Als Seivarden erwachte, war sie unruhig und gereizt. Sie fragte mich zweimal, wer ich war, und beschwerte sich dreimal, dass meine Antwort — die in jedem Fall eine Lüge war — keine sinnvolle Information für sie enthielt. »Ich kenne niemanden namens Breq. Ich habe Sie nie zuvor gesehen. Wo bin ich?«
An einem Ort ohne Namen. »Sie sind auf Nilt.«
Sie zog eine Decke um ihre bloßen Schultern, um sie dann mürrisch wieder abzuschütteln und die Arme vor der Brust zu verschränken. »Ich habe noch nie von Nilt gehört. Wie bin ich hier gelandet?«
»Ich habe keine Ahnung.« Ich stellte das Essen, das ich in der Hand gehalten hatte, vor ihr auf dem Boden ab.
Sie griff wieder nach der Decke. »Das will ich nicht.«
Ich antwortete mit einer gleichgültigen Geste. Ich hatte gegessen und mich ausgeruht, während sie geschlafen hatte. »Passiert Ihnen so etwas häufiger?«
»Was?«
»Dass Sie aufwachen und feststellen, dass Sie nicht wissen, wo Sie sind, mit wem Sie zusammen sind oder wie Sie an diesen Ort gelangt sind?«
Sie zog sich unruhig die Decke über und wieder ab und rieb die Arme und Handgelenke aneinander. »Einige Male.«
»Ich bin Breq von der Gerentate.« Ich hatte es ihr bereits gesagt, aber mir war klar, dass sie mich erneut danach fragen würde. »Ich habe Sie vor zwei Tagen vor einem Gasthaus gefunden. Ich weiß nicht, wie Sie dorthin gekommen sind. Sie wären gestorben, wenn ich Sie liegen gelassen hätte. Ich möchte mich entschuldigen, falls Ihnen das lieber gewesen wäre.«
Aus irgendeinem Grund machte sie das wütend. »Wie furchtbar charmant von Ihnen, Breq von der Gerentate.« Dabei grinste sie mit leichtem Spott. Es war auf irrationale Weise überraschend, diesen Tonfall von ihr zu hören, nackt und derangiert, wie sie war, und nicht in Uniform.
Dieser Tonfall ärgerte mich. Ich wusste sehr genau, warum ich verärgert war, und genauso wusste ich, dass Seivarden, wenn ich es wagen würde, ihr den Grund für meine Verärgerung zu erklären, lediglich mit Verachtung reagieren würde, was mich noch mehr verärgern würde. Ich wahrte den neutralen, leicht interessierten Gesichtsausdruck, den ich ihr gezeigt hatte, seit sie aufgewacht war, und reagierte mit der gleichen indifferenten Geste wie wenige Augenblicke zuvor.
Ich war das allererste Schiff gewesen, in dem Seivarden gedient hatte. Sie war frisch aus der Ausbildung gekommen, siebzehn Jahre alt, und wurde mitten in die Endphase einer Annexion geworfen. In einem Tunnel, den man durch rotbraunes Gestein unter der Oberfläche eines kleinen Mondes gegraben hatte, wurde ihr befohlen, insgesamt neunzehn Gefangene zu bewachen, die in einer Reihe nackt und zitternd in der Kälte hockten und darauf warteten, evaluiert zu werden.
Eigentlich führte ich die Bewachung durch, zu siebt mit schussbereiten Waffen im Tunnel aufgereiht. Seivarden war damals noch sehr jung gewesen, schlank, mit dunklem Haar und brauner Haut und braunen, unscheinbaren Augen, ganz anders als die aristokratischen Züge ihres Gesichts, einschließlich einer Nase, in die sie noch nicht ganz hineingewachsen war. Ja, sie war nervös, weil man ihr hier nur wenige Tage nach ihrer Ankunft die Verantwortung übergeben hatte, aber auch stolz auf sich und ihre unverhoffte kleine Autorität. Stolz auf die dunkelbraune Uniformjacke, die Hosen, die Handschuhe, die Abzeichen einer Leutnantin. Und, wie ich dachte, ein wenig zu aufgeregt, weil sie eine echte Waffe trug, in einer Situation, die auf gar keinen Fall eine Übung im Rahmen einer Ausbildung war.
Eine der Personen an der Tunnelwand — breitschultrig, muskulös — drückte sich einen gebrochenen Arm an den Oberkörper, weinte geräuschvoll, stöhnte bei jedem Ausatmen, keuchte bei jedem Einatmen. Sie wusste genauso wie alle anderen in der Reihe, dass es zwei Möglichkeiten gab. Entweder wurden sie für die künftige Verwendung als Hilfseinheiten eingelagert, so wie meine Hilfseinheiten, die in diesem Moment vor ihnen standen — ohne Identität, die Körper ein Anhängsel eines Radchaai-Kriegsschiffs —, oder sie wurden entsorgt.
Seivarden marschierte wichtigtuerisch vor der Reihe auf und ab und reagierte immer gereizter auf jeden krampfhaften Atemzug der bedauernswerten Gefangenen, bis sie schließlich vor ihr stehen blieb. »Bei Aatrs Titten! Hören Sie mit dem Lärm auf!« Die leichten Bewegungen von Seivardens Armmuskeln verrieten mir, dass sie gleich die Waffe heben würde. Es hätte niemanden interessiert, wenn sie die Gefangene mit dem Gewehrkolben bewusstlos geschlagen hätte. Es hätte niemanden interessiert, wenn sie der Gefangenen in den Kopf geschossen hätte, solange dabei keine wichtige Ausrüstung beschädigt wurde. Menschliche Körper, die sich als Hilfseinheiten verwenden ließen, waren nicht gerade eine knappe Ressource.
Ich trat vor sie. »Leutnantin«, sagte ich tonlos. »Der Tee, den Sie bestellt haben, ist bereit.« In Wirklichkeit war er schon seit fünf Minuten fertig gewesen, aber ich hatte bislang nichts gesagt, es mir aufgehoben.
In den Werten, die ich von dieser schrecklich jungen Leutnantin Seivarden empfing, erkannte ich Erschrecken, Frustration, Verärgerung. Gereiztheit. »Das war vor fünfzehn Minuten«, gab sie zurück. Ich antwortete nicht. Die Gefangene hinter mir schluchzte und stöhnte immer noch. »Können Sie sie irgendwie zum Schweigen bringen?«
»Ich werde mein Bestes tun, Leutnantin«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass es im Grunde nur eine Möglichkeit gab, diese wimmernde Gefangene zum Schweigen zu bringen. Die frisch gebackene Leutnantin Seivarden schien sich dessen nicht bewusst zu sein.
Einundzwanzig Jahre nach ihrer Ankunft an Bord der Gerechtigkeit der Torren — und etwas über tausend Jahre, bevor ich sie im Schnee fand — war Seivarden die führende Esk-Leutnantin. Mit achtunddreißig und immer noch recht jung nach Radchaai-Maßstäben. Eine Bürgerin konnte etwa zweihundert Jahre lang leben.
An ihrem letzten Tag trank sie Tee, während sie auf ihrer Koje in ihrem Quartier saß, drei mal zwei mal zwei Meter groß, mit weißen Wänden, penibel sauber. Inzwischen war sie in die aristokratische Nase hineingewachsen, war ausgewachsen. Nicht mehr ungeschickt oder unsicher.
Neben ihr auf der ordentlich gemachten Koje saß die jüngste Leutnantin dieser Esk-Dekade, die erst vor wenigen Wochen eingetroffen war, so etwas wie eine Cousine von Seivarden, wenn auch aus einem anderen Haus. Größer als Seivarden in diesem Alter, breiter, etwas anmutiger. Die meiste Zeit. Sie war nervös, weil sie aufgefordert worden war, sich hier unter vier Augen mit der vorgesetzten Leutnantin zu beraten, ob nun eine Cousine oder nicht, aber sie konnte es gut kaschieren. Seivarden sagte zu ihr: »Sie sollten vorsichtig sein, Leutnantin, wem Sie Ihre … Aufmerksamkeit schenken.«
Die sehr junge Leutnantin runzelte beschämt die Stirn, als ihr plötzlich bewusst wurde, worum es ging.
»Sie wissen, wen ich meine«, fuhr Seivarden fort, und auch ich wusste es. Eine der anderen Esk-Leutnantinnen hatte es definitiv bemerkt, als die sehr junge Leutnantin an Bord gekommen war, hatte langsam und diskret die Möglichkeit ausgelotet, ob die sehr junge Leutnantin vielleicht auch sie bemerken würde. Aber nicht so diskret, dass Seivarden es nicht gesehen hätte. Sogar der gesamte Dekadenraum hatte es gesehen, ebenso wie die faszinierte Reaktion der sehr jungen Leutnantin.
»Ich weiß, wen Sie meinen«, sagte die sehr junge Leutnantin. Indigniert. »Aber ich verstehe nicht, warum …«
»Ah!«, sagte Seivarden streng und entschieden. »Sie glauben, es wäre ein harmloser Spaß. Nun, wahrscheinlich wäre es wirklich ein Spaß.« Seivarden hatte selbst vor einiger Zeit mit der fraglichen Leutnantin geschlafen und wusste somit, wovon sie sprach. »Aber es wäre nicht harmlos. Sie ist eine recht gute Offizierin, aber ihr Haus ist sehr provinziell. Wenn sie nicht Ihre Vorgesetzte wäre, würde es kein Problem darstellen.«
Das Haus der sehr jungen Leutnantin war definitiv nicht »sehr provinziell«. Trotz ihrer Naivität war ihr sofort klar, was Seivarden meinte. Und sie war deswegen wütend genug, um Seivarden auf eine Weise anzusprechen, die weniger förmlich war, als es der Anstand geboten hätte. »Bei Aatrs Titten, Cousine, niemand hat etwas von einer Klientinnenschaft gesagt. Niemand von uns könnte das, niemand von uns kann Verträge abschließen, bevor wir im Ruhestand sind.« Unter den Reichen war eine Klientinnenschaft eine sehr hierarchische Beziehung — eine Patronin versprach ihrer Klientin bestimmte Arten von Unterstützung, sowohl finanzieller als auch gesellschaftlicher Natur, und eine Klientin assistierte und diente ihrer Patronin. Solche Versprechen konnten Generationen überdauern. Zum Beispiel waren in den ältesten und renommiertesten Häusern fast alle Dienerinnen die Abkömmlinge von Klientinnen, und das Personal vieler Unternehmen, die reichen Häusern gehörten, bestand aus Klientinnen, die dem gleichen Familienzweig eines geringeren Hauses entstammten.
»Diese provinziellen Häuser sind sehr ambitioniert«, erklärte Seivarden in leicht herablassendem Tonfall. »Und sehr geschickt, weil sie sonst kaum so weit gekommen wären. Sie hat eine höhere Stellung als Sie, und Sie beide haben noch viele Dienstjahre vor sich. Wenn Sie ihr unter diesen Bedingungen Intimität gestatten, die Beziehung fortsetzen und sich darauf stützen, wird sie irgendwann Ihnen die Klientinnenschaft anbieten, obwohl es eigentlich andersherum sein sollte. Ich glaube kaum, dass Ihre Mutter es Ihnen danken würde, wenn Sie Ihr Haus einem derartigen Affront aussetzen.«
Das Gesicht der sehr jungen Leutnantin erhitzte sich vor Wut und Verdruss, als plötzlich der Glanz ihrer ersten erwachsenen Romanze verblasste und sich die Sache in etwas Schäbiges und Berechnendes verwandelte.
Seivarden beugte sich vor, griff nach der Teekanne und hielt dann mit unvermittelter Verärgerung inne. Mit einem Zucken der Finger ihrer freien Hand teilte sie mir lautlos mit: »Dieser Ärmel ist schon seit drei Tagen eingerissen.«
Ich antwortete ihr direkt ins Ohr: »Das tut mir leid, Leutnantin.« Ich hätte ihr anbieten sollen, die Reparatur unverzüglich durchzuführen, hätte ein Segment von Eins Esk beauftragen sollen, das fehlerhafte Hemd abzuholen. Eigentlich hätte ich mich sogar schon vor drei Tagen darum kümmern sollen. Ich hätte sie an diesem Tag nicht dieses Hemd anziehen lassen sollen.
Stille im engen Quartier, die sehr junge Leutnantin immer noch mit ihrer peinlichen Situation beschäftigt. Dann sagte ich, wieder direkt in Seivardens Ohr: »Leutnantin, die Dekaden-Kommandantin möchte Sie sprechen, sobald Sie verfügbar sind.«
Ich hatte gewusst, dass die Beförderung anstand. Hatte Genugtuung wegen der Tatsache empfunden, dass ich, selbst wenn sie mir in diesem Moment befohlen hätte, den Ärmel zu reparieren, keine Zeit gehabt hätte, es zu tun. Sobald sie ihr Quartier verlassen hatte, begann ich damit, ihre Sachen zusammenzupacken, und drei Stunden später war sie auf dem Weg zu ihrem neuen Posten, als frischgebackene Kapitänin der Schwert der Nathtas. Es tat mir nicht besonders leid, dass sie ging.
So kleine Dinge. Es war nicht Seivardens Schuld, dass sie unklug in einer Situation reagiert hatte, die nur wenige (wenn überhaupt irgendwelche) Siebzehnjährige souverän hätten bewältigen können. Es war kaum überraschend, dass sie sich genauso versnobt verhielt, wie sie erzogen worden war. Es war nicht ihre Schuld, dass ich im Laufe meiner (zu jener Zeit) tausend Jahre währenden Existenz verstanden hatte, Befähigung höher wertzuschätzen als Herkunft. Und ich hatte mehr als ein »sehr provinzielles« Haus erlebt, das hoch genug aufgestiegen war, um dieses Etikett zu verlieren und selbst Abkömmlinge wie Seivarden hervorzubringen.
All die Jahre zwischen der jungen Leutnantin Seivarden und der Kapitänin Seivarden bestanden aus winzigen Momenten. Kleinen Dingen. Ich hatte Seivarden nie gehasst. Ich hatte sie einfach nur nie besonders gemocht. Aber ich konnte sie jetzt nicht betrachten, ohne an eine andere Person zu denken.
Die folgende Woche in Strigans Haus war unangenehm. Seivarden musste ständig betreut und regelmäßig gesäubert werden. Sie aß nur wenig (was in gewisser Hinsicht gut so war), und ich musste dafür sorgen, dass sie nicht dehydrierte. Doch am Ende der Woche behielt sie ihr Essen im Magen und schlief wenigstens zeitweilig. Trotzdem war ihr Schlaf leicht, sie zuckte und drehte sich, zitterte oft, atmete schwer und wachte plötzlich auf. Wenn sie wach war und nicht weinte, beklagte sie sich, dass alles zu schroff, zu grob, zu laut und zu hell war.
Noch ein paar Tage später, als sie dachte, ich würde schlafen, öffnete sie die Außentür und starrte hinaus in den Schnee. Dann zog sie sich die Kleidung und einen Mantel an und stapfte zum Nebengebäude und schließlich zum Flieger. Sie versuchte ihn zu starten, aber ich hatte ein wichtiges Bauteil entfernt, das ich in meiner Nähe aufbewahrte. Als sie ins Haus zurückkehrte, besaß sie zumindest die Geistesgegenwart, beide Türen zu schließen, bevor sie Schnee in den Hauptraum brachte, wo ich auf einer Bank saß und Strigans Saiteninstrument in den Händen hielt. Sie starrte mich an, ohne ihre Überraschung verbergen zu können, die Schultern immer noch leicht hochgezogen, im schweren, unbequemen Mantel, nervös.
»Ich möchte gehen«, sagte sie in einem seltsamen Tonfall, der halb eingeschüchtert, halb nach einer arroganten Radchaai-Befehlshaberin klang.
»Wir brechen auf, sobald ich bereit bin«, sagte ich und zupfte ein paar Töne auf dem Instrument. Ihre Emotionen waren noch zu frisch, als dass sie sie in diesem Moment hätte verbergen können, und ihre Wut und Verzweiflung zeigten sich deutlich in ihrem Gesicht. »Dass Sie sich hier befinden«, sagte ich in gleichmäßigem Tonfall, »ist das Ergebnis von Entscheidungen, die Sie selbst getroffen haben.«
Sie richtete ihr Rückgrat auf, zog die Schultern zurück. »Sie wissen gar nichts über mich oder irgendwelche Entscheidungen, die ich getroffen oder nicht getroffen habe.«
Es genügte, um mich wieder wütend zu machen. Mit Entscheidungen kannte ich mich recht gut aus. »Ah, ich vergaß. Alles geschieht nach Amaats Willen, und nichts ist Ihre Schuld.«
Sie riss die Augen weit auf. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hielt sich dann zurück und atmete stattdessen plötzlich und zitternd aus. Sie drehte sich um, vorgeblich, um den Mantel auszuziehen und ihn auf eine Bank zu werfen. »Das verstehen Sie nicht«, sagte sie verächtlich, doch in ihrer Stimme zitterten unterdrückte Tränen. »Sie sind nicht Radchaai.«
Nicht zivilisiert. »Wann haben Sie angefangen, Kef zu nehmen? Bevor oder nachdem Sie die Radch verlassen haben?« Eigentlich sollte es auf dem Radchaai-Hoheitsgebiet gar nicht verfügbar sein, aber es gab immer irgendeine kleine Schmugglerbasis, die von den Behörden mehr oder weniger absichtlich übersehen wurde.
Sie ließ sich auf die Bank neben der fallen, auf der ihr achtlos hingeworfener Mantel lag. »Ich will Tee.«
»Hier gibt es keinen Tee.« Ich legte das Instrument beiseite. »Es gibt nur Milch.« Genauer gesagt, handelte es sich um fermentierte Bov-Milch, die von den Einheimischen mit Wasser verdünnt und warm getrunken wurde. Der Geruch — und der Geschmack — erinnerte an durchgeschwitzte Stiefel. Und zu viel davon würde Seivarden vermutlich leichte Übelkeit bereiten.
»Wie kann es sein, dass es hier keinen Tee gibt?«, wollte sie wissen, aber sie beugte sich vor, mit den Ellbogen auf den Knien, und legte die Stirn auf ihre Handgelenke, die bloßen Hände mit der Innenfläche nach oben und die Finger ausgestreckt.
»Es kann sein«, antwortete ich. »Warum haben Sie Kef genommen?«
»Das würden Sie nicht verstehen.« Tränen fielen ihr in den Schoß.
»Stellen Sie mich auf die Probe.« Ich hob das Instrument wieder auf und zupfte eine Melodie.
Nachdem sie sechs Sekunden lang stumm geweint hatte, sagte Seivarden: »Sie sagte, es würde alles viel klarer machen.«
»Das Kef?« Keine Antwort. »Was sollte klarer werden?«
»Ich kenne dieses Lied«, sagte sie, das Gesicht immer noch auf die Hände gestützt. Mir wurde klar, dass dies wahrscheinlich die einzige Möglichkeit war, wie sie mich wiedererkennen konnte, und wechselte zu einer anderen Melodie. In einer Region von Valskaay war Singen ein kultivierter Zeitvertreib, und einheimische Chorgruppen waren das Zentrum gesellschaftlicher Aktivitäten. Durch diese Annexion hatte ich Zugang zu einer großen Menge der Art von Musik gefunden, die mir am besten gefiel, als ich noch mehr als nur eine Stimme gehabt hatte. Aus diesem Repertoire wählte ich ein Stück. Seivarden konnte es nicht kennen. Valskaay war sowohl vor als auch nach ihrer Zeit gewesen.
»Sie sagte«, antwortete Seivarden schließlich und löste das Gesicht von den Händen, »dass Emotionen die Wahrnehmung trüben. Dass die reine Vernunft die klarste Sicht bietet, ohne durch Gefühle verzerrt zu werden.«
»Das ist nicht wahr.« Ich hatte eine Woche mit diesem Instrument verbracht und nur wenig anderes zu tun gehabt. Ich schaffte zwei Melodielinien gleichzeitig.
»Zu Anfang schien es wahr zu sein. Zu Anfang war es wunderbar. Alles fiel von mir ab. Aber dann nutzte es sich ab, und alles war wieder genauso wie zuvor. Nur schlimmer. Und nach einer Weile fühlte es sich schlecht an, nichts zu fühlen. Ich weiß nicht. Ich kann es nicht beschreiben. Aber wenn ich mehr nahm, verschwand das wieder.«
»Und das Herunterkommen wurde von Mal zu Mal etwas unerträglicher.« Ich hatte diese Geschichte während der letzten zwanzig Jahre schon einige Male gehört.
»Oh, bei Amaats Gnade«, stöhnte sie. »Ich will sterben.«
»Warum tun Sie es nicht?« Ich spielte ein anderes Lied. Mein Herz ist ein Fisch, der sich im Wassergras verbirgt. Im Grün, im Grün …
Sie sah mich an, als wäre ich ein Stein, der plötzlich zu ihr gesprochen hatte.
»Sie haben Ihr Schiff verloren«, sagte ich. »Sie waren tausend Jahre lang eingefroren. Als Sie aufwachten, hatte sich die Radch verändert — keine Invasionen mehr, ein demütigender Vertrag mit den Presger, Ihr Haus hat den finanziellen und sozialen Status verloren. Niemand kennt Sie oder erinnert sich an Sie oder interessiert sich dafür, ob Sie leben oder tot sind. Es ist weder das, was Sie gewohnt waren, noch das, was Sie von Ihrem Leben erwartet haben, nicht wahr?«
Es dauerte drei überraschte Sekunden, bis es ihr dämmerte. »Sie wissen, wer ich bin.«
»Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Sie haben es mir gesagt«, log ich.
Sie blinzelte unter Tränen und schien zu versuchen, sich zu erinnern, ob sie es wirklich getan hatte. Aber ihre Erinnerungen waren natürlich unvollständig.
»Gehen Sie schlafen«, sagte ich und legte die Finger über die Saiten, um sie zum Verstummen zu bringen.
»Ich will gehen«, protestierte sie, ohne sich zu rühren, immer noch in sich zusammengesackt auf der Bank sitzend, die Ellbogen auf den Knien. »Warum kann ich nicht gehen?«
»Ich habe hier Dinge zu erledigen«, erklärte ich ihr.
Sie verzog spöttisch die Lippen. Sie hatte natürlich recht. Hier zu warten war dumm. Nach so vielen Jahren, nach so viel Planung und Mühe hatte ich versagt.
Trotzdem. »Gehen Sie wieder ins Bett.« Das Bett war der Haufen aus Kissen und Decken neben der Bank, auf der sie saß. Sie sah mich an, immer noch verächtlich und mit leichtem Hohn, dann ließ sie sich auf den Boden gleiten, legte sich hin und zog sich eine Decke über den Körper. Ich war mir sicher, dass sie zuerst gar nicht schlafen wollte. Sie würde überlegen, wie sie verschwinden konnte, wie sie mich überwältigen oder überreden konnte, das zu tun, was sie wollte. Natürlich war jede derartige Planung sinnlos, solange sie noch gar nicht wusste, was sie wollte, aber ich sprach es nicht aus.
Nach weniger als einer Stunde erschlafften ihre Muskeln, und ihr Atem ging langsamer. Wäre sie immer noch meine Leutnantin gewesen, hätte ich mit Sicherheit gewusst, dass sie schlief, in welcher Schlafphase sie sich befand und ob sie träumte oder nicht. Jetzt konnte ich nur die Äußerlichkeiten sehen.
Immer noch misstrauisch setzte ich mich auf den Boden, lehnte mich gegen eine andere Bank und zog mir eine Decke über die Beine. Wie ich es jedes Mal getan hatte, seit ich hier schlief, öffnete ich meinen inneren Mantel und legte eine Hand auf meine Waffe. Dann lehnte ich mich zurück und schloss die Augen.
Zwei Stunden später wurde ich von einem leisen Geräusch geweckt. Ich blieb reglos liegen, die Hand immer noch an der Waffe. Das Geräusch wiederholte sich, ein wenig lauter. Die zweite Tür wurde geschlossen. Ich öffnete die Augen ein winziges Stück. Seivarden lag viel zu still da — sie musste das Geräusch ebenfalls gehört haben.
Durch meine Augenwimpern sah ich eine Person in Außenkleidung. Knapp zwei Meter groß, schlank unter dem dicken doppelten Mantel, mit eisengrauer Haut. Als sie ihre Kapuze zurückschlug, sah ich, dass ihr Haar die gleiche Farbe hatte. Sie war auf gar keinen Fall eine Nilter.
Sie stand da und beobachtete Seivarden und mich sieben Sekunden lang, dann kam sie leise zu mir herüber und bückte sich, um mit einer Hand meinen Rucksack wegzuziehen. In der anderen Hand hielt sie eine Waffe, die auf mich gerichtet war, obwohl sie nicht zu wissen schien, dass ich wach war.
Das Schloss machte sie für einen Moment ratlos, bis sie ein Werkzeug aus der Tasche zog. Damit überlistete sie das Schloss ein wenig schneller, als ich erwartet hatte. Sie zielte weiter mit der Waffe auf mich und warf einen gelegentlichen Blick auf die immer noch reglose Seivarden, während sie meinen Rucksack leerte.
Kleidung zum Wechseln. Munition, aber keine Waffe. Also musste sie vermuten oder sich sicher sein, dass ich bewaffnet war. Drei in Folie verpackte Rationen Konzentratnahrung. Besteck und eine Flasche für Wasser. Eine goldene Scheibe mit fünf Zentimetern Durchmesser und anderthalb Zentimeter dick, die sie mit gerunzelter Stirn betrachtete und dann weglegte. Eine Schachtel, die sie öffnete, um darin Geld zu finden. Sie stieß ein erstauntes Keuchen aus, als ihr klar wurde, wie viel es war, und blickte dann zu mir. Ich rührte mich nicht. Ich wusste nicht, was sie gesucht hatte, aber sie schien es nicht gefunden zu haben, was auch immer es war.
Sie hob die Scheibe wieder auf und setzte sich auf eine Bank, von der aus sie mich und Seivarden gut im Auge behalten konnte. Dann drehte sie die Scheibe um und fand den Auslöser. Die Seiten klappten auf, das Ganze öffnete sich wie eine Blume, und der Mechanismus ließ die Ikone herausspringen, eine Person, die bis auf kurze Hosen und winzige Blüten aus Edelsteinen und Emaille nackt war. Das Bildnis lächelte abgeklärt. Sie hatte vier Arme. In einem hielt sie einen Ball, der andere Arm war von einem zylindrischen Armschutz umschlossen. Die weiteren Hände hielten ein Messer und einen abgetrennten Kopf, von dem Edelsteinblut auf ihre bloßen Füße tropfte. Der Kopf zeigte das gleiche Lächeln tiefer spiritueller Gelassenheit wie sie.
Strigan — es musste Strigan sein — runzelte die Stirn. Die Ikone war eine Überraschung. Sie hatte ihre Neugier noch weiter angestachelt.
Ich öffnete die Augen. Sie fasste die Waffe fester — die Waffe, die ich mir nun so genau wie möglich ansah, nachdem ich die Augen ganz geöffnet hatte und ich ihr nun den Kopf zuwenden konnte.
Strigan hielt mir die Ikone hin und zog eine stahlgraue Augenbraue hoch. »Eine Verwandte?«, fragte sie auf Radchaai.
Ich wahrte eine ansprechende neutrale Miene. »Nicht ganz«, antwortete ich in ihrer Sprache.
»Ich dachte, ich wüsste, was Sie sind, als Sie kamen«, sagte sie nach längerem Schweigen, dankbar, dass ich die Sprache gewechselt hatte. »Ich dachte, ich wüsste, was Sie hier tun. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Sie warf einen Blick zu Seivarden, die allem Anschein nach nicht im Geringsten durch unser Gespräch gestört wurde. »Ich glaube zu wissen, wer er ist. Aber wer sind Sie? Was sind Sie? Erzählen Sie mir nichts von Breq von der Gerentate. Sie sind genauso eine Radchaai wie dieser da.« Sie deutete vorsichtig mit dem Ellbogen auf Seivarden.
»Ich bin hierhergekommen, um etwas zu kaufen«, sagte ich, fest entschlossen, nicht auf die Waffe in ihrer Hand zu starren. »Er ist nebensächlich.« Da wir kein Radchaai sprachen, musste ich das Geschlecht berücksichtigen, weil Strigans Sprache es verlangte. Die Gesellschaft, in der sie lebte, bekundete gleichzeitig die Überzeugung, dass Geschlecht unbedeutend war. Männer und Frauen kleideten sich, sprachen und handelten ununterscheidbar. Doch ich war bisher keiner Person begegnet, die in dieser Hinsicht jemals gezögert oder falsch geraten hätte. Und sie hatten ausnahmslos beleidigt reagiert, wenn ich gezögert oder falsch geraten hatte. Ich hatte den Trick noch nicht gelernt. Ich war in Strigans Wohnung gewesen, hatte ihren Besitz gesehen und war mir immer noch nicht sicher, welche Formen ich bei ihr benutzen sollte.
»Nebensächlich?«, fragte Strigan ungläubig. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich selbst hätte es nicht geglaubt, nur dass ich wusste, dass es die Wahrheit war. Strigan sagte nichts mehr, wahrscheinlich weil ihr klar wurde, dass jedes weitere Wort eine große Dummheit sein konnte, wenn ich das war, was sie befürchtete.
»Ein Zufall«, sagte ich und war zumindest in diesem Punkt froh, dass wir kein Radchaai sprachen, weil das Wort dort Bedeutung implizierte. »Ich habe ihn bewusstlos aufgefunden. Wenn ich ihn liegen gelassen hätte, wäre er gestorben.« Auch das glaubte Strigan mir nicht, ihrem Blick nach zu urteilen. »Warum sind Sie hier?«
Sie lachte, kurz und verbittert, aber ich war mir nicht sicher, ob ich das falsche Geschlecht für das Anredepronomen gewählt hatte oder aus einem anderen Grund. »Ich denke, dass ich diese Frage stellen sollte.«
Wenigstens hatte sie nicht meine Grammatik korrigiert. »Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden. Um etwas zu kaufen. Seivarden war verletzt. Sie waren nicht da. Ich werde Ihnen natürlich bezahlen, was wir gegessen haben.«
Aus irgendeinem Grund schien sie das zu amüsieren. »Warum sind Sie hier?«, fragte sie.
»Ich bin allein«, beantwortete ich ihre unausgesprochene Frage. »Abgesehen von ihm.« Ich nickte zu Seivarden. Meine Hand lag immer noch an meiner Waffe, und Strigan war vermutlich klar, warum ich diese Hand unter meinem Mantel so ruhig hielt. Seivarden tat weiterhin so, als würde sie schlafen.
Ungläubig schüttelte Strigan langsam den Kopf. »Ich hätte geschworen, Sie wären eine Leichensoldatin.« Eine Hilfseinheit, meinte sie. »Als Sie eintrafen, war ich mir dessen ganz sicher.« Also hatte sie sich in der Nähe versteckt und darauf gewartet, dass wir gingen, und das gesamte Gebäude war von ihr überwacht worden. Sie musste ein übermäßiges Vertrauen in ihr Versteck gehabt haben, denn falls ich wirklich das gewesen wäre, was sie befürchtete, wäre es äußerst dumm gewesen, sich irgendwo in der Nähe aufzuhalten. Ich hätte sie mit Sicherheit aufgespürt. »Aber als Sie sahen, dass hier niemand war, weinten Sie. Und er …« Sie blickte mit einem Schulterzucken zu Seivarden, die entspannt und reglos auf der Pritsche lag.
»Setzen Sie sich auf, Bürgerin«, sagte ich auf Radchaai zu Seivarden. »Sie können niemanden täuschen.«
»Sie können mich mal«, erwiderte sie und zog sich eine Decke über den Kopf. Dann schüttelte sie sie wieder ab und erhob sich, leicht zitternd. Sie ging zur sanitären Einrichtung und schloss die Tür.
Ich wandte mich wieder Strigan zu. »Diese Sache mit dem gemieteten Flieger. Waren Sie das?«
Sie zuckte reumütig mit den Schultern. »Er sagte mir, zwei Radchaai würden auf diesem Weg hierherkommen. Entweder hat er Sie schwer unterschätzt, oder Sie sind noch viel gefährlicher, als ich dachte.«
Was dann beträchtlich gefährlich wäre. »Ich bin es gewohnt, unterschätzt zu werden. Und Sie haben ihr … ihm nicht gesagt, warum Sie dachten, ich würde kommen.«
Ihre Waffe hatte sich nicht bewegt. »Warum sind Sie hier?«
»Sie wissen, warum ich hier bin.« Eine schnelle Veränderung ihres Ausdrucks, sofort wieder unterdrückt. Ich fuhr fort. »Nicht, um Sie zu töten. Sie zu töten wäre unzweckmäßig.«
Sie zog eine Augenbraue hoch und neigte leicht den Kopf. »Tatsächlich?«
Die Ausflüchte und Finten frustrierten mich. »Ich will die Waffe.«
»Welche Waffe?« Strigan wäre niemals so dumm zuzugeben, dass das Ding existierte, dass sie wusste, von welcher Waffe ich sprach. Aber ihre vorgetäuschte Unwissenheit überzeugte mich nicht. Und es war ihr bewusst. Wenn sie das hatte, wovon ich überzeugt war, wofür ich mein Leben verwettet hätte, waren genauere Angaben überflüssig. Sie wusste es.
Ob sie sie mir geben würde, war eine ganz andere Frage. »Ich werde Sie dafür bezahlen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Die Garseddai haben alles in Fünfergruppen aufgeteilt. Fünf richtige Handlungen, fünf Hauptsünden, fünf Zonen mal fünf Regionen. Fünfundzwanzig Repräsentantinnen, die vor der Herrin der Radch kapitulierten.«
Drei Sekunden lang blieb Strigan völlig still. Sie schien sogar die Atmung eingestellt zu haben. Dann sprach sie. »Garsedd? Was hat das mit mir zu tun?«
»Ich hätte es niemals erraten, wenn Sie geblieben wären, wo Sie waren.«
»Garsedd ist tausend Jahre her und sehr, sehr weit von hier entfernt.«
»Fünfundzwanzig Repräsentantinnen, die vor der Herrin der Radch kapitulierten«, wiederholte ich. »Und vierundzwanzig Waffen, die gefunden oder anderweitig nachgewiesen wurden.«
Sie blinzelte, sog den Atem ein. »Wer sind Sie?«
»Jemand floh. Jemand verließ das System, bevor die Radchaai eintrafen. Vielleicht befürchtete sie, die Waffen würden nicht so funktionieren wie behauptet. Vielleicht wusste sie, dass es ihr selbst dann nichts nützen würde.«
»Im Gegenteil, nicht wahr? War das nicht der eigentliche Punkt? Niemand widersetzt sich Anaander Mianaai.« Sie klang verbittert. »Niemand, der weiterleben möchte.«
Ich sagte nichts.
Strigan hielt die Waffe völlig ruhig. Trotzdem drohte ihr Gefahr von mir, sollte ich beschließen, ihr Schaden zuzufügen, und ich glaube, das war ihr bewusst. »Ich weiß nicht, warum Sie glauben, ich hätte diese Waffe, von der Sie reden. Warum sollte ich sie haben?«
»Sie sammeln Antiquitäten, Kuriositäten. Sie hatten bereits eine kleine Sammlung von Garseddai-Artefakten. Sie sind irgendwie zur Station Dras Annia gelangt. Wie vielleicht auch andere. Und dann sind Sie eines Tages verschwunden. Sie achteten darauf, dass niemand Ihnen folgt.«
»Das ist eine sehr schwache Basis für eine so gewichtige Vermutung.«
»Warum also?« Ich gestikulierte vorsichtig mit der freien Hand, während die andere weiterhin unter meinem Mantel war und meine Waffe hielt. »Sie hatten einen angenehmen Posten in Dras Annia, Patientinnen, jede Menge Geld, Kontakte und einen guten Ruf. Jetzt befinden Sie sich irgendwo mitten im eisigen Nichts und leisten Bov-Hirten Erste Hilfe.«
»Eine persönliche Krise«, sagte sie und sprach die Worte sorgfältig und betont aus.
»Aber sicher«, stimmte ich ihr zu. »Sie konnten sich nicht dazu überwinden, die Waffe zu vernichten oder sie an eine Person weiterzugeben, die vielleicht klug genug ist, um zu erkennen, welche Gefahr sie darstellt. In dem Augenblick, als Sie erkannten, was Sie hatten, wussten Sie, was geschehen würde, wenn die Radch jemals auch nur den Ansatz einer vagen Vorstellung entwickelte, dass sie existieren könnte. Man hätte Sie aufgespürt und Sie getötet, genauso wie jede andere, die sie möglicherweise gesehen hat.«
Einerseits wollte die Radch, dass sich jede erinnerte, was mit den Garseddai geschehen war, doch andererseits wollte man, dass niemand wusste, wie die Garseddai geschafft hatten, was sie getan hatten, was in den tausend Jahren davor und in den tausend Jahren danach niemand geschafft hatte — die Zerstörung eines Radchaai-Schiffs. Heute erinnerte sich kaum noch jemand daran. Ich wusste es, und jedes Schiff wusste es, das dabei gewesen war und noch existierte. Anaander Mianaai erinnerte sich auf jeden Fall. Und Seivarden, die mit eigenen Augen gesehen hatte, was niemand für möglich halten sollte, wenn es nach der Herrin der Radch ging — dass es diese unsichtbare Rüstung und Waffe gab, diese Geschosse, die mühelos Radchaai-Panzerungen und den Hitzeschild ihres Schiffs durchschlugen.
»Ich will sie haben«, sagte ich zu Strigan. »Ich bezahle Sie dafür.«
»Wenn ich so etwas hätte … wenn, dann wäre es durchaus möglich, dass nicht einmal alles Geld der Welt eine ausreichende Bezahlung wäre.«
»Alles ist möglich«, stimmte ich zu.
»Sie sind eine Radchaai. Und Sie gehören dem Militär an.«
»Gehörte«, korrigierte ich. Und als sie verächtlich schnaufte, fügte ich hinzu: »Wenn ich noch dazu gehören würde, wäre ich jetzt nicht hier. Oder Sie hätten mir längst jede Information gegeben, die ich haben will, und sie wären nicht mehr am Leben.«
»Verschwinden Sie von hier.« Strigan sprach leise, aber nachdrücklich. »Nehmen Sie Ihren Streuner mit.«
»Ich werde nicht gehen, bevor ich habe, weswegen ich gekommen bin.« Es hätte wenig Sinn, das zu tun. »Sie müssen es mir geben oder damit auf mich schießen.« Ich hatte praktisch zugegeben, immer noch mit einer Rüstung ausgestattet zu sein. Ich hatte impliziert, dass ich genau das war, wovor sie sich fürchtete, eine Radchaai-Agentin, die gekommen war, um sie zu töten und sich die Waffe zu holen.
Trotz der Angst, die sie vor mir haben musste, konnte sie ihre Neugier nicht unterdrücken. »Warum wollen Sie es so sehr?«
»Ich will«, erklärte ich ihr, »Anaander Mianaai töten.«
»Was?« Die Waffe in ihrer Hand zitterte, bewegte sich ein Stück zur Seite, richtete sich dann wieder auf mich. Sie beugte sich drei Millimeter vor und legte den Kopf schief, als wäre sie davon überzeugt, mich nicht richtig verstanden zu haben.
»Ich will Anaander Mianaai töten«, wiederholte ich.
»Anaander Mianaai«, sagte sie verbittert, »hat Tausende von Körpern an Hunderten von Orten. Sie können ihn nicht töten. Zumindest nicht mit nur einer einzigen Waffe.«
»Trotzdem will ich es versuchen.«
»Sie sind wahnsinnig. Das heißt, ist das überhaupt möglich? Haben nicht alle Radchaai eine Gehirnwäsche erhalten?«
Das war ein weit verbreiteter Irrglaube. »Nur Kriminelle, nur Leute, die nicht richtig funktionieren, werden umerzogen. Im Grunde interessiert es niemanden, was man denkt, solange man tut, was von einem erwartet wird.«
Sie starrte mich zweifelnd an. »Wie definieren Sie ›nicht richtig funktionieren‹?«
Ich machte eine unbestimmte Nicht-mein-Problem-Geste mit der freien Hand. Obwohl es vielleicht doch mein Problem war. Vielleicht berührte mich diese Frage sehr wohl, insofern als sie durchaus Seivarden berührte. »Ich werde jetzt meine Hand aus dem Mantel ziehen«, sagte ich. »Und dann werde ich mich schlafen legen.«
Strigan sagte nichts, zuckte nur mit einer grauen Augenbraue.
»Wenn ich Sie gefunden habe, ist Anaander Mianaai auf jeden Fall dazu in der Lage«, sagte ich. Wir unterhielten uns immer noch in Strigans Sprache. Welches Geschlecht hatte sie der Herrin der Radch zugewiesen? »Aber er hat Sie noch nicht gefunden, vermutlich weil er gegenwärtig mit anderen Angelegenheiten beschäftigt ist, und aus Gründen, die Ihnen klar sein dürften, wird er wahrscheinlich zögern, diese Sache zu delegieren.«
»Also bin ich in Sicherheit.« Sie klang fester davon überzeugt, als sie es tatsächlich sein konnte.
Seivarden kehrte geräuschvoll aus dem Bad zurück und ließ sich zurück auf ihre Pritsche sinken, mit zitternden Händen, schnell und flach atmend.
»Ich nehme jetzt die Hand aus meinem Mantel«, sagte ich und tat es dann. Langsam. Leer.
Strigan seufzte und ließ ihre Waffe sinken. »Wahrscheinlich könnte ich Sie sowieso nicht erschießen.« Weil sie davon überzeugt war, dass ich zum Radchaai-Militär gehörte und demnach eine Rüstung trug. Natürlich konnte sie mich überraschen oder feuern, bevor ich meine Rüstung entfaltete, und mich tatsächlich erschießen.
Und natürlich hatte sie die Waffe. Auch wenn sie sie vielleicht nicht zur Hand hatte. »Kann ich meine Ikone zurückhaben?«
Sie runzelte die Stirn, dann erinnerte sie sich, dass sie sie immer noch in der Hand hielt. »Ihre Ikone.«
»Sie gehört mir«, stellte ich klar.
»Eine erstaunliche Ähnlichkeit«, sagte sie und schaute sie sich noch einmal an. »Woher stammt sie?«
»Von sehr weit weg.« Ich streckte eine Hand aus. Sie gab sie mir zurück, und einhändig streifte ich den Auslöser, worauf sich das Bildnis wieder zusammenfaltete und sich die goldene Scheibe schloss.
Strigan blickte konzentriert zu Seivarden und runzelte wieder die Stirn. »Ihr Streuner leidet unter Angstzuständen.«
»Ja.«
Strigan schüttelte den Kopf, entweder frustriert oder verärgert, und trat in ihre Krankenstation. Sie kehrte zurück, ging zu Seivarden hinüber, beugte sich herab und griff nach ihr.
Seivarden schreckte zusammen, stieß sich hoch und zurück, packte Strigans Handgelenk mit der Absicht, es zu brechen. Aber Seivarden war nicht mehr die, die sie einmal gewesen war. Die Ausschweifungen und die vermutliche Unterernährung hatten ihren Tribut gefordert. Strigan ließ ihren Arm in Seivardens Griff, und mit der anderen Hand holte sie zwischen den Fingern einen weißen Tab hervor, den sie Seivarden auf die Stirn drückte. »Sie tun mir nicht leid«, sagte sie auf Radchaai. »Es ist nur so, dass ich Ärztin bin.« Seivarden starrte sie mit einem unerklärlich entsetzten Gesichtsausdruck an. »Lassen Sie mich los.«
»Lassen Sie los, Seivarden, und legen Sie sich wieder hin«, sagte ich in strengem Tonfall. Sie starrte Strigan noch zwei Sekunden lang an, doch dann tat sie, was ich ihr gesagt hatte.
»Ich nehme ihn nicht als meinen Patienten an«, sagte Strigan zu mir, als sich Seivardens Atmung beruhigte und sich ihre Muskeln entspannten. »Es ist nicht mehr als Erste Hilfe. Und ich möchte nicht, dass er in Panik gerät und meine Sachen zerbricht.«
»Ich werde jetzt schlafen«, erwiderte ich. »Wir können morgen früh weiterreden.«
»Es ist schon morgen früh.« Aber sie diskutierte nicht weiter.
Sie wäre nicht so dumm, mich zu durchsuchen, während ich schlief. Sie musste wissen, wie gefährlich das sein konnte.
Sie würde mich auch nicht im Schlaf erschießen, obwohl es eine einfache und effektive Methode wäre, mich loszuwerden. Wenn ich schlief, wäre ich ein leichtes Ziel für eine Kugel, solange ich nicht jetzt meine Rüstung entfaltete und sie aktiviert ließ.
Aber das war nicht nötig. Strigan würde nicht auf mich schießen, zumindest nicht, bevor sie Antworten auf ihre vielen Fragen erhalten hatte. Und selbst dann würde sie es vielleicht nicht tun. Das Rätsel war einfach zu gut.
Strigan befand sich nicht im Hauptraum, als ich aufwachte, aber die Tür zum Schlafzimmer war verschlossen. Also vermutete ich, dass sie entweder schlief oder Privatsphäre wünschte. Seivarden war wach und starrte mich an. Sie war nervös und rieb sich die Arme und Schultern. Vor einer Woche hatte ich sie daran hindern müssen, sich die Haut blutig zu kratzen. Ihr Zustand hatte sich erheblich verbessert.
Die Schachtel mit dem Geld lag dort, wo Strigan sie zurückgelassen hatte. Ich überprüfte den Inhalt — er war nicht angetastet worden —, steckte sie weg, schloss meinen Rucksack und überlegte dabei, wie mein nächster Schritt aussehen sollte.
»Bürgerin«, sagte ich zu Seivarden, schroff und gebieterisch. »Frühstück.«
»Was?« Sie war so überrascht, dass sie für einen Moment aufhörte, sich zu bewegen.
Ich zog einen Mundwinkel hoch, nur ganz leicht. »Soll ich die Ärztin bitten, Ihr Hörvermögen zu überprüfen?« Das Saiteninstrument lag neben mir, wo ich es am Vorabend deponiert hatte. Ich nahm es auf, zupfte eine Quinte. »Frühstück.«
»Ich bin nicht Ihre Dienerin«, protestierte sie empört.
Ich verstärkte meinen spöttischen Ausdruck um ein winziges Maß. »Was sind Sie dann?«
Sie erstarrte, ihr Gesichtsausdruck sichtlich verärgert, und dann versuchte sie genauso sichtlich zu entscheiden, welche Antwort sie mir am besten darauf geben konnte. Aber die Frage war — im Augenblick — viel zu schwierig, um sie einfach beantworten zu können. Ihr Vertrauen in ihre Überlegenheit hatte offenkundig einen zu harten Schlag erhalten, als dass sie in diesem Moment damit zurechtkommen konnte. Es war ihr anscheinend nicht möglich, eine passende Erwiderung zu finden.
Ich beugte mich zum Instrument herab und begann damit, eine Melodie zu zupfen. Ich erwartete, dass sie sitzen blieb, bis zumindest der Hunger sie antrieb, sich selbst eine Mahlzeit zuzubereiten. Oder ihr fiel mit einiger Verzögerung doch etwas ein, das sie zu mir sagen konnte. Ich stellte fest, dass ich halb gehofft hatte, sie würde mich körperlich angreifen, damit ich Vergeltung üben konnte, aber vielleicht stand sie immer noch unter dem Einfluss dessen, was Strigan ihr gestern Abend gegeben hatte, wenn auch nur leicht.
Die Tür zu Strigans Zimmer ging auf, und sie trat in den Hauptraum, hielt inne, verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue hoch. Seivarden beachtete sie nicht weiter. Niemand von uns sagte etwas, und nach fünf Sekunden drehte Strigan sich um und ging in die Küche, wo sie einen Schrank öffnete.
Er war leer. Was ich bereits am Vorabend gewusst hatte. »Sie haben hier alles ausgeräumt, Breq von der Gerentate«, sagte Strigan ohne Groll. Fast, als würde sie es komisch finden. Hier drohte uns kaum die Gefahr des Verhungerns — selbst im Sommer war es draußen wie ein großer Kühlschrank, und das ungeheizte Lagergebäude enthielt jede Menge Proviant. Es ging nur darum, sich etwas zu holen und es aufzutauen.
»Seivarden.« Ich benutzte den gleichen gelassenen und verächtlichen Tonfall, den ich von Seivarden in der fernen Vergangenheit gehört hatte. »Holen Sie etwas zu essen aus dem Schuppen.«
Sie erstarrte und blinzelte dann verblüfft. »Was zum Teufel glauben Sie, wer Sie sind?«
»Ihre Ausdrucksweise, Bürgerin!«, tadelte ich sie. »Außerdem könnte ich Ihnen dieselbe Frage stellen.«
»Sie … Sie ignorante Niemand.« Die plötzliche Intensität ihrer Wut führte dazu, dass sie wieder den Tränen nahe war. »Sie glauben, Sie wären etwas Besseres als ich? Dabei sind Sie kaum als menschlich zu bezeichnen.« Sie meinte damit nicht, dass ich eine Hilfseinheit war. Ich war mir ziemlich sicher, dass ihr dieser Aspekt noch gar nicht aufgefallen war. Sie meinte damit, dass ich keine Radchaai war, und vielleicht, dass ich Implantate haben könnte, die außerhalb des Einflussbereichs der Radch üblich waren und die in den Augen von Radchaai meine Menschlichkeit kompromittierten. »Ich wurde nicht als Ihre Dienerin gezüchtet.«
Ich kann mich sehr, sehr schnell bewegen. Ich stand, und mein Arm hatte den Hieb bereits zur Hälfte ausgeführt, als mir meine Bewegung bewusst wurde. Ein Sekundenbruchteil verging, in dem ich mich vielleicht hätte zusammenreißen können, aber dann war er vorbei, und meine Faust schlug in Seivardens Gesicht — so schnell, dass ihr nicht einmal die Zeit blieb, mit Überraschung zu reagieren.
Sie stürzte, fiel rückwärts auf ihre Pritsche, Blut ergoss sich aus ihrer Nase, und sie blieb reglos liegen.
»Ist er tot?«, fragte Strigan, die immer noch in der Küche stand, mit leichter Neugier.
Ich machte eine mehrdeutige Geste. »Sie sind die Ärztin.«
Sie ging zur bewusstlosen und blutenden Seivarden hinüber. Blickte auf sie herab. »Nicht tot«, verkündete sie. »Obwohl ich mich gern davon überzeugen würde, dass der Schlag keine schlimmeren Folgen haben wird.«
Ich deutete Resignation an. »Es ist, wie Amaat es will«, sagte ich, zog meinen Mantel an und ging nach draußen, um Lebensmittel zu holen.