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Neunzehn Jahre, drei Monate und eine Woche bevor ich Seivarden im Schnee fand, war ich ein Truppentransporter im Orbit um den Planeten Shis’urna. Truppentransporter gehörten mit sechzehn Decks übereinander zu den mächtigsten Schiffen der Radchaai. Kommandobrücke, Verwaltung, Medizinische Abteilung, Hydrokultur, Technik, Zentraler Zugang und ein Deck für jede Dekade, Wohn- und Arbeitsraum für meine Offizierinnen, von denen mir jeder Atemzug und jede Muskelzuckung bekannt waren.

Truppentransporter bewegen sich nur selten. Ich saß fest, wie ich die längste Zeit meiner zweitausendjährigen Existenz im jeweiligen System festgesessen hatte, und spürte die bittere Kälte des Vakuums außerhalb meines Schiffskörpers. Der Planet Shis’urna ähnelte einer blau-weißen gläsernen Empfangshalle, umkreist von einer Raumstation mit einem steten Strom ankommender, an- und abdockender Raumschiffe, die wieder zu einem der mit Leuchtbojen markierten Tore abflogen. Aus meiner Perspektive im Orbit waren die Grenzen der verschiedenen Nationen und Hoheitsgebiete auf Shis’urna nicht zu erkennen, nur auf der Nachtseite des Planeten waren die Städte und Straßennetze dazwischen stellenweise hell erleuchtet, zumindest da, wo sie seit der Annexion wiederhergestellt worden waren.

Ich spürte und hörte — ohne sie immer sehen zu können — die Anwesenheit der anderen Schiffe, der kleineren und schnelleren Schwerter und Gnaden sowie der Gerechtigkeiten, die zu jener Zeit am zahlreichsten waren, allesamt Truppentransporter wie ich. Die ältesten von uns waren fast dreitausend Jahre alt. Wir kannten uns schon sehr lange, und inzwischen gab es unter uns nicht mehr viel zu sagen, was nicht schon oft gesagt worden wäre. Von Routine-Mitteilungen abgesehen herrschte zwischen uns im Großen und Ganzen eher ein kameradschaftliches Schweigen.

Da ich noch über Hilfseinheiten verfügte, konnte ich an mehr als einem Ort gleichzeitig sein. Ich war auch in der Stadt Ors auf dem Planeten Shis’urna unter dem Kommando von Esk-Dekaden-Leutnantin Awn im Einsatz.

Ors lag zur einen Hälfte auf wasserdurchzogenem Gelände, zur anderen in einem sumpfigen See, wobei die Seeseite auf Steinplatten über Fundamenten errichtet worden war, die man tief in den Sumpf getrieben hatte. Grüner Schleim bildete sich in den Kanälen und an den Stellen zwischen den Platten, am unteren Teil von Säulen und an allen festen Objekten, die je nach Jahreszeit höher oder tiefer im Wasser standen. Nur selten verzog sich der allgegenwärtige Gestank nach Schwefelwasserstoff, wenn Sommerstürme die seewärts gelegene Stadthälfte erzittern ließen und die Gehwege knietief unter Wasser setzten, das von jenseits der Barriereinseln hereingeflutet kam. Selten. Gewöhnlich verstärkten die Stürme den Gestank noch. Sie kühlten die Luft vorübergehend ab, aber die Linderung hielt jeweils nur ein paar Tage an. Sonst war es ständig feucht und heiß.

Ich konnte Ors aus dem Orbit nicht sehen. Es war eher ein Dorf als eine Stadt, obwohl es früher an einer Flussmündung gelegen hatte und die Hauptstadt eines Landes gewesen war, das sich die Küste entlangzog. Der Handel blühte dank der Flusswege und der Flachboote, die das an der Küste gelegene Sumpfland ansteuerten und die Leute von einem Ort zum nächsten beförderten. Der Fluss hatte sich über die Jahrhunderte verlagert, und nun bestand Ors zur Hälfte aus Ruinen. Wo sich früher kilometerweit rechteckige Inseln in einem Netz aus Kanälen ausgebreitet hatten, lag jetzt ein viel kleinerer Ort, der von zerbrochenen, halb versunkenen Platten umgeben und durchsetzt war, worauf manchmal Pfeiler und Dächer standen, die in der trockenen Jahreszeit aus dem grünen Schlammwasser ragten. Hier waren früher Millionen zu Hause gewesen. Als Radchaai-Truppen vor fünf Jahren Shis’urna annektierten, lebten hier nur noch 6.318 Personen, und natürlich hatte sich die Zahl durch die Annexion weiter verringert. In Ors weniger als in einigen anderen Orten: Sobald wir eingetroffen waren — ich in Gestalt meiner Esk-Kohorten mit ihren Dekaden-Leutnantinnen, die bewaffnet und gerüstet in den Straßen der Stadt aufmarschiert waren —, hatte sich die Oberpriesterin der Ikkt an die ranghöchste anwesende Offizierin gewandt — Leutnantin Awn, wie schon erwähnt — und die sofortige Kapitulation angeboten. Die Oberpriesterin hatte ihren Anhängerinnen gesagt, wie sie sich zu verhalten hätten, um die Annexion zu überleben, und die meisten Anhängerinnen überlebten tatsächlich. Das war nicht so selbstverständlich, wie man glauben möchte. Wir hatten von Anfang an klargemacht, dass schon die kleinste Störung während der Annexion den Tod bedeuten könnte, und als die Annexion dann begonnen hatte, wurden überall Exempel statuiert, die deutlich machten, was wir damit meinten, denn es gab immer irgendwelche Leute, die der Versuchung nicht widerstehen konnten, uns auf die Probe zu stellen.

Doch der Einfluss der Oberpriesterin war beeindruckend. Die geringe Größe der Stadt war durchaus trügerisch, denn in der Pilgerzeit strömten Hunderttausende von Besucherinnen über den Vorplatz des Tempels, kampierten auf den Platten verwaister Straßen. Für die Anhängerinnen der Ikkt war es der zweitheiligste Ort auf dem Planeten, und die Oberpriesterin wurde wie eine Gottheit verehrt.

Eine Zivilpolizei war gewöhnlich erst etabliert, wenn eine Annexion offiziell vollzogen war, was oft fünfzig oder mehr Jahre dauerte. Diese Annexion verlief anders — den überlebenden Shis’urnai war die Staatsbürgerschaft viel früher als sonst gewährt worden. Bislang konnte sich niemand aus der Systemverwaltung mit der Vorstellung anfreunden, Personen aus der Zivilbevölkerung im Sicherheitsdienst einzusetzen, und so war die Militärpräsenz immer noch recht stark. Als die Annexion von Shis’urna dann offiziell vollzogen war, kehrten die meisten Esk-Dekaden der Gerechtigkeit der Torren in das Schiff zurück, doch Leutnantin Awn blieb, und ich blieb in Form von zwanzig Hilfseinheiten bei ihr, als Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren.

Die Oberpriesterin wohnte in einem Haus in der Nähe des Tempels, in einem der wenigen unbeschädigten Gebäude aus der Zeit, als Ors noch eine Stadt gewesen war — mit vier Stockwerken und einem abgeschrägten einfachen Dach. Das Gebäude war nach allen Seiten offen, doch es konnten Trennwände hochgezogen werden, wenn eine Bewohnerin Privatsphäre wünschte, und an den Außenwänden konnten bei Stürmen Rollläden heruntergelassen werden. Die Oberpriesterin empfing Leutnantin Awn in einem fünf Quadratmeter großen abgeteilten Raum, in den das Licht über die dunklen Wände hereinschien.

»Finden Sie«, fragte die Priesterin, eine grauhaarige Alte mit kurz gestutztem grauem Bart, »es nicht sehr hart, in Ors zu dienen?« Sie und Leutnantin Awn hatten sich auf Kissen niedergelassen — die wie alles in Ors feucht waren und schimmelig rochen. Die Priesterin trug um die Taille gewickelte gelbe Stoffbahnen, die Schultern wurden von geschwungenen und eckigen Zeichnungen verziert, die sich je nach der liturgischen Bedeutung des Tages veränderten. Aus Rücksichtnahme auf die Gepflogenheiten der Radchaai trug sie Handschuhe.

»Natürlich nicht«, sagte Leutnantin Awn freundlich — auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach, wie ich fand. Sie hatte dunkelbraune Augen und kurzes dunkles Haar. Ihre Haut war dunkel genug, um nicht als blass zu gelten, aber nicht so dunkel, wie es gerade in Mode war — sie hätte es verändern können, die Augen und Haare ebenfalls, was sie aber nie tat. Statt ihrer Uniform — ein langer brauner Mantel mit juwelenbesetzten Nadeln, darunter Hemd und Hose, sowie Stiefel und Handschuhe — trug sie einen ähnlichen Rock wie die Oberpriesterin, dazu ein dünnes Hemd und sehr leichte Handschuhe. Trotzdem schwitzte sie. Ich stand still und aufrecht am Eingang, während eine Juniorpriesterin Becher und Tassen zwischen Leutnantin Awn und der Göttlichen abstellte.

Gleichzeitig stand ich etwa vierzig Meter entfernt im eigentlichen Tempel — einem untypisch geschlossenen Raum von 43,5 Metern Höhe, 65,7 Metern Länge und 29,9 Metern Breite. An dem einen Ende befanden sich Türen, die fast bis unters Dach reichten, und am anderen ragte eine mit akribischer Genauigkeit gestaltete Reproduktion einer Felswand auf, die woanders auf Shis’urna tatsächlich existierte. Darunter stand ein Podest, von dem eine breite Treppe aus grauen und grünen Steinen zum Boden hinunterführte. Das Licht strömte durch Dutzende von grünen Dachluken herein, fiel auf Wände, die mit Szenen aus dem Leben der Heiligen des Ikkt-Kults bemalt waren. Das Gebäude war anders als alle anderen in Ors. Die Architektur wie auch der Kult der Ikkt waren von anderswo auf Shis’urna importiert worden. Während der Pilgerzeit war dieser Ort übervoll mit Gläubigen. Es gab noch andere Heiligtümer, aber mit »Pilgerfahrt« meinten die Orsai stets die alljährliche Pilgerfahrt an diesen Ort. Doch bis dahin waren es noch ein paar Wochen. Im Moment raunte es leise aus einer Ecke, wo ein Dutzend Gläubige ihre Gebete flüsterten.

Die Oberpriesterin lachte. »Sie sind eine Diplomatin, Leutnantin Awn.«

»Ich bin eine Soldatin, Göttliche«, antwortete Leutnantin Awn. Sie unterhielten sich auf Radchaai, und sie sprach langsam und deutlich und achtete auf ihren Akzent. »Ich empfinde meinen Dienst nicht als hart.«

Die Oberpriesterin quittierte es nicht mit einem Lächeln. In der kurzen Stille, die folgte, stellte die Juniorpriesterin eine Kanne von dem ab, was die Shis’urnai Tee nennen, eine lauwarme süßliche Brühe, die kaum Ähnlichkeit mit dem Original hatte.

Vor den Toren zum Tempel stand ich außerdem auf dem in türkisfarbenes Licht getauchten Platz und beobachtete die Passantinnen. Die meisten trugen den gleichen einfachen Umhang in leuchtenden Farben wie die Oberpriesterin, doch nur sehr kleine Kinder und die sehr Frommen hatten Zeichnungen, und noch weniger trugen Handschuhe. Einige Passantinnen waren Transplantierte, also Radchaai, denen hier in Ors nach der Annexion Arbeit oder Grundbesitz zugewiesen worden war. Die meisten waren wie Leutnantin Awn in einen einfachen Rock und ein leichtes, loses Hemd gekleidet. Einige hielten hartnäckig an Hose und Jacke fest und schwitzten auf ihrem Weg über den Platz. Alle trugen Schmuck, den nur wenige Radchaai jemals aufgeben würden — Geschenke von Freundinnen oder Geliebten, Andenken an die Toten, Zeichen von Verbindungen zu Verwandten und Klientinnen.

Nach Norden hin, an einem rechteckigen Gewässer vorbei, das aufgrund seiner Lage Vortempelteich genannt wurde, stieg Ors leicht an. Hier stand die Stadt während der Trockenzeit auf festem Boden, und dieser Bereich wurde immer noch vornehm die Oberstadt genannt. Ich patrouillierte auch dort. Wenn ich am Ufer des Wassers entlangging, konnte ich mich selbst auf dem Platz stehen sehen.

Boote stakten langsam über den sumpfigen See und auf den Kanälen zwischen den Ansammlungen von Platten hinauf und hinunter. Das Wasser war von den Algenschwaden schaumig, hier und dort ragten die Spitzen der Wassergräser heraus. Weiter weg von der Stadt markierten Bojen im Osten und im Westen die verbotenen Wassergebiete, und innerhalb der Abgrenzungen schimmerten die schillernden Flügel der Sumpffliegen über dem dichten Gewirr der Wasserkräuter. Außerhalb der Sperrgebiete trieben größere Boote und die jetzt stillgelegten großen Baggerschiffe, die vor der Annexion den stinkenden Schlamm unter dem Wasser gefördert hatten.

Nach Süden bot sich eine ähnliche Aussicht, allerdings war hier das Meer am Horizont hinter der feuchten Landzunge, die den Sumpf begrenzte, kaum erkennbar. Das alles konnte ich sehen, während ich an verschiedenen Stellen in der Nähe des Tempels stand und durch die Straßen der Stadt ging. Es war siebenundzwanzig Grad Celsius warm und wie immer schwül.

Das galt zumindest für die Hälfte meiner zwanzig Körper. Die übrigen schliefen oder arbeiteten in dem von Leutnantin Awn bewohnten dreistöckigen weitläufigen Haus, das früher die Angehörigen einer großen Familie und einen Bootsverleih beherbergt hatte. Die eine Seite öffnete sich zu einem breiten, schlammigen grünen Kanal, die andere zur größten Straße im Ort.

Drei Segmente im Haus waren wach, gingen administrativen Pflichten nach (ich saß auf einem niedrigen Podest in der Mitte der ersten Etage auf der Matte und hörte einer Orsai zu, die sich bei mir über die Zuteilung der Fischereirechte beschwerte) und hielten Wache. »Damit sollten Sie zur Distriktmagistratin gehen, Bürgerin«, sagte ich zur Orsai im einheimischen Dialekt. Da ich hier jede kannte, wusste ich, dass sie weiblich und Großmutter war, und beides war zu beachten, wenn ich sie nicht nur grammatisch richtig, sondern auch höflich ansprechen wollte.

»Ich kenne die Magistratin nicht!«, protestierte sie empört. Die Distriktmagistratin residierte in einer großen, dichtbesiedelten Stadt ein gutes Stück flussaufwärts von Ors in der Nähe von Kould Ves. Weit genug entfernt, sodass die Luft oft kalt und trocken war und nicht alles ständig nach Schimmel roch. »Was weiß die Magistratin schon über Ors? Wenn Sie mich fragen, gibt es keine Distriktmagistratin!« Sie redete weiter, erklärte mir die langjährige Verbindung ihres Hauses zur Sperrzone, wo der Zutritt verboten war und das Fischen sicherlich für die nächsten drei Jahre nicht erlaubt war.

Und wie immer war alles vom unterschwelligen Bewusstsein durchzogen, dass ich mich hoch oben in der Umlaufbahn befand.

»Ich bitte Sie, Leutnantin«, sagte die Oberpriesterin. »Keiner gefällt es in Ors außer den Unglücklichen, die hier geboren sind. Die meisten Shis’urnai, die ich kenne, und erst recht die Radchaai wären lieber in einer Stadt mit trockenem Land und richtigen Jahreszeiten, nicht nur mit einer Regen- und einer Nicht-Regenzeit.«

Die immer noch schwitzende Leutnantin Awn nahm eine Tasse vom sogenannten Tee an und trank davon, ohne mit der Wimper zu zucken, was eine Sache der Übung und des Willens war. »Meine Vorgesetzten verlangen meine Rückkehr.«

Am verhältnismäßig trockenen nördlichen Rand der Stadt sahen mich zwei braun uniformierte Soldatinnen, die mich in einem offenen Fahrzeug passierten, und hoben die Hände zum Gruß. Ich grüßte kurz zurück. »Eins Esk!«, rief die eine. Es waren einfache Soldatinnen der Sieben-Issa-Einheit der Gerechtigkeit der Ennte unter Leutnantin Skaaiat. Sie patrouillierten auf dem Landstreifen zwischen Ors und dem südwestlichen Rand von Kould Ves, der Stadt, die sich um die neue Mündung des Flusses gebildet hatte. Die Sieben Issas der Gerechtigkeit der Ennte waren Menschen und wussten, dass ich es nicht war. Sie behandelten mich stets mit zurückhaltender Freundlichkeit.

»Mir wäre lieber, Sie würden bleiben«, sagte die Oberpriesterin zu Leutnantin Awn. Das war Leutnantin Awn nicht neu. Wir wären bereits zwei Jahre früher wieder auf der Gerechtigkeit der Torren gewesen, wenn die Göttliche nicht immer wieder darum gebeten hätte, dass wir blieben.

»Sie verstehen«, sagte Leutnantin Awn, »dass man Eins Esk lieber durch eine menschliche Einheit ersetzen würde. Hilfseinheiten können unbegrenzt in Suspension gehalten werden. Menschen dagegen …« Sie stellte den Tee ab und nahm sich einen flachen, gelbbraunen Keks. »Menschen haben Familien, die sie wiedersehen möchten, sie führen ein Leben. Man kann sie nicht über Jahrhunderte einfrieren, wie man es manchmal mit Hilfseinheiten macht. Es ergibt keinen Sinn, Hilfseinheiten aus den Frachträumen mit der Arbeit zu betrauen, die menschliche Soldatinnen übernehmen könnten.« Obwohl Leutnantin Awn schon seit fünf Jahren hier war und sich regelmäßig mit der Oberpriesterin traf, war es das erste Mal, dass dieses Thema so unverblümt angesprochen wurde. Sie runzelte die Stirn, und Veränderungen in der Atmung und in den Hormonwerten verrieten mir, dass sie an etwas Schlimmes dachte. »Sie hatten doch keine Probleme mit Sieben Issa der Gerechtigkeit der Ennte, oder?«

»Nein«, sagte die Oberpriesterin. Sie sah Leutnantin Awn mit einem ironischen Lächeln an. »Ich kenne Sie. Ich kenne Eins Esk. Wen auch immer man mir schicken wird, diese Person werde ich nicht kennen. Und meine Gemeinde auch nicht.«

»Annexionen sind chaotisch«, sagte Leutnantin Awn. Die Oberpriesterin zuckte leicht beim Wort Annexion zusammen, und ich sah, dass Leutnantin Awn es bemerkt hatte. Dessen ungeachtet fuhr sie fort: »Sieben Issa war nicht deswegen hier. Die Issa-Bataillone der Gerechtigkeit der Ennte haben in der Zeit nichts getan, was nicht auch Eins Esk getan hat.«

»Nein, Leutnantin.« Die Priesterin stellte offensichtlich beunruhigt ihre Tasse ab, aber da ich keinen Zugriff auf ihre internen Daten hatte, war ich mir nicht sicher. »Issa der Gerechtigkeit der Ennte hat vieles getan, was Eins Esk nicht tat. Es ist wahr, Eins Esk hat ebenso viele Soldatinnen getötet wie Issa der Gerechtigkeit der Ennte. Wahrscheinlich noch mehr.« Sie sah mich an, während ich immer noch still neben dem Eingang stand. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube, es waren mehr.«

»Kein Problem, Göttliche«, antwortete ich. Die Oberpriesterin sprach oft zu mir, als wäre ich eine Person. »Und Sie haben recht.«

»Göttliche«, sagte Leutnantin Awn mit besorgter Stimme. »Wenn Soldatinnen von Sieben Issa der Gerechtigkeit der Ennte — oder sonst jemand — Bürgerinnen misshandelt haben sollten …«

»Nein, nein!«, protestierte die Oberpriesterin in besorgtem Tonfall. »Die Radchaai gehen sehr umsichtig mit den Bürgerinnen um!«

Leutnantin Awns Gesicht wurde wärmer, was mir ihre Bestürzung und ihren Ärger verriet. Ich konnte zwar ihre Gedanken nicht lesen, aber ich konnte selbst ihre kleinsten Muskelzuckungen deuten, sodass ihre Emotionen wie ein offenes Buch für mich waren.

»Verzeihen Sie mir«, sagte die Oberpriesterin, obwohl sich Leutnantin Awns Miene nicht verändert hatte und ihre Haut zu dunkel war, um ihre Zornesröte zu zeigen. »Seit uns die Radchaai die Staatsbürgerschaft verliehen haben …« Sie stockte, schien ihre Worte noch einmal zu überdenken. »Seit ihrer Ankunft hat Sieben Issa mir keinen Grund zur Klage gegeben. Aber ich habe gesehen, was Ihre menschlichen Truppen während der sogenannten Annexion angerichtet haben. Die uns gewährte Staatsbürgerschaft könnte jederzeit zurückgezogen werden und …«

»Das würden wir nie …«, protestierte Leutnantin Awn.

Die Oberpriesterin unterbrach sie mit erhobener Hand. »Ich weiß, was Sieben Issa oder andere wie sie mit Personen tun, die ihrer Meinung nach auf der falschen Seite stehen. Noch vor fünf Jahren hatten wir gar keine Bürgerrechte. Und wer weiß, was die Zukunft bringt? Vielleicht sind wir dann Bürger zweiter Klasse?« Sie machte mit der Hand eine Geste der Kapitulation. »Es wird keine Rolle spielen. Solche Ausgrenzungen entstehen schnell.«

»Ich kann Ihnen nicht übelnehmen, dass Sie so denken«, sagte Leutnantin Awn. »Es war eine schwere Zeit.«

»Und ich kann nicht anders, als Sie für unerwartet und unerklärlich naiv zu halten«, sagte die Oberpriesterin. »Eins Esk würde mich sofort erschießen, sollten Sie es anordnen. Ohne zu zögern. Aber Eins Esk würde mich nie ohne Grund schlagen, erniedrigen oder vergewaltigen, nur um ihre Macht über mich zu beweisen oder eine perverse Lust zu befriedigen.« Sie sah mich an. »Nicht wahr?«

»Nein, Göttliche«, sagte ich.

»Die Soldatinnen von Issa der Gerechtigkeit der Ennte haben all das getan. Ich wurde zwar verschont, das ist wahr, wie die meisten in Ors. Doch es gab solche Vorfälle. Hätte sich Sieben Issa anders verhalten, wenn stattdessen Sie hier gewesen wären?«

Leutnantin Awn saß bestürzt da, blickte auf ihren unappetitlichen Tee und hatte dem nichts entgegenzusetzen.

»Schon seltsam. Man hört Geschichten über Hilfseinheiten, die sich wie die schrecklichsten Gräueltaten anhören, die je von den Radchaai begangen wurden. Garsedd — wohl wahr, aber Garsedd war vor tausend Jahren. Aber einfach einmarschieren und die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung gefangen nehmen? Um lebende Leichen aus ihnen zu machen, Sklaven der Künstlichen Intelligenzen Ihrer Schiffe? Gegen ihr eigenes Volk gerichtet? Hätten Sie mich gefragt, bevor Sie uns … annektierten, hätte ich gesagt, es wäre ein schlimmeres Schicksal als der Tod.« Sie wandte sich an mich. »Nicht wahr?«

»Keiner meiner Körper ist tot, Göttliche«, sagte ich. »Und Ihre Schätzung des üblichen Prozentsatzes einer annektierten Bevölkerung, die zu Hilfseinheiten gemacht wird, ist zu hoch gegriffen.«

»Ich hatte immer große Angst vor Ihnen«, sagte die Oberpriesterin zu mir. »Allein der Gedanke, Sie könnten mir zu nahe kommen, mit Ihren leblosen Gesichtern, den monotonen Stimmen, war erschreckend. Aber heute entsetzt mich die Vorstellung einer Einheit lebender, freiwillig dienender Menschen noch viel mehr. Denn ich glaube nicht, dass ich ihnen vertrauen könnte.«

»Göttliche«, sagte Leutnantin Awn mit angespannten Mundwinkeln. »Ich diene freiwillig. Und ich stehe dazu.«

»Ich halte Sie dennoch für eine gute Person, Leutnantin Awn.« Sie nahm die Tasse Tee und trank in kleinen Schlucken, als hätte sie das alles gar nicht gesagt.

Leutnantin Awns Kehle schnürte sich zusammen. Ihr lag etwas auf der Zunge, sie war sich aber nicht sicher, ob sie es aussprechen sollte. »Sie haben von Ime gehört«, sagte sie schließlich. Sie war immer noch angespannt und skeptisch, ob es richtig war, es zur Sprache zu bringen.

Die Oberpriesterin schien unangenehm berührt. »Sollten Neuigkeiten von Ime etwa das Vertrauen in die Radch-Verwaltung stärken?«

Es war Folgendes passiert: Die Station Ime sowie die kleineren Raumstationen und Monde im System waren so weit von einem Provinzpalast entfernt, wie es innerhalb des Radch-Territoriums nur möglich war. Die Gouverneurin von Ime nutzte diese Entfernung jahrelang zu ihrem eigenen Vorteil — sie veruntreute Gelder, ließ sich bestechen, erpresste Schutzgelder, kassierte bei Auftragsvergaben. Tausende von Bürgerinnen waren zu Unrecht hingerichtet oder (was im Grunde dasselbe war) gezwungen worden, als Hilfseinheiten zu dienen, obwohl die Produktion von Hilfseinheiten nicht mehr legal war. Die Gouverneurin kontrollierte sämtliche Kommunikation und Reisegenehmigungen, und normalerweise hätte die KI einer Station derartige Aktivitäten den Behörden gemeldet, doch daran wurde die Station Ime auf irgendeine Weise gehindert, sodass die Korruption überhandnahm und sich ungehindert ausbreiten konnte.

Bis eines Tages ein Schiff im System eintraf, das nur wenige Hundert Kilometer vom Patrouillenschiff Gnade der Sarrse entfernt aus dem Tor-Raum kam. Das fremde Schiff missachtete die Aufforderung, sich zu identifizieren. Als es von der Besatzung der Gnade der Sarrse angegriffen und geentert wurde, stieß man auf Dutzende von Menschen und Aliens vom Volk der Rrrrrr. Die Kapitänin der Gnade der Sarrse befahl ihren Soldatinnen, die Menschen gefangen zu nehmen, die sich als Hilfseinheiten eignen könnten, und die übrigen sowie alle Aliens zu töten. Das Schiff sollte der Gouverneurin des Systems übergeben werden.

Die Gnade der Sarrse war nicht das einzige Kriegsschiff im System, dessen Besatzung aus Menschen bestand. Bis zu jenem Zeitpunkt waren die dort stationierten menschlichen Soldatinnen durch ein System von Bestechungsgeldern, Schmeicheleien, und wenn das nichts half, Drohungen und sogar Hinrichtungen bei der Stange gehalten worden. Sehr erfolgreich bis zu jenem Moment, als sich die Soldatin Eins Amaat der Gnade der Sarrse weigerte, diese Menschen und die Rrrrrr zu töten. Und sie konnte die anderen in ihrer Einheit überzeugen, es ihr gleichzutun.

Das alles hatte sich vor fünf Jahren ereignet. Der Vorfall zeigte bis heute Wirkung.

Leutnantin Awn setzte sich auf ihrem Kissen zurecht. »Die Sache flog auf, weil eine einzige menschliche Soldatin einen Befehl missachtete. Und eine Meuterei anzettelte. Wäre sie nicht gewesen … nun ja. Hilfseinheiten tun so etwas nicht. Dazu sind sie nicht imstande.«

»Die Sache flog auf«, erwiderte die Oberpriesterin, »weil sich im Schiff, das von den menschlichen Soldatinnen geentert wurde, von ihr und dem Rest ihrer Einheit, Aliens befanden. Radchaai haben keine Skrupel, Menschen zu töten, erst recht nicht, wenn es Nicht-Bürgerinnen sind, aber Sie scheuen sich, einen Krieg gegen Aliens zu beginnen.«

Nur weil ein Krieg gegen Aliens gegen den Vertrag mit dem Alienvolk der Presger verstoßen könnte. Eine Verletzung dieser Vereinbarung konnte sehr ernsthafte Konsequenzen haben. Dennoch waren sich viele hochrangige Radchaai bei dem Thema uneinig. Ich sah, dass Leutnantin Awn gern dagegen argumentieren würde. Doch stattdessen sagte sie: »Die Gouverneurin von Ime scheute sich nicht vor dem Krieg. Sie hätte ihn angezettelt, wenn diese eine Person nicht gewesen wäre.«

»Hat man diese Person bereits exekutiert?«, fragte die Oberpriesterin spitz. Die Hinrichtung war das Schicksal jeder Soldatin, die den Befehl verweigerte oder gar eine Meuterei anstiftete.

»Das Letzte, was ich hörte, war«, sagte Leutnantin Awn mit gepresstem und flachem Atem, »dass die Rrrrrr bereit waren, sie der Radch zu übergeben.« Sie schluckte. »Ich weiß nicht, was dann geschehen wird.« Natürlich war es wahrscheinlich längst geschehen, was auch immer es war. Nachrichten von Ime erreichten Shis’urna erst nach einem Jahr oder mehr.

Die Oberpriesterin antwortete zunächst nicht. Sie schenkte sich noch etwas Tee ein und löffelte Fischpaste in eine kleine Schüssel. »Bringt Ihnen meine wiederholte Bitte, weiterhin bei uns zu bleiben, irgendwelche Nachteile?«

»Nein«, sagte Leutnantin Awn. »Die anderen Esk-Leutnantinnen sind sogar etwas neidisch. An Bord der Gerechtigkeit der Torren gibt es nichts zu tun.« Äußerlich ruhig nahm sie ihre Tasse, obwohl es in ihr brodelte. Sie war beunruhigt. Das Gespräch über die Neuigkeiten von Ime hatte ihr Unbehagen verstärkt. »Und wer etwas zu tun hat, kann auf Anerkennung und mögliche Beförderungen hoffen.« Und dies war die letzte Annexion. Die letzte Chance für eine Offizierin, durch Verbindungen zu neuen Bürgerinnen oder durch offene Aneignung ihr Haus zu bereichern.

»Das ist ein weiterer Grund, warum ich Sie vorziehe«, sagte die Oberpriesterin.

Ich folgte Leutnantin Awn nach Hause. Und beobachtete das Innere des Tempels und überwachte die Leute, die wie immer den Platz überquerten und dabei den Kindern auswichen, die in der Mitte Kau spielten und den Ball schreiend und lachend hin und her kickten. Am Ufer des Vortempelteichs saß eine Jugendliche aus der Oberstadt mürrisch und apathisch da und schaute einem halben Dutzend kleiner Kinder zu, wie sie von Stein zu Stein hüpften und sangen:

Eins, zwei, meine Tante erzählte mir

Drei, vier, von dem Leichensoldatending

Fünf, sechs, das dir ins Auge schießt

Sieben, acht, und dich töten wird

Neun, zehn, zerreiß es und flick’s wieder zusammen.

Unterwegs auf den Straßen grüßten mich die Leute, und ich grüßte zurück. Leutnantin Awn war angespannt und verärgert und nickte den im Vorbeigehen grüßenden Passanten nur abwesend zu.

Die Person, die sich über die Fischereirechte beschwert hatte, ging unbefriedigt. Zwei Kinder kamen hinter der Trennwand hervor, nachdem sie gegangen war, und hockten sich im Schneidersitz auf das Kissen, das nun frei geworden war. Beide trugen lange saubere, aber verblichene Stoffbahnen um die Taille gewickelt, jedoch keine Handschuhe. Die Ältere war etwa neun, und die leicht verwischten Symbole auf Brust und Schultern der Jüngeren deuteten an, dass sie kaum älter als sechs sein konnte. Sie sah mich stirnrunzelnd an.

Auf Orsianisch war es leichter, Kinder korrekt anzusprechen als Erwachsene. Man benutzte eine einfache geschlechtsneutrale Form. »Hallo, ihr Bürger«, sagte ich im einheimischen Dialekt. Ich kannte sie beide — sie wohnten am südlichen Rand von Ors, und ich hatte mich schon des Öfteren mit ihnen unterhalten, aber sie waren bisher noch nie ins Haus gekommen. »Was kann ich für euch tun?«

»Du bist nicht Eins Esk«, sagte die Kleinere, während die Größere eine unwirsche Geste machte, wie um sie zum Schweigen zu bringen.

»Doch, ich bin es«, sagte ich und zeigte auf das Abzeichen an meiner Uniformjacke. »Seht ihr? Nur dass dies mein Segment Nummer Vierzehn ist.«

»Hab ich doch gesagt!«, unterstrich die Ältere.

Die Jüngere überlegte kurz und sagte dann: »Ich habe ein Lied.« Ich wartete schweigend, während sie tief einatmete, als wollte sie sofort loslegen, um plötzlich leicht verwirrt innezuhalten. »Willst du es hören?«, fragte sie dann, als würde sie immer noch an meiner Identität zweifeln.

»Ja, Bürger«, sagte ich. Ich — das heißt, ich, Eins Esk — hatte anfangs zum Vergnügen einer meiner Leutnantinnen gesungen, als die Gerechtigkeit der Torren kaum die ersten hundert Jahre im Einsatz gewesen war. Sie mochte Musik und hatte im Rahmen ihres Freigepäcks ein Instrument mitgebracht. Da sie keine der anderen Leutnantinnen für ihr Hobby gewinnen konnte, brachte sie mir die Lieder bei, die sie spielte. Ich speicherte sie und suchte immer neue, um sie zu erfreuen. Als sie zur Kapitänin ihres eigenen Schiffs ernannt wurde, hatte ich eine große Sammlung von Vokalmusik zusammengetragen — mir würde nie jemand ein Instrument geben, aber ich konnte jederzeit singen —, und es ging durch die Gerüchteküche und wurde nachsichtig belächelt, dass die Gerechtigkeit der Torren eine Vorliebe für Gesang hatte. Das stimmte so nicht, denn ich — ich, die Gerechtigkeit der Torren — duldete diese Gewohnheit nur, weil sie harmlos und es durchaus möglich war, dass eine meiner Kapitäninnen Gefallen daran finden könnte. Andernfalls wäre es unterbunden worden.

Hätten mich diese Kinder auf der Straße angesprochen, wären sie weniger zurückhaltend gewesen, aber hier im Haus, wo sie wie zu einem offiziellen Gespräch dasaßen, war es anders. Und ich vermutete, dass hinter diesem Besuch eine Absicht steckte und das jüngere Kind am Ende darum bitten würde, im behelfsmäßigen Tempel des Hauses dienen zu dürfen — die Ernennung zur Blumenträgerin für Amaat stand hier in der Hochburg der Ikkt hoch im Ansehen, und die üblichen Gaben von Obst und Kleidern am Ende ihrer Dienstzeit lockten noch viel mehr. Außerdem war die beste Freundin des Kindes derzeit Blumenträgerin, was das Ganze noch viel interessanter machte.

Keine Orsai würde eine solche Bitte sofort oder direkt vorbringen, weshalb das Kind wahrscheinlich diesen indirekten Weg gewählt hatte, um bei einem zwanglosen Treffen etwas einschüchternd Formelles zu besprechen. Ich griff in meine Jackentasche, holte eine Handvoll Bonbons heraus und legte sie zwischen uns auf den Boden.

Das kleine Mädchen machte eine zustimmende Geste, als hätte ich ihr damit alle Zweifel genommen, dann atmete sie ein und begann.

Mein Herz ist ein Fisch

Der sich im Wassergras verbirgt

Im Grün, im Grün.

Die Melodie war eine seltsame Mischung aus einem Lied der Radchaai, das oft gesendet wurde, und einem aus Ors, das ich bereits kannte. Aber die Worte waren mir neu. Das Mädchen sang vier Strophen mit klarer, leicht bebender Stimme und wollte gerade zur fünften anheben, doch dann hörte sie abrupt auf, als vor der Trennwand Leutnantin Awns Schritte zu vernehmen waren.

Das kleine Mädchen beugte sich vor und griff nach der Belohnung. Die beiden Kinder verneigten sich halb im Sitzen, standen auf und rannten durch den Zugang hinaus in den größeren Teil des Hauses, an Leutnantin Awn und an mir vorbei, die nun Leutnantin Awn folgte.

»Danke, Bürger«, rief Leutnantin Awn ihnen nach. Sie erschraken, doch dann gelang es den beiden mit einer einzigen Bewegung, sich in ihre Richtung zu verneigen und auf die Straße hinauszulaufen.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte Leutnantin Awn, die sich wie die meisten nicht besonders für Musik interessierte.

»Gewissermaßen«, sagte ich. Ich sah die beiden Kinder weiter hinten auf der Straße, wie sie gerade um die Ecke eines anderen Hauses rannten. Sie wurden langsamer und hielten schwer atmend an. Das kleine Mädchen öffnete die Faust, um der Älteren die Hand voller Bonbons zu zeigen. Erstaunlicherweise hatte sie kein einziges fallen lassen, trotz der kleinen Hand und der übereilten Flucht. Das ältere Mädchen nahm ein Bonbon und schob es sich in den Mund.

Vor fünf Jahren, bevor mit den Reparaturen an der Infrastruktur des Planeten begonnen worden war, als Lieferungen noch unzuverlässig waren, hätte ich etwas Nahrhafteres angeboten. Jetzt wurde jeder Bürgerin zwar ausreichend zu essen garantiert, aber die Rationen waren nicht üppig und des Öfteren unappetitlich.

Im Innern des Tempels herrschte grün beleuchtete Stille. Die Oberpriesterin kam nicht hinter den Abschirmungen der Tempelresidenz hervor, obwohl Juniorpriesterinnen kamen und gingen. Leutnantin Awn ging in die zweite Etage ihres Hauses und setzte sich nachdenklich auf ein Kissen, wie es für Ors typisch war. Von der Straße abgeschirmt, hatte sie ihr Hemd abgeworfen. Sie lehnte den (echten) Tee ab, den ich ihr brachte. Ich übermittelte ihr und der Gerechtigkeit der Torren kontinuierlich Informationen — es war alles im grünen Bereich. »Sie sollte damit zur Distriktmagistratin gehen«, sagte Leutnantin Awn leicht gereizt über die Bürgerin mit dem Fischereikonflikt, während sie mit geschlossenen Augen die Berichte des Nachmittags im Blickfeld hatte. »Dafür sind wir nicht zuständig.« Ich antwortete nicht. Es war weder eine Antwort erforderlich noch wurde eine erwartet. Mit einem schnellen Fingerzucken akzeptierte sie die Nachricht, die ich für die Distriktmagistratin zusammengestellt hatte, und öffnete dann die allerneueste Nachricht von ihrer jungen Schwester. Leutnantin Awn schickte einen Teil ihres Einkommens zu ihren Eltern nach Hause, die davon ihrem jüngeren Kind den Unterricht in Dichtkunst finanzierten. Die Dichtkunst war eine wertvolle Errungenschaft der Zivilisation. Ich konnte nicht beurteilen, ob Leutnantin Awns Schwester besonders begabt war, aber das waren auch in besseren Familien ohnehin nur wenige. Jedenfalls erfreuten ihre Arbeit und ihre Briefe Leutnantin Awn und linderten ihren gegenwärtigen Kummer.

Die Kinder auf dem Platz rannten lachend nach Hause. Die Jugendliche seufzte schwer, wie es für ihr Alter typisch war, warf einen Kieselstein ins Wasser und starrte auf die Wellen.

Hilfseinheiten, die nur für Annexionen aktiviert wurden, trugen oft nichts außer einem Schutzschild, der von einem Implantat im jeweiligen Körper generiert wurde — Reihen gesichtsloser Soldatinnen, die aussahen, als wären sie aus Quecksilber gegossen. Nur ich hielt mich ständig außerhalb der Frachträume auf und trug jetzt, nachdem die Kampfhandlungen vorbei waren, die gleiche Uniform wie eine menschliche Soldatin. Meine Körper schwitzten unter den Uniformjacken, und ich öffnete gelangweilt drei meiner Münder, alle nahe beieinander auf dem Platz des Tempels, und sang mit diesen drei Stimmen: »Mein Herz ist ein Fisch, der sich im Wassergras verbirgt …« Eine Passantin starrte mich erstaunt an, während alle anderen mich ignorierten — sie hatten sich inzwischen an mich gewöhnt.

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