Sehr geehrte Leser dieses Buches!
Sind Sie der Ansicht, dass ich Sie mit dieser Anrede korrekt angesprochen habe? Oder fühlen Sie sich ausgeschlossen, weil Sie weiblichen Geschlechts sind und finden, dass ich mich nicht nur an die Leser, sondern auch an die Leserinnen dieses Buches hätte wenden sollen? Diese Frage wird im Zuge des Gender-Mainstreaming und der Bemühungen zur Gleichstellung seit Jahren zum Teil leidenschaftlich debattiert.
Sprachwissenschaftler argumentieren, die Form »Leser« sei ein generisches Maskulinum. Das heißt, die Endung »-er« bezeichnet lediglich den Genus, also das grammatikalische Geschlecht, das nicht zwangsläufig mit dem Sexus, dem biologischen Geschlecht, identisch sein muss. Wenn die »Leser« angesprochen werden, ist das lediglich die sprachliche Grundform dieses Wortes, die selbstverständlich beide biologische Geschlechter einschließt.
Von feministischer Seite wird dagegen der Einwand vorgebracht, dass wir mit dem grammatikalischen Geschlecht natürlich auch das biologische assoziieren. Wenn von einem Arzt die Rede ist, denken wir automatisch an einen männlichen Mediziner und vergessen dabei, dass es ja auch Ärztinnen gibt. Das Problem mit dem generischen Maskulinum ist also, dass das Männliche als Norm und das Weibliche sozusagen nur als Ausnahme gekennzeichnet wird.
Politisch korrekt wäre es insofern, von »Lesern und Leserinnen« oder, um dem bislang benachteiligten Geschlecht entgegenzukommen, von »Leserinnen und Lesern« zu sprechen. Ein anderer Ansatz bemüht sich, nach Möglichkeit ganz auf geschlechtlich markierte Formen zu verzichten und sich stattdessen an die »Lesenden« zu wenden. Was jedoch bedeuten würde, dass man beispielsweise für den »Arzt« eine ganz neue Bezeichnung finden müsste.
Im Frühjahr 2013 wurde an der Universität Leipzig beschlossen, in allen offiziellen Texten das generische Femininum zu benutzen. Das heißt, dass von nun an nur noch von »Studentinnen« und »Professorinnen« die Rede ist, wobei selbstverständlich auch alle Personen männlichen Geschlechts mitgemeint sind. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich diese Regelung allgemein durchsetzen wird, aber es handelt sich zweifellos um einen zum Nachdenken anregenden Beitrag zur Debatte. Wie fühlt es sich für die Männer an, wenn sie aufgrund ihres Geschlechts erst an nachfolgender Stelle oder gar als »Sonderfall« genannt werden?
Genau dieses Szenario spielt Ann Leckies mehrfach preisgekrönter Roman Die Maschinen durch, das Buch, das Sie, sehr geehrte Leserinnen (und Leser), in den Händen halten. Das Besondere daran ist, dass dieser Umstand in weit größerem Ausmaß auf die deutsche Übersetzung zutrifft, als es beim englischen Original der Fall ist.
Die Ich-Erzählerin entstammt einer Kultur, in der geschlechtliche Unterschiede so gut wie keine Rolle spielen. Ihre Muttersprache, das Radchaai, kennt überhaupt keine Genus-Markierungen, was die Autorin zum Anlass genommen hat, im englischen Original als generische Form ausschließlich weibliche Pronomen zu verwenden. Doch gelegentlich kommuniziert Breq mit Vertretern anderer Kulturen, die sprachlich zwischen weiblichen und männlichen Personen unterscheiden. Und dann steht sie vor der schwierigen Frage, welche Genusformen sie benutzen soll. Denn in ihrem Fall kommt erschwerend hinzu, dass sie das Geschlecht fremder Personen oft nicht auf den ersten Blick eindeutig zuordnen kann. Und wenn sie eine fremde Sprache benutzt, fällt es ihr sichtlich schwer, für einen Mann das Pronomen »he« zu verwenden.
Nachdem ich die ersten paar Seiten dieses Buches übersetzt hatte, wurde mir schnell klar, dass ich vor einer schwierigen Entscheidung stehe. Im Original wird zum Beispiel für Lieutenant Awn durchgängig das Pronomen »she« verwendet, was sich natürlich problemlos mit »sie« übersetzen lässt. Aber was ist, wenn von »the lieutenant« die Rede ist? Im Englischen sind Formen wie »the lieutenant« oder »the doctor« (ähnlich wie im Radchaai) geschlechtlich unmarkiert. Doch im Deutschen muss ich mich zwischen einem männlichen oder weiblichen Artikel und einem »Arzt« oder einer »Ärztin« entscheiden. Wenn ich »der Leutnant« schreiben würde, wäre die Sache eindeutig männlich markiert. Damit es zum »sie« passt, muss ich konsequenterweise von »der Leutnantin« sprechen. Und logischerweise auch von »Ärztinnen«. Selbst aus einem »visitor« oder »friend« muss ich im Deutschen konsequent eine »Besucherin« und eine »Freundin« machen.
Damit ist die deutsche Übersetzung des Romans Ancillary Justice der amerikanischen Autorin Ann Leckie offenbar der erste literarische Text in Romanlänge, der konsequent im generischen Femininum geschrieben ist. Zumindest konnte ich bei einer schnellen Recherche keine Hinweise finden, dass so etwas schon einmal gemacht wurde.
Konsequent, aber nicht durchgängig, möchte ich hinzufügen. Falls Sie beim Lesen über die Gespräche mit Denz Ay und Arilesperas Strigan stolpern, denken Sie bitte daran, dass diese Dialoge eben nicht auf Radchaai geführt werden.
Und die Verwendung des generischen Femininums wirkt sich auf viele andere Kleinigkeiten aus, die auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Wundern Sie sich, wenn von »den Presger« die Rede ist? Fehlt da am Ende nicht ein »n«? So könnte man argumentieren, aber dann müsste man noch einen Schritt weitergehen und von »Presgerinnen« sprechen. Nein, in diesem Fall ist das »-er« keineswegs eine deutsche männliche Endung, sondern etwas ganz anderes.
Eine wichtige Figur des Romans ist »the Lord of the Radch«, im Englischen mit dem Pronomen »she« beschrieben. Ein Widerspruch? Welches Geschlecht hat »sie« denn nun wirklich? Keine Sorge, ich verrate es hier nicht. In der Übersetzung habe ich »die Herrin der Radch« daraus gemacht, weil ich finde, dass »die Herrin« — ein männliches Grundwort mit weiblicher Endung — das uneindeutige englische Begriffspaar »Lord«/»she« ziemlich gut wiedergibt.
Meine schwierige Entscheidung hatte zur Folge, dass die deutsche Ausgabe dieses Romans ein bis zwei Schritte weiter als die englische Originalausgabe geht. Denn im Deutschen lässt sich die Grundidee wirklich nicht anders umsetzen, es sei denn, ich hätte Formen wie »die Besuchenden« oder gar »die Leutnant« verwendet, die die Lesbarkeit des Textes nicht unbedingt verbessern würden. Es war keine leichte Aufgabe, das generische Femininum so konsequent wie möglich durchzuhalten, aber nach einer Weile war ich selbst erstaunt, wie schnell man sich daran gewöhnt. Für mich war es unter anderem auch ein hochinteressantes literarisches Experiment. Und genau das ist es ja, was richtig gute Science-Fiction ausmacht. Aber urteilen Sie selbst …
Bernhard Kempen