens zu werden, zu ihm und gleichzeitig zu seinem Herrscher zu werden, aber plötzlich konnte er es nicht mehr. Er begann zu zittern. WORAUF WARTEST DU? WIR GEHÖREN ZUSAMMEN, DU UND ICH. WIR SIND EINS. DU BIST DER WILLE, ICH DER KÖRPER.
Er konnte es nicht. Er wollte es, denn er wußte, daß etwas Unvorstellbares geschehen würde, wenn er sich weigerte, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Enwor würde untergehen, nicht im Feuer der Sterne, sondern im Würgegriff der Bestie, die so oder so erwachen würde, unter seinem Willen und Lenkung, oder als reißende Bestie, die zu nichts anderem fähig war, als zu töten - aber er konnte es nicht.
Es war Kiina, die es verhinderte.
Er versuchte, an Enwor zu denken und daran, daß sein Leben ein winziges Opfer war, gegen das der ungezählten Millionen, das er damit rettete, aber er sah Kiinas Gesicht vor sich. Er versuchte, an Titch zu denken, und das Wort, das er ihm gegeben hatte, aber es war Kiinas Lächeln, das auf diesen Gedanken antwortete. Plötzlich begriff er, daß er es niemals für Enwor getan hatte. Nicht für Del oder Titch oder Gowenna oder irgendeinen anderen Menschen, der ihm etwas bedeutete oder je bedeutet hatte, nicht für diese Welt, von der er außer Schmerzen und Furcht wenig erhalten hatte, sondern nur für Kiina.
WIR WERDEN DIE WELT BEHERRSCHEN, SKAR. UND SPÄTER DAS UNIVERSUM. KOMM ZU MIR, UND ICH MACHE DICH ZU EINEM GOTT.
Aber das wollte er nicht. Oh, er wollte es - alles in ihm schrie danach, den letzten Schritt zu tun und zum Herrn der Ewigkeit zu werden, er wollte die Unsterblichkeit und die Macht über Welten, vielleicht Galaxien.
Aber er konnte es nicht. Der Gedanke an Kiina ließ es nicht zu. Er hatte die Verlockung der Macht gespürt. Er würde ihr widerstehen, vielleicht ein Jahrhundert, vielleicht ein Jahrtausend. Er wußte, daß er das Wort, das er Titch gegeben hatte, halten konnte - er konnte seinen Körper und seine menschliche Existenz der Sternenkreatur opfern und damit ihr Herr werden; sie bändigen, vielleicht, solange es Leben auf dieser Welt gab, sicher aber, solange Titchs Volk existierte. Aber irgendwann, vielleicht erst in einer weiteren Million Jahre, würde er der Verlockung erliegen.
»Nein«, sagte er.
In seinem Innern schrie der Daij-Djan in rasendem Zorn auf, und auch die Kreatur bewegte sich unruhig. Aber weder sie noch sein Dunkler Bruder vermochten ihm noch etwas anzutun. Es war nicht die Zukunft seiner Welt, die ihm die Kraft gab, diesem ungeheuerlichen Geschöpf zu widerstehen, nicht Enwor und die Furcht um kommende Generationen, sondern eine Macht, die stärker war, die einzige Kraft der Schöpfung, der selbst das Feuer der Sterne nichts anzuhaben vermochten: die Liebe.
»Nein«, sagte er zum dritten Mal, und jetzt mit ruhiger, sehr entschlossener Stimme. »Ich werde es nicht tun. Aber ich gebe dich frei.«
Die Sternenkreatur erstarrte. Vielleicht spürte sie in diesem Moment zum ersten Mal in ihrem endlos langen Leben so etwas wie Verwirrung. DU GIBST... MICH FREI?
Geh zu ihnen, hatte Drask gesagt. Geh zu ihnen und bitte sie um Frieden, Skar. Es waren Drasks Worte, die Worte eines alten, halb verrückten Mannes, der sein Feind gewesen war. Kiinas Hand streckte sich aus und öffnete die letzte Tür in seiner Erinnerung, und jetzt, endlich, erfuhr Skar das allerletzte, endgültige Geheimnis des Schläfers, den wirklichen Grund, aus dem er erschaffen worden war.
»Ich habe die Macht dazu«, sagte er. »Ich kann es tun, und ich muß es tun. Du bist frei.«
DU SCHENKST MIR DEINE WELT, SATAI?
Skar lächelte, als ihm klar wurde, daß das fast dieselben Worte waren, die er selbst Drask geantwortet hatte.
DU WEISST, DASS ICH SIE ZERSTÖREN WERDE. ICH MUSS ES TUN.
»Das mußt du nicht«, antwortete Skar leise. »Sowenig wie ich dir unsere Welt schenke, denn du brauchst sie nicht.« Er atmete tief ein, um Kraft für die nächsten Worte zu haben; und gleichzeitig wußte er, daß sie im Grunde überflüssig waren, denn die Kreatur war in ihm, und er war in der Kreatur, war es immer gewesen. Trotzdem sprach er laut und mit fester Stimme weiter: »Die Zeit des Tötens ist vorbei, Bruder«, sagte er. »Wir haben den Krieg beendet. Jetzt tu du es auch.«
ICH BIN DER KRIEG.
»Das warst du«, antwortete Skar. »Du wurdest erschaffen, um zu töten.«
AUS KEINEM ANDEREN GRUND, UND ZU KEINEM ANDEREN ZWECK.
»Wie die Quorrl. Wie wir. Aber es ist Zeit vergangen, unendlich viel Zeit. Selbst für dich. Enwor ist groß genug für mehr als ein Volk, Bruder. Geh. Nimm dir die eisigen Inseln des Nordens. Nimm die Tiefen des Meeres und die brennenden Wüsten, nimm dir die Berge und die Höhlen unter der Erde. Nimm dir jeden Ort, an dem Menschen nicht existieren können, und lebe einfach. Ich gebe dich frei.«
ZÖGERN. VERWIRRUNG UND EIN GEFÜHL, DAS NEU UND UNENDLICH SÜSS WAR: HOFFNUNG Dann: UND DU? DU WIRST STERBEN, MENSCH! ICH KÖNNTE DIR DIE EWIGKEIT SCHENKEN.
»Ein Menschenleben ist lange genug«, antwortete Skar.
DU GIBST MICH ... WIRKLICH FREI?
»Deswegen bin ich hier«, antwortete Skar. »Ich war niemals dein Wächter, Bruder. So, wie du niemals mein Feind warst.« ICH WEISS. UND ICH WEISS, DASS DU DIE MACHT HAST, ZU TUN, WAS DU SAGST. ABER WER BIST DU? »Ich hin dein Schöpfer«, sagte Skar. »Und ich befehle dir: geh. Geh und laß den Menschen und Quorrl ihre Welt, so wie sie dir deine lassen werden.«
Und die Sternenkreatur ging.
Es geschah ganz undramatisch, von einer Sekunde auf die andere und fast lautlos: der schlanke Beinahe-Körper bewegte sich, machte einen raschen Schritt auf ihn zu und berührte seinen Arm, nur für den Bruchteil einer Sekunde und beinahe sanft, dann fiel er in sich zusammen, verlor seine Form und Größe und wurde zu einem Gespinst dünner, peitschender Fäden, die sich rasch und lautlos entfernten. Es gab keine Fragen mehr, kein Wenn und Aber und keine Antworten, denn der größte Teil ihres Gespräches hatte auf einer Ebene seines Bewußtseins stattgefunden, auf der es keine Lügen und Unklarheiten gab. Und mit ihr löste sich etwas aus Skar. Der körperlose Schatten, die Macht und Kälte eines Gottes, die ihm niemals geschenkt, sondern immer nur geliehen worden waren. Er hatte seinen Auftrag erfüllt. Er brauchte sie nicht mehr. Nie mehr.
Eine tiefe, unendlich tiefe Müdigkeit überkam Skar. Er wollte nichts als schlafen, sich auf dem harten Boden aus schwarzem Stahl ausstrecken und die Augen schließen, und sei es, um sie nicht wieder zu öffnen. Aber er konnte es nicht. Noch nicht. Es gab noch etwas, was getan werden mußte, um es wirklich zu Ende zu bringen. Nicht für Enwor, nicht für Titch und seine Quorrl, sondern nur für sich.
Er spürte seine Nähe, noch ehe er die Schritte hörte und gleich darauf das Rascheln von Seide und das gedämpfte Klirren von Metall, aber er widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen. »Bravo«, sagte eine leise, entsetzlich bekannte Stimme hinter ihm. »Das war eine eindrucksvolle Rede. Eine der besten, die ich je gehört habe. Aber auch die dümmste.« Das helle Schleifen, mit dem ein Schwert aus der Scheide gezogen wurde. Schritte. Aber Skar drehte sich immer noch nicht herum. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Wie lange weißt du es schon, Skar? Seit wann spielst du schon mit mir?«
Langsam, wie gegen einen fast unüberwindlichen Widerstand ankämpfend, drehte Skar sich herum und blickte in sein Gesicht. Tränen liefen über seine Wangen, aber er schämte sich ihrer nicht. »Und wie lange gehörst du schon zu ihnen, Del?«
»Vom ersten Tag an, alter Mann«, antwortete Del.
Skar schloß die Augen. Die Worte taten weh, viel schlimmer, als Del sich vorstellen mochte. Er hätte es ertragen, wäre es Vela gewesen, deren magische Kraft Del verändert hatte. Er hätte es ertragen - er hatte darum gefleht, daß es so war, wären es die Sumpfleute gewesen, die Del in Cosh gesundgepflegt hatten, oder irgend etwas in der Zeit danach, in den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten.
Der Gedanke, daß der Mann, den er wie einen Sohn aufgenommen hatte und der zuerst zu seinem Schüler, dann zu seinem Freund geworden war, ihn sein Leben lang belogen hatte, brachte ihn fast um den Verstand.
»Warum, Del?« flüsterte er.
Der schwarzhaarige Riese schürzte die Lippen. »Warum? Soll ich all die Argumente wiederholen, die du kennst? Ennart hat die Wahrheit gesagt, Skar. Wir... haben andere Vorstellungen von der Zukunft dieser Welt als ihr.«
»Ihr?«
»Es hat immer Menschen wie Vela gegeben, du Narr. Oder mich. Enwor wird wieder werden, was es war.«
Skar dachte an den Höllenschacht und an den Tod, der darin lauerte. Den Tod für mehr als eine Welt. Er schwieg.
»Du bist ein Narr, Skar«, sagte Del. »Du warst es immer, aber was du jetzt getan hast, das überrascht selbst mich. Du hast die Unsterblichkeit verschenkt.«
»Und was willst du jetzt tun?« fragte Skar leise. »Mich töten?« Del zögerte einen winzigen Moment; dann zuckte er mit den Achseln. »Ich habe keine Wahl, Skar.«
»Es wird dir nichts mehr nutzen«, antwortete Skar. »Die Quorrl wissen, wer die angeblichen Ssirhaa waren. Sie werden die Sümpfe von Cosh niederbrennen und ihre Bewohner erschlagen. Ich könnte sie nicht einmal daran hindern, wenn ich es wollte. Ihr habt verloren.«
»Nein«, antwortete Del. »Diesmal bist du es, der sich irrt. Das hier ist nicht alles, was von der Welt der Alten geblieben ist, Skar. Und ich bin nicht der einzige, der Enwor wieder zu dem machen will, was es einmal war.« Er hob sein Schwert. »Ich gebe zu, daß du unsere Pläne gestört hast. Vielleicht wird es jetzt noch einmal tausend Jahre dauern, ehe diese Welt uns gehört, aber eines Tages wird es soweit sein. Wir haben trotzdem gewonnen, weißt du?« Das Schwert hob sich ein wenig höher, aber er griff noch nicht an. »Und soll ich dir verraten, warum?« fragte er. »Deinetwegen. Du hast uns den Sieg geschenkt, du alter Narr. Die Sternenkreatur und du, ihr wart das einzige, was uns wirklich im Weg stand. Und jetzt - wehr dich, alter Mann!«
Der Schlag kam so schnell, wie Skar erwartet hatte; sogar noch eine Winzigkeit schneller. Auch Del war älter geworden in den letzten zwanzig Jahren, aber er war noch immer ein Gigant, und er machte an Körperkraft und Erfahrung zehnmal wett, was er an Gewandtheit verloren hatte.
Und trotzdem war Skar schneller.
Als Dels Klinge niedersauste, tauchte er blitzschnell zur Seite weg, trat nach seinem Bein und riß sein eigenes Schwert aus dem Gürtel, führte die Klinge in einem blitzschnellen, aufwärts geführten Hieb unter Dels Armen hindurch und fügte ihm eine tiefe, blutende Schnittwunde in der Seite zu.
Del brüllte vor Schmerz und Wut, taumelte zurück - und griff sofort wieder an.
Diesmal blieb Skar keine Zeit, auszuweichen und zurückzuschlagen; Dels Hiebe prasselten mit solcher Kraft und Schnelligkeit auf ihn herab, daß er sie kaum abzublocken vermochte, und jeder einzelne Schlag vibrierte als dumpfer Schmerz durch seine Schultern und raubte ihm ein ganz kleines bißchen seine Kraft. Er versuchte zur Seite zu tänzeln, trat nach Del und verlor beinahe selbst das Gleichgewicht, als der Riese dem Tritt nicht auswich, sondern ihn mit zusammengebissenen Zähnen hinnahm und gleichzeitig mit der freien Hand nach seiner Brust schlug. Dann durchbrach Dels Klinge seine Deckung, traf seinen linken Arm und spaltete das Fleisch bis auf die Knochen. Skar taumelte mit einem Schmerzensschrei zurück, prallte gegen die Wand und warf sich instinktiv zur Seite. Dels Schwertspitze bohrte sich knirschend neben ihm in den Stahl, zuckte wie eine angreifende Schlange zurück und fügte Skar noch in der Rückwärtsbewegung eine weitere, tiefe Wunde zu.
Im ersten Moment machte ihn der Schmerz fast wahnsinnig, aber dann gelang es ihm, ihn zu unterdrücken, ihn zu isolieren und auf einen winzigen, brennenden Punkt zu bannen, der außerhalb seines Körpers lag. Als Dels Klinge nach seinem Hals züngelte, wich er ihr mit einer fast spielerischen Bewegung aus, packte gleichzeitig sein Handgelenk und verdrehte es. Etwas knackte. Del brüllte vor Schmerz, torkelte zurück und wechselte sein Schwert von der rechten in die linke Hand. Auf seinem Gesicht mischten sich Zorn und Schmerz mit Überraschung. Für einen Moment stockte der Kampf. Sie standen einfach da, Skar taumelnd vor Erschöpfung und aus zwei gefährlichen Wunden blutend, Del mit gebrochener Hand und ebenfalls blutbesudelt, wenn auch das wenigste davon sein eigenes war.
Dann verzogen sich seine Lippen zu einem halb höhnischen, halb aber auch anerkennenden Lächeln. »Du bist immer noch gut, alter Mann«, sagte er. »Aber nicht gut genug. Das warst du nie, weißt du?«
»Bisher hat es immer gereicht«, keuchte Skar. Seine Lungen brannten, und die Schwäche war wieder da, schlimmer als zuvor. Er würde diesen Kampf nicht mehr lange durchstehen. Aber vielleicht wollte er das auch gar nicht. »Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, daß du mich jemals besiegt hättest«, fügte er hinzu.
»Das ist lange her«, antwortete Del. »Ich habe dazugelernt, weißt du? Und ich hatte einen guten Lehrer.«
Er griff wieder an. Irgendwie gelang es Skar, seinen Hieben abermals zu entgehen und aus der Ecke zu entkommen, in die Del ihn getrieben hatte, aber er trug eine weitere, tiefe Stichwunde davon, aus der das Leben unbarmherzig aus ihm herausfloß.
Del lachte. Im gleichen Maße, in dem Skar schwächer wurde, schien er an Kraft zu gewinnen. Auch er war getroffen worden, aber der Schmerz schien nur seine Wut zu schüren, ihn nicht zu schwächen.
»Du hast verloren, Skar«, sagte er. »Die Unsterblichkeit hat nicht ganz so lang gedauert, wie du geglaubt hast. Du verlierst, und wir werden siegen. Nach dir wird es keinen Wächter mehr geben.«
Er hob sein Schwert, um zum letzten, entscheidenden Angriff anzusetzen, und Skar ließ sein Schwert und sich selbst fallen, riß noch im Sturz seinen letzten Shuriken aus dem Gürtel und schleuderte ihn nach Dels Gesicht.
Der Satai schrie vor Schrecken, und obwohl es unmöglich schien und der kleine Wurfstern nur den Bruchteil einer Sekunde brauchte, um sein Ziel zu erreichen, warf er sich im allerletzten Moment noch herum und riß den Arm in die Höhe.
Er war schnell, unglaublich schnell. Aber er war nicht schnell genug. Der Shuriken traf sein linkes Auge und zerriß es, grub eine blutige Spur in seine Schläfe und den Schädel und prallte klirrend gegen die Wand hinter ihm. Del taumelte, kreischte in purer Agonie und schlug die Hand vor das Gesicht.
Skar warf sich mit einem verzweifelten Satz herum, packte sein Schwert und kam mit einer Rolle wieder auf die Füße. Noch einmal, ein allerletztes Mal, kämpfte er mit den übermenschlichen Kräften eines Satai, bewegte er sich so schnell, daß das Auge ihm kaum zu folgen vermochte, wurde zu einem huschenden, tödlichen Schatten. Del war gegen die Wand getaumelt. Er wimmerte. Zwischen seinen Fingern quoll dunkelrotes, zähflüssiges Blut hervor.
Skar erstarrte. Sein Schwert verharrte Zentimeter vor Dels Kehle, zitterte, bewegte sich weiter, berührte seine Haut und ritzte sie - und sank kraftlos herab.
Er konnte es nicht. Er wollte es nicht. Er hatte allen Grund, Del zu hassen, aber er konnte es nicht. Er konnte nicht mehr töten.
Del ließ stöhnend die Hand sinken. Sein Gesicht war eine rote Maske aus Qual und Blut, in der sein unverletztes Auge wie ein schwarzer Krater wirkte, aber der Ausdruck darin war noch immer Haß. Und auch in seinem Innern schien etwas verletzt zu sein, denn als er sprach, kam auch über seine Lippen Blut. »Warum ... erschlägst du mich nicht?« stöhnte er. »Gib mir... wenigstens einen ehrenvollen Tod.«
Skar lächelte traurig. »Es gibt keinen ehrenvollen Tod, Del«, sagte er. »Das habe ich dir immer gesagt. Aber du hast es nie begriffen. Nicht einmal jetzt.«
Del stöhnte. Er taumelte, drohte an der Wand zusammenzusacken und fand im letzten Moment wieder Halt. Seine blutige, linke Hand streckte sich nach Skars Schulter aus und krallte sich hinein.
»Und ich habe immer gesagt«, stöhnte er unter Schmerzen, »daß du ein romantischer Narr bist, alter Mann.«
Und damit hob er sein Schwert und stieß es bis zum Heft in Skars Brust.