6

Auf Shis’urna, in Ors, saß die Sieben Issa der Gerechtigkeit der Ennte, die Leutnantin Skaaiat zu Jen Shinnan begleitet hatte, neben mir im unteren Stockwerk des Hauses. Sie hatte außer ihrer Bezeichnung noch einen Namen, den ich nie benutzte, obwohl ich ihn kannte. Selbst Leutnantin Skaaiat sprach individuelle menschliche Soldatinnen, die ihr unterstanden, gelegentlich nur als »Sieben Issa« an. Oder mit ihren Segmentnummern.

Ich holte ein Spielbrett hervor, und wir spielten schweigend zwei Runden. »Können Sie mich nicht hin und wieder gewinnen lassen?«, fragte sie nach dem zweiten Spiel, und bevor ich antworten konnte, ertönte ein dumpfes Geräusch aus dem Obergeschoss, was sie zum Grinsen brachte. »Wie es aussieht, kann sich Leutnantin Steif doch entspannen!« Sie warf mir einen Blick zu, der mich in ihren Witz einbeziehen sollte, in ihre Belustigung über den Kontrast zwischen Awns üblicher bedächtiger Förmlichkeit und dem, was offensichtlich oben zwischen ihr und Leutnantin Skaaiat vor sich ging. Aber schon im nächsten Moment verblasste Sieben Issas Lächeln. »Es tut mir leid. Ich wollte damit nichts andeuten. Es ist nur das, was wir …«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich nehme es Ihnen nicht übel.«

Sieben Issa runzelte die Stirn und machte unbeholfen eine ungeschickte zweifelnde Geste mit der linken Hand, während die Finger ihres Handschuhs ein halbes Dutzend Spielsteine umschlossen. »Schiffe haben Gefühle.«

»Ja, natürlich.« Ohne Gefühle werden unbedeutende Entscheidungen zu qualvollen Versuchen, endlose Reihen von belanglosen Aspekten miteinander zu vergleichen. Es ist viel einfacher, so etwas emotional abzuwägen. »Aber wie ich bereits sagte, nehme ich es Ihnen nicht übel.«

Sieben Issa betrachtete das Spielbrett und ließ die Steine in eine der Vertiefungen fallen. Sie starrte sie noch einen Moment lang an, bevor sie wieder aufblickte. »Man hört Gerüchte. Über Schiffe und Leute, die sie mögen. Und ich würde schwören, dass sich Ihr Gesicht niemals verändert, aber …«

Ich bewegte meine Gesichtsmuskeln und lächelte, einen Ausdruck, den ich schon viele Male gesehen hatte.

Sieben Issa zuckte zusammen. »Tun Sie das nicht!«, sagte sie empört, aber weiterhin gedämpft, damit die Leutnantinnen uns nicht hören konnten.

Es ging nicht darum, dass mir das Lächeln vielleicht missglückt war — ich wusste genau, dass es das nicht war. Es war die plötzliche Veränderung, von meiner üblichen Ausdruckslosigkeit zu etwas Menschlichem, was einige der Sieben Issas irritierte. Ich legte das Lächeln ab.

»Bei Aatrs Titten«, fluchte Sieben Issa. »Wenn Sie das tun, sieht es aus, als wären Sie besessen oder so.« Sie schüttelte den Kopf und nahm die Steine auf, um sie über das Spielbrett zu verteilen. »Also gut, das heißt, Sie wollen nicht darüber reden. Spielen wir noch eine Runde.«

Der Abend wurde spät. Die Gespräche der Nachbarn wurden schleppender und zielloser, bis sie ganz aufhörten, als die Leute ihre schlafenden Kinder einsammelten und zu Bett gingen.

Denz Ay traf vier Stunden vor Sonnenaufgang ein, und ich stieg ohne ein Wort zu ihr ins Boot. Weder sie noch ihre Tochter, die im Heck saß, grüßten mich oder reagierten sonst wie auf meine Anwesenheit. Langsam und fast lautlos trieben wir vom Haus fort.

Am Tempel wurde weiter Wache gehalten, und die Gebete der Priester waren als unregelmäßiges gedämpftes Gemurmel hörbar. Auf den Straßen der Ober- und der Unterstadt war es still, abgesehen von meinen eigenen Schritten und den Geräuschen des Wassers, und dunkel, abgesehen von den strahlenden Sternen und dem Blinken der Bojen, die die Sperrzonen abgrenzten, und dem Licht vom Tempel der Ikkt. Die Sieben Issa, die uns zurück zu Leutnantin Awns Haus begleitet hatte, schlief auf einer Pritsche im Erdgeschoss.

Leutnantin Awn und Leutnantin Skaaiat lagen zusammen im Obergeschoss, still und kurz vor dem Einschlafen.

Niemand außer uns war hier draußen auf dem Wasser. Im Boden des Bootes sah ich Seile, Netze, Atmer und einen runden, verschlossenen Korb, an dem ein Anker befestigt war. Die Tochter bemerkte, wie mein Blick darauf fiel, und schob den Korb gespielt lässig mit dem Fuß unter ihren Sitz. Ich schaute woanders hin, über das Wasser, zu den blinkenden Bojen, und sagte nichts. Die Fiktion, dass sie die Informationen, die ihre Tracker aussandten, verbergen oder verändern konnten, war durchaus nützlich, auch wenn niemand tatsächlich daran glaubte.

Sobald wir in den Kreis der Bojen gelangt waren, setzte sich Denz Ays Tochter einen Atmer auf den Mund und glitt mit einem Seil in der Hand über die Bordwand. Der See war nicht besonders tief, schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Wenige Augenblicke später tauchte sie wieder auf und stieg zurück ins Boot, und wir zogen die Kiste hoch, was relativ einfach war, bis sie die Oberfläche erreicht hatte. Aber zu dritt schafften wir es, sie ins Boot zu hieven, ohne allzu viel Wasser aufzunehmen.

Ich wischte Schlamm vom Deckel. Die Kiste war von Radchaai hergestellt worden, aber das war an sich gar nicht allzu alarmierend. Ich fand den Riegel und ließ ihn aufschnappen.

Die Waffen, die sich darin befanden — länglich, schlank und tödlich —, gehörten zu den Modellen, mit denen die Tanmind-Soldatinnen vor der Annexion ausgerüstet waren. Ich wusste, dass jede einzelne eine Identifikationsmarkierung haben musste und dass sämtliche Waffen, die wir konfisziert hatten, gelistet und gemeldet waren. Also konnte ich das Bestandsverzeichnis konsultieren und mehr oder weniger genau bestimmen, ob es sich hierbei um konfiszierte Waffen oder solche handelte, die uns entgangen waren.

Wenn es konfiszierte Waffen waren, würde diese Situation plötzlich viel komplizierter werden, als es im Moment noch den Anschein hatte. Und die Situation war auch jetzt schon kompliziert genug.

Leutnantin Awn befand sich in einer Non-REM-Schlafphase. Leutnantin Skaaiat ebenfalls, wie es schien. Ich konnte das Bestandsverzeichnis aus eigener Initiative konsultieren. Ich sollte es sogar tun. Aber ich tat es nicht — teils, weil ich erst gestern an die Korruption der Behörden von Ime erinnert worden war, an den Amtsmissbrauch, den skandalösen Missbrauch von Macht, Dinge, die jede Bürgerin für unmöglich gehalten hätte. Allein diese Mahnung genügte, mich vorsichtig zu machen. Aber auch nach Denz Ays Erklärungen, dass Bewohner der Oberstadt nachträglich Beweise deponierten, und dem Gespräch beim Abendessen, in dem die feindselige Stimmung in der Oberstadt klar zum Ausdruck gekommen war, schien irgendetwas nicht ganz in Ordnung zu sein. Niemand in der Oberstadt würde davon erfahren, wenn ich Informationen über konfiszierte Waffen anforderte, aber was war, wenn andere darin involviert waren? Personen, die alarmiert würden, wenn an bestimmten Stellen bestimmte Fragen gestellt wurden? Denz Ay und ihre Tochter saßen still im Boot und schienen völlig unbesorgt zu sein, schienen sich auch nicht zu wünschen, woanders zu sein oder etwas anderes zu tun.

Innerhalb weniger Augenblicke hatte ich die Aufmerksamkeit der Gerechtigkeit der Torren. Ich hatte nicht wenige dieser konfiszierten Waffen gesehen — nicht ich, Eins Esk, sondern ich, die Gerechtigkeit der Torren, deren viele Tausend Hilfseinheiten sich während der Annexion auf dem Planeten aufgehalten hatten. Wenn ich kein offizielles Verzeichnis konsultieren konnte, ohne die Behörden darauf aufmerksam zu machen, dass ich dieses Lager gefunden hatte, konnte ich stattdessen mein eigenes Gedächtnis konsultieren, um mich zu vergewissern, ob ich welche davon mit eigenen Augen gesehen hatte.

Und ich hatte.

Ich ging ins Zimmer, in dem Leutnantin Awn schlief, und legte ihr eine Hand auf die bloße Schulter. »Leutnantin«, sagte ich leise. Im Boot schloss ich die Kiste mit einem leisen Schnappgeräusch und sagte: »Zurück zur Stadt.«

Leutnantin Awn fuhr aus dem Schlaf hoch. »Ich schlafe nicht«, sagte sie leicht benommen. Im Boot nahmen Denz Ay und ihre Tochter schweigend die Ruder und machten sich auf den Rückweg.

»Die Waffen wurden konfisziert«, sagte ich zu Leutnantin Awn, immer noch mit leiser Stimme. Ich wollte Leutnantin Skaaiat nicht wecken, ich wollte vermeiden, dass irgendjemand sonst mich hörte. »Ich habe die Seriennummern wiedererkannt.«

Leutnantin Awn sah mich einige Augenblicke lang verwirrt und verständnislos an. Dann schien sie zu begreifen. »Aber …« Und dann wachte sie ganz auf und wandte sich Leutnantin Skaaiat zu. »Skaaiat, wachen Sie auf. Ich habe ein Problem.«

Ich brachte die Waffen ins Obergeschoss von Leutnantin Awns Haus. Sieben Issa rührte sich nicht einmal, als ich an ihr vorbeiging.

»Sind Sie sich ganz sicher?«, fragte Leutnantin Skaaiat, die neben der offenen Kiste kniete, nackt bis auf ihre Handschuhe, mit einer Schale Tee in einer Hand.

»Ich habe diese Waffen persönlich konfisziert«, antwortete ich. »Ich erinnere mich daran.« Wir alle sprachen sehr leise, sodass niemand uns von draußen hören konnte.

»Dann wären sie vernichtet worden«, wandte Leutnantin Skaaiat ein.

»Offensichtlich wurden sie es nicht«, sagte Leutnantin Awn. Und nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: »Scheiße. Das ist gar nicht gut.«

Stumm textete ich sie an. Ihre Ausdrucksweise, Leutnantin!

Leutnantin Skaaiat gab einen kurzen, keuchenden Laut von sich, ein nicht amüsiertes Lachen. »Gelinde gesagt.« Sie runzelte die Stirn. »Aber warum? Warum sollte sich jemand diese Mühe machen?«

»Und wie?«, fragte Leutnantin Awn. Sie schien ihren Tee vergessen zu haben, der nun in einer Tasse neben ihr auf dem Boden stand. »Jemand hat sie dorthin gebracht, ohne dass wir es gesehen haben.« Ich hatte mir die Protokolle der vergangenen dreißig Tage angesehen und nichts Unerklärliches bemerkt. Niemand hatte sich an dieser Stelle aufgehalten, abgesehen von Denz Ay und ihrer Tochter vor dreißig Tagen und gestern.

»Das wie ist der leichte Teil, wenn man über den geeigneten Zugang verfügt«, sagte Leutnantin Skaaiat. »Was vielleicht eine erste Spur ist. Es kann niemand sein, die einen hochrangigen Zugriff auf die Gerechtigkeit der Torren hat, weil diese Person sonst verhindert hätte, dass die Schiffs-KI sich an diese Waffen erinnert. Oder sie hätte zumindest nicht sagen können, dass sie sich daran erinnert.«

»Oder man hat nicht an dieses spezielle Detail gedacht«, gab Leutnantin Awn zu bedenken. Sie war ratlos. Und fing gerade erst an, Angst zu bekommen. »Oder vielleicht war das von Anfang an Teil des Plans. Aber damit wären wir wieder beim warum, nicht wahr? Das wie spielt keine große Rolle, zumindest nicht im Moment.«

Leutnantin Skaaiat blickte zu mir auf. »Erzählen Sie mir von den Schwierigkeiten, die Jen Taas Nichte in der Unterstadt hatte.«

Leutnantin Awn sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Aber …« Leutnantin Skaaiat brachte sie mit einer Geste zum Verstummen.

»Es gab keine Schwierigkeiten«, sagte ich. »Sie saß allein am Vortempelteich und warf Steine ins Wasser. Sie kaufte sich einen Tee im Laden hinter dem Tempel. Darüber hinaus hat niemand mit ihr gesprochen.«

»Sind Sie sich ganz sicher?«, fragte Leutnantin Awn.

»Ich hatte sie die ganze Zeit im Blick.« Und ich würde dafür sorgen, dass es bei künftigen Besuchen genauso war, was ich jedoch nicht ausdrücklich erwähnen musste.

Die zwei Leutnantinnen schwiegen eine Weile. Leutnantin Awn schloss die Augen und atmete tief durch. Jetzt hatte sie wirklich Angst. »In diesem Punkt lügen sie also«, sagte sie, die Augen weiterhin geschlossen. »Sie brauchen irgendeinen Vorwand, um jemanden in der Unterstadt zu beschuldigen, wegen … irgendetwas.«

»Aufhetzung«, sagte Leutnantin Skaaiat. Sie erinnerte sich an ihren Tee und nippte davon. »Und sie werden größenwahnsinnig. Das ist sehr leicht zu erkennen.«

»Ja, das sehe ich auch so«, sagte Leutnantin Awn. Sie hatte ihren Akzent völlig abgelegt, es aber nicht bemerkt. »Aber warum zum Teufel sollte jemand mit Zugang zu so etwas« — sie gestikulierte zur Kiste mit den Waffen — »ihnen helfen wollen?«

»Das scheint die Frage zu sein«, erwiderte Leutnantin Skaaiat. Sie schwiegen wieder für ein paar Sekunden. »Was wollen Sie tun?«

Die Frage irritierte Leutnantin Awn, der vermutlich genau das Gleiche durch den Kopf gegangen war. Sie blickte zu mir auf. »Ich frage mich, ob das alles ist.«

»Ich kann Denz Ay bitten, noch einmal mit mir hinauszufahren«, sagte ich.

Leutnantin Awn machte eine bestätigende Geste. »Ich werde den Bericht schreiben, aber ich werde ihn noch nicht einreichen, sondern die weiteren Ermittlungen abwarten.« Alles, was Leutnantin Awn tat und sagte, wurde observiert und aufgezeichnet. Doch so wie bei den Trackern, mit denen in Ors jede ausgestattet war, achtete nicht immer jemand darauf.

Leutnantin Skaaiat stieß einen leisen Pfiff aus. »Will jemand Ihnen eine Falle stellen, meine Liebe?« Leutnantin Awn sah sie verständnislos an. »Zum Beispiel«, fuhr Leutnantin Skaaiat fort, »Jen Shinnan? Vielleicht habe ich sie unterschätzt. Oder können Sie Denz Ay vertrauen?«

»Wenn jemand will, dass ich verschwinde, dann jemand aus der Oberstadt«, sagte Leutnantin Awn. Ich stimmte ihr zu, sagte es aber nicht laut. »Doch das kann es nicht sein. Wer dazu imstande ist« — sie deutete auf die Kiste —, »könnte einfach den Befehl geben, mich verschwinden zu lassen. Und Jen Shinnan kann so etwas nicht getan haben.« Unausgesprochen stand hinter jedem Wort die Erinnerung an die Nachrichten von Ime. Daran, dass die Person, die die dortige Korruption aufgedeckt hatte, zum Tode verurteilt war, wahrscheinlich längst tot war. »Niemand in Ors hätte es tun können, nicht ohne …« Nicht ohne Hilfe von sehr weit oben, wollte sie zweifellos sagen, aber sie ließ den Satz unvollendet.

»Wohl wahr«, sinnierte Leutnantin Skaaiat, die die Implikationen begriffen hatte. »Also ist es eine höhergestellte Person. Wer würde davon profitieren?«

»Die Nichte«, sagte Leutnantin Awn mit deutlichem Unbehagen.

»Jen Taas Nichte würde profitieren?«, fragte Leutnantin Skaaiat verblüfft nach.

»Nein, nein. Die Nichte wurde beleidigt oder angegriffen — angeblich. Ich werde deswegen nichts unternehmen, und ich sage, dass nichts geschehen ist.«

»Weil nichts geschehen ist«, sagte Leutnantin Skaaiat, der allmählich etwas klar zu werden schien, auch wenn sie immer noch verwirrt war.

»Von mir können sie keine Gerechtigkeit erwarten, also gehen sie in die Unterstadt, um selbst dafür zu sorgen. So wurde es auch schon vor unserer Ankunft gehandhabt.«

»Und anschließend«, sagte Leutnantin Skaaiat, »finden sie all diese Waffen. Oder auch währenddessen. Oder …« Sie schüttelte den Kopf. »Das alles passt nicht zusammen. Gehen mir mal davon aus, dass Sie recht haben. Es bleibt die Frage, wer davon profitiert. Nicht die Tanmind, nicht wenn sie Schwierigkeiten machen. Sie können so viele Vorwürfe vorbringen, wie sie wollen, aber ganz gleich, was irgendwer im See findet, droht ihnen die Umerziehung, wenn sie einen Aufruhr anzetteln.«

Leutnantin Awn machte eine zweifelnde Geste. »Wer diese Waffen hierherschaffen kann, ohne dass wir sie bemerken, könnte auch in der Lage sein, die Tanmind aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Oder glaubwürdig behaupten, sie könnten es tun.«

»Ah.« Leutnantin Skaaiat verstand sofort. »Eine geringe Ordnungsstrafe, wegen mildernder Umstände. Ohne Zweifel. Es dürfte jemand ganz oben sein. Eine sehr gefährliche Person. Aber warum?«

Leutnantin Awn sah mich an. »Gehen Sie zur Oberpriesterin und bitten Sie sie um einen Gefallen. Richten Sie ihr von mir aus, dass der Sturmalarm ständig besetzt sein sollte, auch wenn jetzt keine Regenzeit ist.« Der Alarm, eine ohrenbetäubende Sirene, befand sich auf dem Dach der Tempelresidenz. Wenn sie ertönte, wurden die Sturmrollläden an den meisten Gebäuden in der Unterstadt aktiviert, und in jedem Fall wurden die Bewohner jedes Gebäudes geweckt, dass nicht mit einer solchen Automatik ausgestattet war. »Bitten Sie sie, sich bereitzuhalten, den Alarm zu aktivieren, wenn ich sie dazu auffordere.«

»Ausgezeichnet«, sagte Leutnantin Skaaiat. »Dann wird sich ein Mob wenigstens etwas mehr anstrengen müssen, an den Rollläden vorbeizukommen. Und dann?«

»Vielleicht geschieht es gar nicht«, sagte Leutnantin Awn. »Was auch immer es ist, wir müssen es so nehmen, wie es kommt.«

Was am nächsten Morgen kam, war die Nachricht, dass Anaander Mianaai, die Herrin der Radch, uns irgendwann in den nächsten Tagen besuchen würde.

Seit dreitausend Jahren war Anaander Mianaai die absolute Herrscherin über das Radch-Territorium gewesen. Sie residierte in allen dreizehn Provinzpalästen und war bei jeder Annexion anwesend. Dazu war sie imstande, weil sie Tausende von Körpern besaß, allesamt genetisch identisch, alle miteinander verlinkt. Sie befand sich immer noch im Shis’urna-System, einige von ihr an Bord des Flaggschiffs dieser Annexion, der Schwert der Amaat, und einige in der Station Shis’urna. Sie war es, die die Radchaai-Gesetze machte und über Ausnahmen von diesen Gesetzen entschied. Sie war die höchste militärische Kommandantin, die höchste Oberpriesterin von Amaat, die Person, der letztlich alle Radchaai-Häuser als Klientinnen dienten.

Und sie kam nach Ors, zu einem nicht näher angegebenem Datum innerhalb der nächsten paar Tage. Im Grunde war es ein wenig überraschend, dass sie Ors nicht schon früher besucht hatte. Obwohl es klein war, obwohl die Orsai viel von ihrem ehemaligen Ruhm verloren hatten, war Ors durch die jährliche Pilgerreise immer noch ein Ort mit einer gewissen Bedeutung. Immerhin so bedeutend, dass Offiziere aus angeseheneren Familien und mit mehr Einfluss als Leutnantin Awn diesen Posten angestrebt hatten — und weiterhin versuchten, sie davon zu verdrängen, trotz des entschlossenen Widerstands der Göttlichen der Ikkt.

Der Besuch selbst kam also nicht ganz unerwartet, wenn auch der Zeitpunkt seltsam schien. Zwei Wochen vor dem Beginn der Pilgerzeit, wenn Orsai und Touristinnen zu Hunderttausenden durch die Stadt ziehen würden. Während der Pilgerzeit wäre Anaander Mianaais Anwesenheit für viele sichtbar, eine Gelegenheit, um die große Anzahl der Ikkt-Verehrerinnen zu beeindrucken. Stattdessen kam sie kurz davor. Und natürlich war es unmöglich zu übersehen, dass sie kurz nach der Entdeckung des Waffenlagers ankam.

Wer auch immer die Waffen deponiert hatte, handelte entweder im Interesse der Herrin der Radch oder dagegen. Es lag auf der Hand, sie darüber zu informieren und um weitere Anweisungen zu bitten. Ihr Besuch kam wie gerufen, denn so konnte sie ins Bild gesetzt werden, ohne dass jemand den Bericht abfing und dann entweder den unbekannten Plan vereiteln oder die Übeltäterinnen davor warnen konnte, dass ihr Plan aufgedeckt worden war, was es schwieriger machen würde, sie zu erwischen.

Allein schon aus diesem Grund war Leutnantin Awn erleichtert, als sie vom Besuch der Herrin hörte. Auch wenn Leutnantin Awn während der nächsten Tage und während Anaander Mianaais Besuchs ihre komplette Uniform würde tragen müssen.

In der Zwischenzeit hörte ich mir die Gespräche in der Oberstadt etwas aufmerksamer an — was schwieriger als in der Unterstadt war, weil alle Häuser geschlossen waren und natürlich alle involvierten Tanmind schweigen würden, wenn sie wussten, dass ich in Hörweite war. Und niemand würde so dumm sein, die Art von Gesprächen, auf die ich lauschte, nicht unter vier Augen im Geheimen zu führen. Außerdem beobachtete ich Jen Taas Nichte, zumindest so gut ich konnte. Nach dem Abendessen hatte sie Jen Shinnans Haus nicht mehr verlassen, aber ich konnte ihre Trackerdaten einsehen.

Zwei Nächte lang war ich mit Denz Ay und ihrer Tochter im Sumpf unterwegs, wo wir zwei weitere Kisten mit Waffen fanden. Wieder hatte ich keine Möglichkeit zu ermitteln, wer sie dort deponiert hatte oder wann. Denz Ays Hinweisen zufolge mussten sie irgendwann in den letzten ein oder zwei Monaten eingetroffen sein, wobei sie sorgsam jede Beschuldigung der Fischerinnen vermied, von denen ich wusste, dass sie normalerweise in diesen Bereichen wilderten.

»Ich werde froh sein, wenn die Herrin von Mianaai hier ist«, sagte Leutnantin Awn spät nachts leise zu mir. »Ich glaube, ich bin für so etwas eigentlich nicht zuständig.«

Und in der Zwischenzeit bemerkte ich, dass niemand außer Denz Ay bei Nacht auf den See hinausfuhr und dass in der Unterstadt niemand dort saß oder lag, wo die Rollläden herunterkommen würden. Eine solche Vorsichtsmaßnahme war Routine während der Regenzeit, obwohl es Sicherheitsvorkehrungen gab, die sie stoppten, wenn eine Person im Weg war, doch während der Trockenzeit achtete für gewöhnlich niemand darauf.

Die Herrin der Radch traf mitten am Tag ein, zu Fuß. Eine einzige Verkörperung von ihr kam durch die Oberstadt herunter, ohne dass es in den Trackerlogs eine Spur von ihr gab, und begab sich direkt zum Tempel der Ikkt. Sie war alt, grauhaarig, die breiten Schultern leicht gebeugt, die fast schwarze Haut ihres Gesichts faltig, was eine Erklärung für die Abwesenheit von Wachen war. Der Verlust eines Körpers, der ohnehin mehr oder weniger dem Tode nahe war, wäre kein allzu großer. Die Benutzung solcher älteren Körper erlaubte der Herrin der Radch, sich ungeschützt zu bewegen, ohne irgendein Gefolge, wohin sie wollte, ohne nennenswertes Risiko.

Sie trug weder den juwelenbesetzten Mantel und die Hosen der Radchaai noch den Overall und die Hosen und das Hemd, das eine Tanmind von Shis’urna tragen würde, sondern stattdessen die hemdlosen Lungi der Orsai.

Sobald ich sie bemerkte, textete ich Leutnantin Awn, die so schnell, wie es ihr möglich war, zum Tempel kam und eintraf, während die Oberpriesterin auf dem Platz vor der Herrin der Radch auf die Knie fiel.

Leutnantin Awn zögerte. Die meisten Radchaai hatten die persönliche Anwesenheit von Anaander Mianaai nie unter solchen Umständen erlebt. Natürlich war sie während der Annexionen jederzeit präsent, aber die gewaltige Anzahl der Soldatinnen im Vergleich zur Anzahl der Körper der Herrin der Radch machte es unwahrscheinlich, dass jemand ihr zufällig begegnete. Und jede Bürgerin kann zu einem der Provinzpaläste reisen und um eine Audienz bitten — wegen einer Bitte, wegen eines Gesuchs im Rahmen einer juristischen Angelegenheit, aus welchem Grund auch immer —, doch in einem solchen Fall wird eine gewöhnliche Bürgerin vorher instruiert, wie sie sich zu verhalten hat. Vielleicht wusste jemand wie Leutnantin Skaaiat, wie sie Anaander Mianaais Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, ohne den Anstand zu verletzen, aber nicht Leutnantin Awn.

»Meine Herrin«, sagte Leutnantin Awn, mit furchtsam beschleunigtem Herzschlag, und kniete nieder.

Anaander Mianaai wandte sich ihr mit hochgezogenen Augenbrauen zu.

»Ich bitte meine Herrin um Verzeihung«, sagte Leutnantin Awn. Ihr war leicht schwindlig, entweder vom Gewicht ihrer Uniform in der Hitze oder aus Nervosität. »Ich muss mit Ihnen sprechen.«

Die Augenbrauen wanderten noch höher. »Leutnantin Awn«, sagte sie, »richtig?«

»Ja, meine Herrin.«

»Heute Abend nehme ich an der Wache im Tempel der Ikkt teil. Ich werde morgen früh mit Ihnen sprechen.«

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Leutnantin Awn diese Antwort verdaut hatte. »Meine Herrin, nur auf einen Moment. Ich glaube, das wäre keine gute Idee.«

Die Herrin der Radch neigte neugierig den Kopf. »Ich war davon überzeugt, dass Sie diese Region unter Kontrolle haben.«

»Ja, Herrin, es ist nur …« Leutnantin Awn hielt inne, in leichter Panik, für eine Sekunde außerstande zu sprechen. »Die Beziehungen zwischen der Ober- und Unterstadt sind derzeit …« Wieder hielt sie inne.

»Kümmern Sie sich um Ihre Aufgaben«, sagte Anaander Mianaai. »Und ich werde mich um meine kümmern.« Sie wandte sich von Leutnantin Awn ab.

Eine öffentliche Kränkung. Und sie war unerklärlich, denn es gab keinen Grund, warum die Herrin der Radch nicht auf ein paar dringliche Momente mit der Offizierin reden sollte, die für die lokale Sicherheit zuständig war. Und Leutnantin Awn hatte nichts getan, um sich eine solche Kränkung zu verdienen. Zuerst dachte ich, das wäre der einzige Grund für die Bestürzung, die mir durch die Daten von Leutnantin Awn übermittelt wurde. Der Waffenfund konnte genauso gut am nächsten Morgen kommuniziert werden, und für den Augenblick schien es keine anderen Probleme zu geben. Doch als die Herrin der Radch durch die Oberstadt gelaufen war, hatte sich die Neuigkeit von Anaander Mianaais Anwesenheit verbreitet, wie es natürlich zu erwarten war, und die Bewohner der Oberstadt waren aus ihren Häusern gekommen und versammelten sich allmählich am nördlichen Rand des Vortempelteichs, um die Herrin der Radch zu sehen, die wie eine Orsai gekleidet war und mit der Göttlichen vor dem Tempel der Ikkt stand. Und als ich dem Gemurmel der Menge lauschte, wurde mir bewusst, dass die Waffen in diesem Augenblick nur von sekundärer Bedeutung waren.

Die Tanmind aus der Oberstadt waren wohlhabend und gut genährt, und sie waren die Besitzer von Geschäften und Farmen und Tamarindengärten. Selbst in den labilen Monaten nach der Annexion, als Vorräte knapp und Lebensmittel teuer gewesen waren, hatten sie es geschafft, ihre Familien zu versorgen. Als Jen Shinnan vor einigen Abenden gesagt hatte, dass hier niemand verhungert war, hatte sie das wahrscheinlich wirklich geglaubt. Sie hatte keinen Hunger gelitten, auch niemand von den Leuten, die sie gut kannte, fast allesamt wohlhabende Tanmind. Obwohl sie sich beklagten, hatten sie die Annexion relativ unbeschadet überstanden. Und ihre Kinder schnitten gut ab, wenn sie auf ihre Eignung geprüft wurden, und so würde es auch weiterhin sein, wie Leutnantin Skaaiat gesagt hatte.

Doch als dieselben Leute sahen, wie die Herrin der Radch durch die Oberstadt direkt zum Tempel der Ikkt lief, interpretierten sie diese Geste des Respekts vor den Orsai als eine kalkulierte Beleidigung ihres Standes. Das zeigte sich deutlich in ihrem Gesichtsausdruck, in ihren empörten Ausrufen. Das hatte ich nicht vorhergesehen. Vielleicht hatte auch die Herrin der Radch es nicht vorhergesehen. Aber Leutnantin Awn hatte erkannt, dass es geschehen würde, als sie die Göttliche auf dem Boden vor der Herrin der Radch sah.

Ich verließ den Platz und die Straßen der Oberstadt und ging dorthin, wo die Tanmind standen, ein halbes Dutzend vor mir. Ich zog keine Waffen, verzichtete auf Drohungen. Ich sagte lediglich zu jemandem in meiner Nähe: »Gehen Sie nach Hause, Bürgerinnen.«

Die meisten wandten sich ab und gingen. Obwohl ihre Mienen keine Begeisterung zeigten, äußerte niemand einen offenen Protest. Andere brauchten länger, um zu gehen. Vielleicht stellten sie meine Autorität auf die Probe, wenn auch nicht allzu sehr. Alle, die den Mut aufgebracht hatten, so etwas zu tun, waren irgendwann in den vergangenen fünf Jahren erschossen worden oder hatten zumindest gelernt, solche selbstmörderischen Anwandlungen zu unterdrücken.

Die Göttliche, die sich erhob, um Anaander Mianaai in den Tempel zu führen, warf Leutnantin Awn, die immer noch auf den Steinen des Platzes kniete, einen schwer zu deutenden Blick zu. Die Herrin der Radch schenkte ihr nach wie vor keine Beachtung.

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