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In der Nacht ging ich durch die Straßen von Ors und schaute über das stinkende Wasser, das hinter den wenigen Lichtern von Ors und den blinkenden Bojen um die Sperrzonen herum im Dunkeln lag. Gleichzeitig schlief ich und hatte Wachdienst im unteren Geschoss des Hauses, falls mich jemand brauchen sollte, auch wenn das in jenen Tagen selten geschah. Ich erledigte alle unbeendeten Arbeiten des Tages und passte auf die schlafende Leutnantin Awn auf.

Morgens brachte ich Leutnantin Awn das Wasser zum Baden und kleidete sie an, wobei die einheimische Tracht viel leichter anzuziehen war als ihre Uniform, und sie hatte schon vor zwei Jahren aufgehört, Kosmetik zu benutzen, da sie in der Hitze sowieso verlief.

Danach wandte sich Leutnantin Awn ihren Ikonen zu — auf einem Kasten in der unteren Etage stand die vierarmige Amaat mit einer Emanation in jeder Hand, während die anderen (Torren, die von jeder Offizierin der Gerechtigkeit der Torren angebetet wurde, und ein paar von Leutnantin Awns Familie auserwählte Götter), an die sich ihre morgendliche Andacht richtete, gleich neben Leutnantin Awns Schlafplatz im oberen Teil des Hauses standen. Mit »Die Blüte der Gerechtigkeit ist der Frieden« begann das tägliche Gebet, das jede Radchaai-Soldatin an jedem Tag in ihrem Leben beim Militär nach dem Aufwachen sprach. »Die Blüte des Anstands ist die Schönheit der Gedanken und Handlungen.« Meine übrigen Offizierinnen, die noch in der Gerechtigkeit der Torren waren, hatten einen anderen Zeitplan. Ihr Tag begann selten mit dem von Leutnantin Awn, sodass fast immer nur Leutnantin Awns Stimme beim Gebet zu hören war, während die anderen weit weg und ohne sie im Chor sprachen. »Die Blüte der Nützlichkeit ist einzig und allein Amaat. Ich bin das Schwert der Gerechtigkeit …« Das Gebet ist antiphonisch, aber nur vier Strophen lang. Manchmal kann ich es immer noch hören, wenn ich aufwache, wie eine ferne Stimme irgendwo hinter mir.

In allen geweihten Tempeln im gesamten Radchaai-Territorium warf jeden Morgen eine Priesterin (die als Standesbeamtin auch für das Register der Geburten, der Todesfälle und aller möglichen Verträge zuständig war) die Omen des Tages. Haushalte und Einzelpersonen nahmen manchmal ihre eigenen Omendeutungen vor, und man war nicht verpflichtet, den offiziellen Deutungen beizuwohnen — aber es war immer ein guter Anlass, um zu sehen und gesehen zu werden, um sich mit Freundinnen und Nachbarinnen zu unterhalten und Klatsch zu hören.

Es gab bisher keinen offiziellen Tempel in Ors — sie waren alle in erster Linie Amaat geweiht, allen anderen einheimischen Gottheiten maß man weniger Bedeutung zu, und die Oberpriesterin der Ikkt hatte noch keine klare Eingebung gehabt, wie sie ihre Göttin im eigenen Tempel herabstufen oder wie sich Ikkt so eng mit Amaat identifizieren ließ, dass die Rituale der Radchaai mit ihren eigenen verbunden werden konnten. Also diente vorläufig Leutnantin Awns Haus diesem Zweck. Jeden Morgen entfernten die Blumenträgerinnen des provisorischen Tempels die verwelkten Blumen um Amaats Ikone und ersetzten sie durch frische — gewöhnlich von einem einheimischen Gewächs mit kleinen hellrosafarbenen dreiblättrigen Blüten, das im Dreck an den äußeren Ecken von Gebäuden oder in den Ritzen zwischen Platten wuchs und eigentlich Unkraut war, aber bei Kindern sehr beliebt war. Und seit kurzem blühten im See auch blauweiße Lilien mit kleinen Knospen, vor allem in der Nähe der mit Bojen verbarrikadierten Sperrzonen.

Danach legte Leutnantin Awn das Tuch zur Deutung des Wurfs der Omen aus, die aus einer Handvoll schwerer Metallscheiben bestanden. Diese und die Ikonen waren Leutnantin Awns persönlicher Besitz, ein Geschenk ihrer Eltern zum Bestehen der Eignungsprüfung und anlässlich ihrer ersten Mission.

Manchmal kamen nur Leutnantin Awn und die Dienerinnen des Tages zum morgendlichen Ritual, aber meistens waren auch andere zugegen. Die Medizinerin der Stadt, ein paar Radchaai, denen hier ein Grundstück zugeteilt worden war, andere Kinder von Ors, die man nicht dazu bringen konnte, zur Schule zu gehen oder rechtzeitig dort zu sein, denen das Glitzern und Klingeln der Scheiben beim Fallen sehr gefiel. Manchmal kam sogar die Oberpriesterin der Ikkt — wie Amaat untersagte es deren Göttin ihren Anhängerinnen nicht, zu anderen Göttinnen zu beten.

Wenn die Omen gefallen waren und auf dem Tuch zur Ruhe kamen (oder zum Schrecken der Zuschauer vom Tuch irgendwohin rollten, wo sie schwer zu deuten waren), musste die amtierende Priesterin das Muster herauslesen, es der zugehörigen Textpassage zuordnen und diese den Anwesenden vortragen. Manchmal war Leutnantin Awn nicht dazu imstande. Dann warf sie die Scheiben, ich beobachtete, wie sie fielen, und übermittelte ihr dann die passenden Worte. Immerhin war die Gerechtigkeit der Torren fast zweitausend Jahre alt und hatte fast jede mögliche Anordnung erlebt.

Nach dem Ritual frühstückte sie — normalerweise eine Scheibe Brot vom jeweils vorhandenen einheimischen Getreide und (echten) Tee — und nahm dann auf einer Matte auf der Plattform Platz, bereit für die täglichen Gesuche und Beschwerden.

»Jen Shinnan lädt Sie für heute Abend zum Essen ein«, sagte ich am nächsten Morgen zu ihr. Ich frühstückte ebenfalls, reinigte die Waffen, ging durch die Straßen und grüßte alle, die mich ansprachen.

Jen Shinnan lebte in der Oberstadt, war vor der Annexion die wohlhabendste Person in Ors gewesen und kam gleich nach der Oberpriesterin der Ikkt, was den gesellschaftlichen Einfluss betraf. Leutnantin Awn mochte sie nicht. »Ich nehme an, ich habe keine gute Ausrede, um abzulehnen.«

»Ich wüsste keine«, sagte ich. Gleichzeitig stand ich an der Grenze des Hausgrundstücks, halb auf der Straße, und schaute mich um. Eine Orsai näherte sich, sah mich und wurde langsamer. Sie blieb etwa acht Meter vor mir stehen, tat so, als würde sie etwas anderes irgendwo über mir betrachten.

»Sonst noch etwas?«, fragte Leutnantin Awn.

»Die Distriktmagistratin bestätigt die offizielle Haltung in Bezug auf die Fischreservate in den Sümpfen von Ors …«

Leutnantin Awn seufzte. »Ja, natürlich.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Bürger?«, fragte ich die Person, die immer noch zögernd auf der Straße stand. Die bevorstehende Geburt ihrer ersten Enkeltochter war ihren Nachbarinnen noch nicht mitgeteilt worden, also tat ich, als würde ich es auch nicht wissen, und sprach sie mit der einfachen Höflichkeitsform an, die man gegenüber männlichen Personen benutzte.

»Ich wünschte«, fuhr Leutnantin Awn fort, »die Distriktmagistratin würde persönlich hierherkommen und versuchen, sich von altem Brot und diesem widerlichen eingemachten Gemüse zu ernähren, das sie uns schicken. Wie würde sie es wohl finden, dass Fischen ausgerechnet da verboten ist, wo all die Fische sind?«

Die Orsai auf der Straße zuckte erschrocken zusammen, sah für einen Moment so aus, als wollte sie kehrtmachen und gehen, doch dann überlegte sie es sich anders. »Einen guten Morgen, Radchaai«, sagte sie ruhig und kam näher. »Auch dem Leutnant.« Orsai konnten sehr direkt sein, wenn ihnen danach war, und manchmal auch merkwürdig zurückhaltend.

»Ich weiß, dass es dafür einen Grund gibt«, sagte Leutnantin Awn zu mir. »Und sie hat recht, aber trotzdem.« Sie seufzte wieder. »Noch etwas?«

»Denz Ay ist draußen und möchte Sie sprechen.« Während ich es sagte, lud ich Denz Ay ein, ins Haus zu treten.

»Worüber?«

»Das wollte sie mir nicht sagen.« Leutnantin Awn gestikulierte Einverständnis, und ich führte Denz Ay um die Trennwände herum. Sie verbeugte sich und setzte sich vor Leutnantin Awn auf die Matte.

»Guten Morgen, Bürgerin«, sagte Leutnantin Awn. Ich übersetzte.

»Guten Morgen, Leutnant.« Sie tastete sich langsam heran, machte erst eine Bemerkung zur Hitze und zum wolkenlosen Himmel, erkundigte sich dann nach Leutnantin Awns Gesundheit, tratschte ein wenig, bis sie endlich zu ihrem Anliegen kam. »Ich … ich habe da einen Freund, Leutnant.« Sie hielt inne.

»Ja?«

»Und gestern Abend war mein Freund fischen.« Denz Ay verstummte wieder.

Leutnantin Awn wartete drei Sekunden, und als nichts mehr zu kommen schien, fragte sie: »Hat Ihre Freundin viel gefangen?« Wenn sie in dieser Stimmung waren, ließen sich Orsai selbst durch direkte Fragen oder Bitten nicht dazu bringen, auf den Punkt zu kommen.

»N… nicht viel«, sagte Denz Ay. Dann blitzte kurz Verärgerung auf ihrem Gesicht auf. »Die besten Plätze zum Fischen befinden sich, wie Sie wissen, unweit der Brutgebiete, aber die sind alle gesperrt.«

»Ja«, sagte Leutnantin Awn. »Ihre Freundin würde doch bestimmt nie illegal fischen.«

»Nein, nein, natürlich nicht«, protestierte Denz Ay. »Aber … ich möchte nicht, dass er Ärger bekommt … aber manchmal gräbt er nach Knollen. In der Nähe der Sperrzonen.«

Es gab kaum noch Pflanzen, die in der Nähe der Sperrzonen essbare Wurzelknollen hervorbrachten — sie waren alle vor Monaten, wenn nicht schon länger, ausgegraben worden. Innerhalb der Sperrzonen gingen Wilderer viel vorsichtiger vor, denn wenn sich die Pflanzen zu auffällig verminderten oder ganz verschwanden, wären wir gezwungen, der Sache nachzugehen, und müssten die Gebiete besser bewachen. Leutnantin Awn wusste das. Alle in der Unterstadt wussten es.

Leutnantin Awn wartete das Ende der Geschichte ab, ärgerte sich nicht zum ersten Mal über die Neigung der Orsai, sich einem Thema auf Umwegen anzunähern, doch es gelang ihr, sich nichts anmerken zu lassen. »Wie ich gehört habe, schmecken sie sehr gut«, wagte sie sich vor.

»Oh, ja!«, stimmte Denz Ay zu. »Am besten direkt aus dem Schlamm!« Leutnantin Awn unterdrückte eine Grimasse. »Aber man kann sie auch in Scheiben schneiden und grillen …« Denz Ay hielt inne und fügte mit einem verschmitzten Blick hinzu: »Vielleicht kann mein Freund Ihnen welche besorgen.«

Ich sah Leutnantin Awn die Unzufriedenheit mit ihren Rationen an, wie sie am liebsten Ja, bitte geantwortet hätte. Stattdessen sagte sie: »Danke, aber das ist nicht nötig. Was wollten Sie gerade sagen?«

»Was ich sagen wollte?«

»Ihre … Freundin.« Während sie redete, stellte mir Leutnantin Awn mit winzigen Zuckungen ihrer Finger Fragen. »Gräbt nach Knollen in der Nähe der Sperrzone. Und?«

Ich zeigte Leutnantin Awn die Stelle, an der diese Person höchstwahrscheinlich gegraben hatte — ich patrouillierte durch ganz Ors, sah die Schiffe ein- und ausfahren, sah, wo sie in der Nacht waren, wenn die Lichter aus waren und sie vielleicht sogar dachten, sie wären für mich unsichtbar.

»Und«, sagte Denz Ay, »er hat etwas gefunden.«

Wird jemand vermisst?, fragte Leutnantin Awn mich lautlos und beunruhigt. Ich verneinte. »Was hat sie gefunden?«, fragte Leutnantin Awn Denz Ay laut.

»Waffen«, sagte Denz Ay so leise, dass Leutnantin Awn es fast nicht gehört hätte. »Ein Dutzend, von früher.« Damit meinte sie vor der Annexion. Dem gesamten Militär von Shis’urna waren die Waffen abgenommen worden, sodass niemand auf dem Planeten Waffen haben sollte, von denen wir nichts wussten. Die Antwort kam so überraschend, dass Leutnantin Awn zwei Sekunden lang überhaupt nicht reagierte.

Dann überkamen sie Verblüffung, Besorgnis und Verwirrung. Warum erzählt sie mir das?, fragte mich Leutnantin Awn lautlos.

»Es gab darüber Gerede, Leutnant«, sagte Denz Ay. »Sie haben vielleicht davon gehört.«

»Gerede gibt es immer«, erwiderte Leutnantin Awn. Diese Antwort war so formelhaft, dass ich sie gar nicht übersetzen musste, weil sie es selbst im einheimischen Dialekt hätte sagen können. »Womit sonst sollen sich die Leute die Zeit vertreiben?« Denz Ay quittierte diese lapidare Feststellung mit einer Geste. Leutnantin Awn verlor die Geduld und ging zum Angriff über. »Sie wurden dort wahrscheinlich vor der Annexion versteckt.«

Denz Ay machte eine verneinende Geste mit der linken Hand. »Vor einem Monat waren sie noch nicht dort.«

Hat jemand ein geheimes Lager aus der Zeit vor der Annexion gefunden und sie dann dort versteckt?, fragte mich Leutnantin Awn stumm. Laut fragte sie: »Wenn die Leute reden, sagen sie dann auch etwas, das erklären könnte, wieso in einer Sperrzone unter Wasser plötzlich ein Dutzend Waffen auftauchen?«

»Solche Waffen nützen nichts gegen Sie.« Wegen unserer Rüstungen, meinte Denz Ay. Eine Radchaai-Rüstung ist ein im Grunde undurchdringlicher Schutzschild. Ich konnte meinen jederzeit ausfahren, wann immer ich es wünschte. Der Mechanismus, der einen Schild generierte, war in alle meine Segmente implantiert, und bei Leutnantin Awn war es genauso — auch wenn ihrer extern getragen wurde. Er machte uns nicht völlig unverwundbar, und im Kampf trugen wir darunter manchmal leichte und gelenkige Rüstungsteile, die Kopf, Extremitäten und Rumpf schützten, aber auch ohne das konnten uns eine Handvoll Waffen nichts anhaben.

»Für wen könnten diese Waffen also bestimmt sein?«, fragte Leutnantin Awn.

Denz Ay überlegte, runzelte die Stirn, biss sich auf die Lippe und sagte dann: »Die Tanmind sind den Radchaai ähnlicher als wir.«

»Bürgerin«, sagte Leutnantin Awn und betonte das Wort absichtlich mit großer Sorgfalt, denn Radchaai bedeutete im Grunde nichts anderes, »wenn wir hier irgendwen erschießen wollten, hätten wir es längst getan.« Tatsächlich hatten wir es schon getan. »Dazu würden wir keine geheimen Waffenlager benötigen.«

»Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen«, sagte Denz Ay eindringlich, als würde sie einem Kind etwas auf sehr einfache Weise erklären wollen. »Wenn Sie jemanden erschießen, sagen Sie, warum Sie es tun, und Sie tun es ohne Ausrede. So sind die Radchaai. Aber wenn in der Oberstadt, bevor Sie eintrafen, Orsai erschossen wurden, war man immer darauf bedacht, dafür eine Rechtfertigung zu finden. Wenn jemand sterben sollte«, erklärte sie Leutnantin Awn, die ein perplexes Gesicht machte, »sagten sie nicht, bevor sie schossen: Du machst uns Ärger, wir wollen dich beseitigen. Sondern: Wir verteidigen uns nur. Und wenn die Person tot war, durchsuchten sie die Leiche oder das Haus und fanden Waffen oder belastende Nachrichten.« Keine echten, wollte sie offensichtlich damit sagen.

»Inwiefern sind wir uns also ähnlich?«

»Ihre Götter sind die gleichen.« Das waren sie nicht unbedingt, aber in der Oberstadt und auch anderswo glaubte man es gern. »Sie leben beide im Weltall, Sie alle hüllen sich in Kleidung. Sie sind reich, die Tanmind sind reich. Wenn jemand in der Oberstadt« — und damit meinte sie vermutlich eine bestimmte Person — »ausruft, dass er von einem Orsai bedroht wird, werden die meisten Radchaai ihm glauben und nicht irgendeinem Orsai, der bestimmt lügt, um sich selbst zu schützen.«

Und deshalb war sie zu Leutnantin Awn gekommen — damit, was auch immer geschah, den offiziellen Stellen der Radchaai klar war, dass sie — und infolgedessen alle anderen in der Unterstadt — nichts mit dem Waffenversteck zu tun hatte, falls es eines Tages zur Anklage kommen sollte.

»Das war einmal«, sagte Leutnantin Awn. »Zwischen Orsai, Tanmind und Moha wird nicht mehr unterschieden. Das ist vorbei. Hier sind jetzt alle Radchaai.«

»Wie Sie meinen, Leutnant«, antwortete Denz Ay mit leiser und fast ausdrucksloser Stimme.

Leutnantin Awn war schon lange genug in Ors, um zu erkennen, wenn jemand unterschwellig die Zustimmung verweigerte. Sie versuchte es mit einem anderen Ansatz. »Niemand wird irgendwen erschießen.«

»Natürlich nicht, Leutnant«, sagte Denz Ay, aber wieder mit dieser leisen Stimme. Sie war alt genug, um aus erster Hand zu wissen, dass wir in der Vergangenheit tatsächlich Leute erschossen hatten. Man konnte ihr nicht übelnehmen, dass sie befürchtete, wir könnten es auch in der Zukunft wieder tun.

Nachdem Denz Ay gegangen war, blieb Leutnantin Awn nachdenklich sitzen. Niemand störte sie dabei; es war ein ruhiger Tag. Im grün beleuchteten Innenraum des Tempels wandte sich die Oberpriesterin mir zu und sagte: »Früher gab es zwei Chöre mit je hundert Stimmen. Das hätte Ihnen gefallen.« Ich hatte Aufnahmen gesehen. Manchmal kamen die Kinder mit Liedern zu mir, die ein entferntes Echo jener Musik waren, die vor mehr als fünfhundert Jahren verloren gegangen war. »Wir sind nicht mehr, was wir einmal waren«, sagte die Oberpriesterin. »Alles geht irgendwann zu Ende.« Ich stimmte ihr zu.

»Nehmen Sie sich heute Nacht ein Boot«, sagte Leutnantin Awn, als sie sich endlich rührte. »Schauen Sie, ob es irgendwelche Hinweise gibt, woher die Waffen stammen. Ich werde entscheiden, was zu tun ist, sobald ich mehr darüber weiß, was vor sich geht.«

»Ja, Leutnantin«, sagte ich.

Jen Shinnan wohnte in der Oberstadt, auf der anderen Seite des Vortempelteichs. Dort lebten nur wenige Orsai, die keine Dienerinnen waren. Die Häuser hatten eine etwas andere Architektur als jene in der Unterstadt. Sie besaßen ein Walmdach, der mittlere Teil jedes Stockwerks war von einer Mauer umgeben, doch die Fenster und Türen wurden in milden Nächten offen gelassen. Die gesamte Oberstadt war während der letzten fünfzig Jahre auf älteren Ruinen errichtet worden und damit wesentlich jünger als der untere Teil. Außerdem hatte man mit mehr Klimakontrolle gearbeitet. Viele Bewohnerinnen trugen Hosen und Hemden und sogar Jacken. Radchaai-Immigranten, die hier wohnten, neigten zu deutlich konventionellerer Kleidung, und Leutnantin Awn trug ihre Uniform ohne allzu großes Unbehagen, wenn sie zu Besuch kam.

Andererseits empfand Leutnantin Awn stets Unbehagen, wenn sie Jen Shinnan besuchte. Sie mochte Jen Shinnan nicht, und obwohl natürlich niemals darüber gesprochen wurde, war es sehr wahrscheinlich, dass auch Jen Shinnan Leutnantin Awn nicht besonders mochte. Eine solche Einladung war nicht mehr als eine gesellschaftliche Notwendigkeit, da Leutnantin Awn die hiesige Vertreterin der Radchaai-Herrschaft war. An diesem Abend war die Runde ungewöhnlich klein, nur Jen Shinnan, eine Cousine von ihr sowie Leutnantin Awn und Leutnantin Skaaiat. Leutnantin Skaaiat befehligte Sieben Issa der Gerechtigkeit der Ennte und verwaltete die Region zwischen Ors und Kould Ves — hauptsächlich Ackerland, wo Jen Shinnan und ihre Cousine Landbesitz hatten. Leutnantin Skaaiat und ihre Soldatinnen assistierten uns während der Pilgersaison, sodass sie in Ors fast so gut bekannt war wie Leutnantin Awn.

»Sie haben meine gesamte Ernte konfisziert«, sagte die Cousine von Jen Shinnan, die Besitzerin von mehreren Tamarindengärten nicht weit von der Oberstadt. Sie tippte energisch mit ihrem Besteck gegen ihren Teller. »Die gesamte Ernte.«

Mitten auf dem Tisch standen Tabletts und Schüsseln voller Eier, Fisch (nicht aus dem sumpfigen See, sondern aus dem weiter entfernten Meer), gewürztem Hühnchenfleisch, Brot, gedünstetem Gemüse und einem halben Dutzend Würzsaucen unterschiedlichster Art.

»Hat man Sie nicht bezahlt, Bürgerin?« Leutnantin Awn sprach langsam und sorgfältig, wie sie es immer tat, wenn sie sich Sorgen machte, dass ihr Akzent durchschimmern mochte. Sowohl Jen Shinnan als auch ihre Cousine sprachen Radchaai, sodass eine Übersetzung nicht nötig war und sie auch nicht auf Geschlecht oder Status oder irgendetwas anderes achten mussten, das auf Tanmind oder Orsianisch von Bedeutung gewesen wäre.

»Nun ja, aber ich hätte gewiss mehr bekommen, wenn ich damit nach Kould Ves gegangen wäre und es persönlich verkauft hätte!«

Es hatte eine Zeit gegeben, in der eine Landbesitzerin wie sie frühzeitig erschossen worden wäre, damit eine andere Klientin ihre Plantage übernehmen konnte. Tatsächlich waren nicht wenige Shis’urnai im Anfangsstadium der Annexion gestorben, nur weil sie im Weg waren, wobei im Weg viele verschiedene Dinge bedeuten konnte.

»Wie Sie zweifellos verstehen, Bürgerin«, sagte Leutnantin Awn, »ist die Lebensmittelverteilung ein Problem, mit dessen Lösung wir weiterhin beschäftigt sind, und bis das geschehen ist, muss jede von uns Entbehrungen ertragen.« Wenn sie sich nicht wohlfühlte, wurden ihre Sätze uncharakteristisch förmlich und manchmal auf gefährliche Weise verschachtelt.

Jen Shinnan deutete auf einen vollen Servierteller aus zerbrechlichem blassrosafarbenem Glas. »Noch ein gefülltes Ei, Leutnantin Awn?«

Leutnantin Awn hob eine Hand, die anständig in einem Handschuh steckte. »Sie sind köstlich, aber danke, nein, Bürgerin.«

Doch die Cousine war auf einen Kurs geraten, von dem sie nur schwer abweichen konnte, trotz Jen Shinnans diplomatischem Versuch, sie davon abzubringen. »Schließlich ist Obst keine Notwendigkeit. Und schon gar nicht Tamarinden! Außerdem leidet niemand Hunger.«

»So ist es!«, stimmte Leutnantin Skaaiat ihr von Herzen zu. Sie schenkte Leutnantin Awn ein strahlendes Lächeln. Mit ihrer dunklen Haut, den goldenen Augen und dem aristokratischen Aussehen war Leutnantin Skaaiat das Gegenteil von Leutnantin Awn. Eine ihrer Sieben Issas stand in meiner Nähe, vor der Tür zum Esszimmer, genauso kerzengerade und still wie ich.

Obwohl Leutnantin Awn Leutnantin Skaaiat sehr mochte und ihren Sarkasmus in dieser Situation zu schätzen wusste, konnte sie sich nicht dazu überwinden, mit einem Lächeln zu antworten. »Nicht in diesem Jahr.«

»Deine Geschäfte laufen besser als meine, Cousine«, sagte Jen Shinnan in beschwichtigendem Tonfall. Auch sie besaß Ackerland nicht weit von der Oberstadt. Aber ihr hatten auch die Schwimmbagger gehört, die reglos und still auf dem Sumpfwasser lagen. »Auch wenn ich mich vermutlich nicht allzu sehr beklagen kann, war es doch recht viel Mühe für wenig Ertrag.«

Leutnantin Awn öffnete den Mund zu einer Erwiderung und schloss ihn dann wieder. Leutnantin Skaaiat sah es und sagte mit mühelos klar und präzise ausgesprochenen Vokalen: »Was heißt das? Weitere drei Jahre Fischereiverbot, Leutnantin?«

»Ja«, sagte Leutnantin Awn.

»Dumm«, sagte Jen Shinnan. »Gut gemeint, aber dumm. Sie haben gesehen, wie es war, als Sie eintrafen. Sobald sie die Sperrzonen öffnen, werden sie wieder leer gefischt sein. Die Orsai mögen einst ein großes Volk gewesen sein, aber sie sind nicht mehr das, was ihre Vorfahren waren. Sie haben keinen Ehrgeiz, sind immer nur auf den kurzfristigen Vorteil bedacht. Wenn man ihnen zeigt, wer die Chefin ist, können sie recht gehorsam sein, wie Sie zweifellos bemerkt haben, Leutnantin Awn, aber in ihrem natürlichen Zustand sind sie bis auf ein paar wenige Ausnahmen träge und abergläubisch. Auch wenn das vermutlich an einem Leben in der Unterwelt liegt.« Sie lächelte über ihren eigenen Witz. Ihre Cousine lachte unverblümt.

Die weltraumbewohnenden Nationen von Shis’urna unterschieden drei Teile des Universums. In der Mitte lag die natürliche Umwelt der Menschen — Raumstationen, Raumschiffe, konstruierte Habitate. Außerhalb davon war die Schwärze — der Himmel, das Reich der Gottheit und aller heiligen Dinge. Und innerhalb der Schwerkraftsenke des Planeten Shis’urna selbst — genauso wie in der jedes anderen Planeten — lag die Unterwelt, das Land der Toten, aus dem die Menschheit flüchten musste, um sich gänzlich von ihrem dämonischen Einfluss zu befreien.

Hier wird deutlich, dass die Vorstellung der Radchaai von einem Universum, das mit der Gottheit identisch ist, eine große Ähnlichkeit mit der tanmindischen Idee der Schwärze hat. Vielleicht wird aber auch verständlich, warum es in den Ohren der Radchaai ein wenig seltsam klingt, dass Leute, deren Glaube eine Schwerkraftsenke mit dem Land der Toten gleichsetzt, andere Leute als abergläubisch bezeichnen, weil sie eine Echse verehren.

Leutnantin Awn brachte ein höfliches Lächeln zustande, und Leutnantin Skaaiat sagte: »Und dennoch leben auch Sie hier.«

»Ich neige nicht dazu, abstrakte philosophische Ideen mit der Realität zu verwechseln«, sagte Jen Shinnan. Obwohl auch das seltsam für eine Radchaai klang, die wusste, was es für einen tanmindischen Stationsbewohner bedeutete, in die Unterwelt hinabzusteigen und zurückzukehren. »Ernsthaft. Ich habe da eine Theorie.«

Leutnantin Awn, die bereits mehrere tanmindische Theorien über die Orsai kennengelernt hatte, wahrte einen neutralen, sogar ein wenig neugierigen Ausdruck und sagte höflich: »Aha?«

»Erzählen Sie uns davon!«, wurde sie von Leutnantin Skaaiat ermutigt. Die Cousine, die sich vor wenigen Augenblicken einen Bissen Hühnchenfleisch in den Mund gesteckt hatte, machte eine zustimmende Geste mit ihrem Besteck.

»Es geht darum, wie sie leben, völlig im Freien, ohne Schutz außer einem Dach«, sagte Jen Shinnan. »Sie können keine Privatsphäre haben, kein Gefühl für sich selbst als reale Individuen entwickeln, verstehen Sie, ohne Sinn für irgendeine separate Identität.«

»Ganz zu schweigen vom Privateigentum«, sagte Jen Taa, nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Sie glauben, sie können einfach hereinspazieren und sich nehmen, was sie wollen.«

Es gab sehr wohl Regeln — wenn auch ungeschriebene —, wie man ohne Einladung ein Haus betrat, und Diebstahl war in der Unterstadt kaum ein Problem. Gelegentlich während der Pilgersaison schon, aber sonst fast nie.

Jen Shinnan gestikulierte Zustimmung. »Und hier muss im Grunde nie jemand tatsächlich hungern, Leutnantin. Niemand muss arbeiten, man geht einfach im Sumpf fischen. Oder man nimmt während der Pilgersaison Besucherinnen aus. Sie haben keine Gelegenheit, irgendwelche Ambitionen zu entwickeln, oder den Wunsch, sich zu verbessern. Und so können sie nie irgendeine Art von Kultiviertheit entwickeln, irgendeine Art von …« Sie verstummte, auf der Suche nach dem richtigen Wort.

»Innerlichkeit?«, schlug Leutnantin Skaaiat vor, der dieses Spiel viel mehr Spaß machte als Leutnantin Awn.

»Genau, das ist es!«, rief Jen Shinnan. »Innerlichkeit, ja.«

»Also läuft ihre Theorie darauf hinaus«, sagte Leutnantin Awn mit gefährlich gleichmäßigem Tonfall, »dass die Orsai eigentlich keine Personen sind.«

»Zumindest keine Individuen.« Jen Shinnan schien vage zu spüren, dass sie etwas gesagt hatte, das Leutnantin Awn ärgerte, auch wenn sie sich dessen nicht ganz sicher war. »Nicht als solche.«

»Und natürlich«, warf Jen Taa ein, ohne etwas davon zu bemerken, »sehen sie, was wir haben, und verstehen nicht, dass man für ein solches Leben arbeiten muss. Sie sind neidisch und verbittert und werfen uns vor, dass wir sie nicht daran teilhaben lassen, obwohl sie doch nur dafür arbeiten müssten …«

»Mit dem Geld, das sie haben, unterstützen sie den halb zerfallenen Tempel, und dann beklagen sie sich, dass sie arm sind«, sagte Jen Shinnan. »Und sie fischen den Sumpf leer und geben dann uns die Schuld. Sie würden dasselbe mit Ihnen machen, Leutnantin, wenn Sie die Sperrzonen wieder öffnen würden.«

»Und dass Sie den Schlamm tonnenweise ausbaggern, um ihn als Düngemittel zu verkaufen, hat nichts mit dem Verschwinden der Fische zu tun?«, fragte Leutnantin Awn in scharfem Tonfall. Tatsächlich war das Düngemittel ein Nebenprodukt des Hauptgeschäfts gewesen, dem Verkauf des Schlamms an weltraumbewohnende Tanmind für religiöse Zwecke. »Daran war nur die verantwortungslose Fischerei seitens der Orsai schuld?«

»Nun, es hatte natürlich einen gewissen Effekt«, sagte Jen Taa, »aber wenn sie ihre Ressourcen einfach nur vernünftig eingeteilt hätten …«

»Völlig richtig«, stimmte Jen Shinnan zu. »Sie werfen mir vor, ich hätte die Fischerei ruiniert. Aber ich habe diesen Leuten Arbeit gegeben. Die Gelegenheit, ihr Leben zu verbessern.«

Leutnantin Skaaiat musste gespürt haben, dass Leutnantin Awn einen gefährlichen Punkt erreicht hatte. »Die Sicherheit auf einem Planeten unterscheidet sich sehr von der in einer Station«, sagte sie in fröhlichem Tonfall. »Auf einem Planeten gibt es immer irgendwelche … Unwägbarkeiten. Irgendwelche Dinge, die man nicht sieht.«

»Ah«, sagte Jen Shinnan, »aber Sie haben hier jede Person markiert, damit Sie stets wissen, wo wir uns aufhalten.«

»Ja«, bestätigte Leutnantin Skaaiat. »Aber wir überwachen Sie nicht ständig. Ich vermute, man könnte eine KI wachsen lassen, die groß genug ist, um einen ganzen Planeten zu überwachen, aber ich glaube, so etwas hat noch niemand versucht. In einer Station hingegen …«

Leutnantin Awn erkannte nun, wie Leutnantin Skaaiat die Falle zuschnappen ließ, in die Jen Shinnan vor wenigen Augenblicken getappt war. »In einer Station«, sagte Leutnantin Awn, »sieht die KI alles.«

»Das ist viel leichter zu handhaben«, stimmte Leutnantin Skaaiat zufrieden zu. »Also ist ein Sicherheitsdienst fast gar nicht nötig.« Das stimmte nicht ganz, aber jetzt war der falsche Moment, darauf hinzuweisen.

Jen Taa legte ihr Besteck auf den Tisch. »Zweifellos sieht die KI nicht alles.« Keine der beiden Leutnantinnen sagte etwas. »Selbst wenn Sie …«

»Alles«, antwortete Leutnantin Awn. »Da können Sie sich ganz sicher sein, Bürgerin.«

Stille, fast zwei Sekunden lang. Neben mir zuckte der Mund von Leutnantin Skaaiats Sieben-Issa-Wache, was vielleicht nur ein Juckreiz oder ein unwillkürliches Muskelzucken, nach meiner Vermutung aber die einzige äußerliche Manifestation ihrer Belustigung war. Militärschiffe waren genauso wie Stationen mit KIs ausgestattet, und Radchaai-Soldatinnen lebten völlig ohne Privatsphäre.

Leutnantin Skaaiat brach das Schweigen. »Wird Ihre Nichte, Bürgerin, in diesem Jahr auf ihre Eignung geprüft?«

Die Cousine gestikulierte zustimmend. Solange ihr Einkommen durch die Landwirtschaft gesichert war, brauchte sie keine Anstellung, genauso wenig wie ihre Erben — wie viele Erben ihr Land auch immer ernähren mochte. Die Nichte dagegen hatte ihre Eltern während der Annexion verloren.

»Diese Eignungsprüfung«, sagte Jen Shinnan. »Sie haben sie abgelegt, Leutnantinnen?« Beide deuteten Zustimmung an. Die Eignungsprüfung war die einzige Möglichkeit, ins Militär oder zu einem Verwaltungsposten zu kommen — obwohl das nicht sämtliche verfügbaren Anstellungen umfasste.

»Ohne Zweifel«, sagte Jen Shinnan, »sind diese Prüfungen gut für Sie geeignet, aber ich frage mich, ob sie uns Shis’urnai angemessen sind.«

»Warum das?«, fragte Leutnantin Skaaiat mit einem leicht amüsierten Stirnrunzeln.

»Gab es irgendwelche Probleme?«, fragte Leutnantin Awn, immer noch steif, immer noch über Jen Shinnan verärgert.

»Nun.« Jen Shinnan nahm eine Serviette, weich und schneeweiß gebleicht, und wischte sich den Mund ab. »Es heißt, im letzten Monat waren in Kould Ves sämtliche Kandidatinnen für den öffentlichen Dienst ethnische Orsai.«

Leutnantin Awn blinzelte verwirrt. Leutnantin Skaaiat lächelte. »Sie wollen damit sagen«, erwiderte sie und sah Jen Shinnan an, richtete ihre Worte aber genauso an Leutnantin Awn, »dass Sie glauben, die Prüfungen würden verzerrte Ergebnisse liefern?«

Jen Shinnan faltete die Serviette zusammen und legte sie neben ihre Schüssel auf den Tisch. »Ich bitte Sie, Leutnantin. Lassen Sie uns ehrlich sein. Es gibt einen Grund, warum so wenige Orsai solche Posten innehatten, bevor Sie eintrafen. Hin und wieder gab es eine Ausnahme — die Göttliche ist eine sehr ehrenwerte Person, das gestehe ich gern ein. Aber sie ist eine Ausnahme. Wenn ich also zwanzig Orsai sehe, die für Posten im öffentlichen Dienst auserwählt wurden, und keine einzige Tanmind, kommt mir unwillkürlich der Verdacht, dass entweder die Prüfung fehlerhaft ist, oder … nun ja. Ich erinnere mich daran, dass es die Orsai waren, die als Erste kapitulierten, als Sie eintrafen. Ich kann es Ihnen nicht zum Vorwurf machen, wenn Sie das positiv bewerten, wenn Sie das … anerkennen möchten. Aber es ist ein Fehler.«

Leutnantin Awn sagte nichts. Leutnantin Skaaiat fragte: »Vorausgesetzt, Sie haben recht, warum sollte das ein Fehler sein?«

»Es ist, wie ich bereits sagte. Sie sind einfach nicht für anspruchsvolle Positionen geeignet. Mit einigen Ausnahmen, ja, aber …« Sie wedelte mit der Hand. »Und wenn die Voreingenommenheit bei der Auswahl so offensichtlich ist, werden die Leute kein Vertrauen mehr darin haben.«

Leutnantin Skaaiats Lächeln wurde breiter, im gleichen Maß, wie Leutnantin Awns stille, empörte Wut zunahm. »Ihre Nichte ist nervös?«

»Ein bisschen!«, gestand die Cousine ein.

»Verständlich«, sagte Leutnantin Skaaiat gedehnt. »Es ist ein bedeutsames Ereignis im Leben jeder Bürgerin. Aber sie muss keine Angst haben.«

Jen Shinnan lachte süffisant. »Keine Angst? Die Unterstadt ist uns nicht wohlgesinnt, so war es schon immer, und nun können wir keine rechtsgültigen Verträge mehr abschließen, ohne ein Verkehrsmittel nach Kould Ves zu nehmen oder durch die Unterstadt zu Ihrem Haus zu laufen, Leutnantin.« Alle rechtlich bindenden Verträge mussten im Tempel der Amaat geschlossen werden. Allerdings gab es seit kurzem ein (jedoch sehr kontrovers diskutiertes) Zugeständnis, dass es auch auf den Stufen davor geschehen konnte, wenn eine der Parteien eine ausschließliche Monotheistin war. »Während dieser Pilgersache ist nahezu alles möglich. Entweder verlieren wir durch die Reise nach Kould Ves einen ganzen Tag, oder wir bringen uns in Gefahr.«

Jen Shinnan fuhr recht häufig nach Kould Ves, auch um lediglich Freunde zu besuchen oder einzukaufen. Alle Tanmind in der Oberstadt taten das und hatten es auch schon vor der Annexion getan. »Gab es irgendwelche nicht gemeldeten Schwierigkeiten?«, fragte Leutnantin Awn steif und verärgert. Doch äußerst höflich.

»Nun«, sagte Jen Taa. »Ich wollte es tatsächlich erwähnen, Leutnantin. Wir sind jetzt seit einigen Tagen hier, und meine Nichte scheint gewisse Probleme in der Unterstadt gehabt zu haben. Ich sagte zu ihr, es sei besser, nicht dorthin zu gehen, aber Sie wissen ja, wie Jugendliche sind, wenn man ihnen sagt, dass sie etwas nicht tun sollen.«

»Was für Probleme?«, fragte Leutnantin Awn.

»Ach«, sagte Jen Shinnan, »Sie kennen das bestimmt. Unfreundliche Worte, Drohungen — zweifellos leere, und natürlich nichts im Vergleich zu dem, was ihr in ein oder zwei Wochen bevorsteht, aber das Kind war ziemlich erschüttert.«

Das fragliche Kind hatte die vergangenen zwei Nachmittage damit zugebracht, auf den Vortempelteich zu starren und zu seufzen. Ich hatte sie einmal angesprochen, worauf sie den Kopf abwandte, ohne zu antworten. Danach hatte ich sie in Ruhe gelassen. Niemand hatte ihr Schwierigkeiten gemacht. Ich habe keine Probleme gesehen, signalisierte ich Leutnantin Awn.

»Ich werde sie im Auge behalten«, sagte Leutnantin Awn und nahm meine Information stumm mit einem Fingerzucken zur Kenntnis.

»Danke, Leutnantin«, sagte Jen Shinnan. »Ich wusste, dass wir auf Sie zählen können.«

»Sie halten das für witzig.« Leutnantin Awn bemühte sich, ihren verkrampften Unterkiefer zu entspannen. An der zunehmenden Anspannung ihrer Gesichtsmuskeln konnte ich erkennen, dass sie ohne Intervention bald Kopfschmerzen bekommen würde.

Leutnantin Skaaiat, die neben ihr lief, lachte laut auf. »Es ist pure Comedy. Verzeihen Sie mir, meine Liebe, aber je wütender Sie werden, desto gewissenhaft korrekter wird Ihre Ausdrucksweise und desto mehr werden Sie von Jen Shinnan missverstanden.«

»Sicherlich nicht. Sicherlich hat sie sich über mich erkundigt.«

»Sie sind immer noch wütend. Nein, schlimmer«, sagte Leutnantin Skaaiat, die sich bei Leutnantin Awn einhakte, »Sie sind wütend auf mich. Das tut mir leid. Und sie hat sich tatsächlich über Sie erkundigt. Sehr indirekt, sie war lediglich an Ihnen interessiert, was natürlich nur verständlich ist.«

»Und Sie haben geantwortet«, mutmaßte Leutnantin Awn, »gleichermaßen indirekt.«

Ich lief hinter ihnen, neben der Sieben Issa, die in Jen Shinnans Esszimmer nicht von meiner Seite gewichen war. Geradeaus, die Straße entlang und gegenüber am Vortempelteich konnte ich mich selbst sehen, wie ich auf dem Platz stand.

»Ich habe nichts Unwahres gesagt«, unterstrich Leutnantin Skaaiat. »Ich habe ihr erklärt, dass Leutnantinnen in Schiffen mit Hilfseinheiten häufig aus alten, hochrangigen Familien mit viel Geld und Klientinnen stammen. Ihre Verbindungen in Kould Ves hätten ihr etwas mehr sagen können, aber nicht viel. Einerseits haben sie Grund, Ihnen zu grollen, da Sie keine solche Person sind. Andererseits kommandieren Sie tatsächlich Hilfseinheiten und keine vulgären menschlichen Soldatinnen, was die Altmodischen genauso sehr verurteilen wie den Umstand, dass die Sprösslinge von unbedeutenden Häusern zu Offizierinnen ernannt werden. Sie respektieren Ihre Hilfseinheiten und missbilligen Ihre Vorgängerinnen. Jen Shinnan bekommt ein sehr ambivalentes Bild von Ihnen.« Sie sprach mit ruhiger Stimme, sodass nur jemand in unmittelbarer Nähe sie hören konnte, obwohl die Häuser, an denen wir vorbeikamen, verriegelt und in den unteren Stockwerken dunkel waren. Es war völlig anders als in der Unterstadt, wo die Leute noch bis spät in die Nacht fast auf der Straße saßen, sogar kleine Kinder.

»Außerdem«, sagte Leutnantin Skaaiat, »hat sie recht. Oh nein, nicht mit diesem Unsinn über die Orsai, aber sie hat recht mit ihrem Misstrauen, was die Eignungsprüfungen betrifft. Sie wissen selbst, dass die Tests leicht zu manipulieren sind.« Leutnantin Awn verspürte eine unangenehme Empörung über die Bloßstellung durch Leutnantin Skaaiat, sagte aber nichts dazu, sodass Leutnantin Skaaiat fortfuhr. »Seit Jahrhunderten wurden bei den Prüfungen für bestimmte Positionen nur die Reichen und jene mit guten Verbindungen als geeignet befunden. Zum Beispiel für Karrieren als militärische Offizierinnen. In den letzten fünfzig oder fünfundsiebzig Jahren galt das nicht mehr. Bringen die geringeren Häuser plötzlich viel mehr Offizierskandidatinnen hervor als früher?«

»Die Richtung Ihrer Ausführungen gefällt mir nicht«, erwiderte Leutnantin Awn und zupfte leicht an ihren verschränkten Armen, um sich von ihr zu lösen. »Das hatte ich nicht von Ihnen erwartet.«

»Nein, nein«, protestierte Leutnantin Skaaiat und ließ sie nicht los, zog sie noch näher heran. »Die Frage ist die richtige Frage und die Antwort genauso. Die Antwort lautet natürlich nein. Aber würde das bedeuten, dass die Prüfungen vorher manipuliert waren oder es jetzt sind?«

»Ihre Meinung dazu?«

»Beides. Vorher und jetzt. Und unsere Freundin Jen Shinnan versteht nicht gänzlich, dass diese Frage überhaupt gestellt werden kann — sie weiß nur, dass man die richtigen Verbindungen braucht, wenn man erfolgreich sein will, und sie weiß, dass die Eignungsprüfungen ein Teil davon sind. Und sie ist völlig ohne Scham — Sie haben gehört, wie sie andeutete, dass die Orsai für ihre Kollaboration belohnt werden, und fast im gleichen Atemzug deutete sie an, dass ihre Leute noch viel bessere Kollaborateurinnen wären! Und Sie haben zweifellos bemerkt, dass weder sie noch ihre Cousine ihre eigenen Kinder zur Prüfung schicken, sondern nur diese verwaiste Nichte. Trotzdem investieren sie in ihr Wohlergehen. Wenn wir sie um Schmiergeld gebeten hätten, damit ihre Nichte vorankommt, hätte sie es uns gegeben, ohne Frage. Es überrascht mich sogar, dass sie uns nichts angeboten hat.«

»Das würden Sie nicht tun«, protestierte Leutnantin Awn. »Niemals. Sie könnten ohnehin nichts für sie tun.«

»Ich müsste auch gar nichts tun. Das Kind wird bei der Prüfung gut abschneiden, wahrscheinlich zur Ausbildung in die Territorialhauptstadt geschickt werden, um dann einen netten Posten im öffentlichen Dienst zu übernehmen. Wenn Sie mich fragen, werden die Orsai in der Tat für die Kollaboration belohnt — auch wenn sie in diesem System nur eine Minderheit sind. Und nachdem die unvermeidlichen Unannehmlichkeiten der Annexion jetzt vorüber sind, möchten wir, dass die Leute allmählich erkennen, dass sie davon profitieren, Radchaai zu sein. Es ist wenig hilfreich, einheimische Häuser dafür zu bestrafen, dass sie nicht schnell genug kapituliert haben.«

Sie liefen eine Weile schweigend weiter und blieben am Rand des Teichs stehen, immer noch mit verschränkten Armen.

»Soll ich Sie nach Hause begleiten?«, fragte Leutnantin Skaaiat. Leutnantin Awn antwortete nicht, sondern blickte über den Teich, immer noch verärgert. Die grünen Oberlichter im schrägen Dach des Tempels strahlten, und Licht ergoss sich aus den offenen Türen auf den Platz und spiegelte sich auf dem Wasser — es war die Saison der Nachtwachen. Leutnantin Skaaiat sagte mit einem halb entschuldigenden Lächeln: »Ich habe Sie verärgert. Lassen Sie es mich wiedergutmachen.«

»Sicher«, sagte Leutnantin Awn mit einem leisen Seufzer. Sie konnte Leutnantin Skaaiat nie widerstehen, und es gab auch keinen echten Grund, es zu tun. Sie kehrten um und liefen am Ufer entlang.

»Was ist der Unterschied«, fragte Leutnantin Awn so leise, dass es schien, als würde das Schweigen gar nicht gebrochen werden, »zwischen Bürgerinnen und Nicht-Bürgerinnen?«

»Die einen sind zivilisiert«, sagte Leutnantin Skaaiat mit einem Lachen, »und die anderen sind es nicht.« Der Witz funktionierte nur auf Radchaai, weil Bürgerin und zivilisiert mit demselben Wort bezeichnet wurden. Wer Radchaai war, war zivilisiert.

»Also wurden die Shis’urnai, als die Herrin von Mianaai ihnen den Bürgerstatus verlieh, in genau diesem Augenblick zivilisiert.« Der Satz war ein logischer Zirkel — es war sehr schwierig, in dieser Sprache die Frage zu formulieren, die Leutnantin Awn stellen wollte. »Ich meine, irgendwann schießen Ihre Issas auf Leute, weil sie nicht respektvoll genug zu ihnen gesprochen haben — und sagen Sie mir nicht, dass so etwas nie geschehen ist, weil ich weiß, dass es so war und noch viel schlimmer —, und das alles spielte keine Rolle, weil sie keine Radchaai waren, weil sie nicht zivilisiert waren.« Leutnantin Awn griff teilweise auf ihr bekannte Begriffe aus der einheimischen orsianischen Sprache zurück, weil sie mit Radchaai-Worten nicht ausdrücken konnte, was sie sagen wollte. »Und alle Maßnahmen sind im Namen der Zivilisation gerechtfertigt.«

»Nun«, sagte Leutnantin Skaaiat, »Sie müssen zugeben, dass es effektiv war. Heutzutage werden wir alle mit großem Respekt angesprochen.« Leutnantin Awn schwieg. Sie war nicht amüsiert. »Wie ist es dazu gekommen?« Leutnantin Awn erzählte ihr von ihrem Gespräch mit der Oberpriesterin am Vortag.

»Ah. Gut. Seinerzeit haben Sie nicht protestiert.«

»Was hätte es genützt?«

»Absolut gar nichts«, antwortete Leutnantin Skaaiat. »Aber das ist nicht der Grund, warum Sie es nicht getan haben. Außerdem … auch wenn die Hilfseinheiten keine Leute verprügeln oder bestechlich sind oder vergewaltigen oder im Affekt Leute erschießen … diese Personen, die von menschlichen Soldatinnen erschossen wurden … vor hundert Jahren wären sie in Suspension eingelagert worden, um für künftige Hilfseinheitensegmente verwendet zu werden. Wissen Sie, wie viele wir noch eingelagert haben? Die Frachträume der Gerechtigkeit der Torren dürften mit genügend Hilfseinheiten für die nächsten eine Million Jahre gefüllt sein. Wenn nicht länger. Diese Leute sind so gut wie tot. Was ist also der Unterschied? Auch wenn es Ihnen nicht gefallen wird, sage ich Ihnen jetzt die Wahrheit: Luxus gibt es immer nur auf Kosten anderer. Einer der vielen Vorteile der Zivilisation ist, dass man das im Allgemeinen nicht sehen muss, wenn man es nicht sehen möchte. Man hat die Freiheit, den Nutzen zu genießen, ohne das eigene Gewissen zu belasten.«

»Es belastet Ihres nicht?«

Leutnantin Skaaiat lachte fröhlich, als würden sie über ein ganz anderes Thema diskutieren, ein Brettspiel oder ein gutes Teegeschäft. »Wenn man mit dem Wissen aufwächst, dass man es verdient hat, ganz oben zu stehen, dass die geringeren Häuser nur existieren, um der ruhmreichen Bestimmung des eigenen Hauses zu dienen, dann betrachtet man solche Dinge als selbstverständlich. Man wird mit der Überzeugung geboren, dass andere für die Kosten des eigenen Lebens bezahlen. So ist es nun mal. Was während der Annexion geschieht, ist ein gradueller Unterschied, kein essenzieller.«

»So kommt es mir nicht vor«, erwiderte Leutnantin Awn knapp und verbittert.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Leutnantin Skaaiat in freundlicherem Tonfall. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie Leutnantin Awn wirklich mochte. Ich wusste, dass Leutnantin Awn sie mochte, auch wenn Leutnantin Skaaiat manchmal Dinge sagte, die sie ärgerten, wie an diesem Abend. »Ihre Familie hat einen Teil dieser Kosten bezahlt, wie gering er auch immer sein mag. Vielleicht fällt es Ihnen deshalb leichter, Sympathie für jene aufzubringen, die für Sie bezahlen. Und ich bin mir sicher, dass es Ihnen schwerfällt, nicht daran zu denken, was Ihre eigenen Vorfahren durchgemacht haben, als sie annektiert wurden.«

»Ihre Vorfahren wurden niemals annektiert«, sagte Leutnantin Awn in beißendem Tonfall.

»Nun, einige wahrscheinlich doch«, räumte Leutnantin Skaaiat ein. »Aber sie sind nicht in der offiziellen Genealogie aufgeführt.« Sie hielt an und zwang Leutnantin Awn, neben ihr stehen zu bleiben. »Awn, meine gute Freundin. Machen Sie sich keine Sorgen um Dinge, an denen Sie nichts ändern können. Die Dinge sind, wie sie sind. Sie müssen sich keine Selbstvorwürfe machen.«

»Sie haben gerade gesagt, dass wir alle das tun.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Leutnantin Skaaiats Stimme klang sanft. »Aber Sie werden es trotzdem so verstehen, nicht wahr? Hören Sie, das Leben wird hier besser werden, weil wir hier sind. Es ist bereits besser geworden, nicht nur für jene, die hier leben, sondern auch für jene, die transplantiert wurden. Und selbst für Jen Shinnan, obwohl sie in diesem Moment völlig mit ihrem Ärger darüber beschäftigt ist, dass sie nicht mehr die höchste Autorität in Ors darstellt. Irgendwann wird sie sich damit abgefunden haben. Sie alle.«

»Und die Toten?«

»Sind tot. Es hat keinen Sinn, sich über sie den Kopf zu zerbrechen.«

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