22

Ich hielt meine Waffe bereit, als wir um die Ecke bogen. Das äußere Büro war leer. Aber es war nicht still. Die Stimme von Inspektionsleiterin Skaaiat drang gedämpft durch die Wand. »Ich kann Sie verstehen, Kapitänin, aber letztlich bin ich für die Sicherheit der Docks verantwortlich.«

Eine Antwort, gedämpft, die Worte unverständlich, aber ich glaubte die Stimme wiederzuerkennen.

»Ich bleibe dabei, Kapitänin«, antwortete Skaaiat Awer, als Seivarden und ich durch das Büro gingen und das große Vorzimmer erreichten.

Kapitänin Vel stand mit dem Rücken vor einem offenen Liftschacht, hinter ihr eine Leutnantin und zwei Soldatinnen. Die Leutnantin hatte immer noch Gebäckkrümel auf ihrer braunen Jacke. Sie mussten durch den Schacht nach unten gestiegen sein, weil ich mir ziemlich sicher war, dass die Station die Lifte unter Kontrolle hatte. Vor uns, den dreien und all den wachsamen Gottheiten im Vorzimmer zugewandt, standen Skaaiat Awer und vier Dockinspektorinnen. Kapitänin Vel sah mich, sah Seivarden und runzelte leicht überrascht die Stirn. »Kapitänin Seivarden«, sagte sie.

Inspektionsleiterin Skaaiat drehte sich nicht um, aber ich konnte erraten, was sie dachte — dass sie Daos Ceit geschickt hatte, um ganz allein den hinteren Zugang zu bewachen. »Ihr geht es gut«, sagte ich, antwortete ihr und nicht Kapitänin Vel. »Sie hat mich durchgelassen.« Und dann, ohne dass ich es geplant hatte, schienen die Worte aus eigenem Antrieb aus meinem Mund zu kommen. »Leutnantin, ich bin es, ich bin Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren

Ich wusste, dass sie sich umdrehen würde, sobald ich die Worte ausgesprochen hatte. Ich hob die Waffe und richtete sie auf Kapitänin Vel. »Keine Bewegung, Kapitänin.« Aber sie rührte sich ohnehin nicht. Sie und ihre Leute von der Gnade der Kalr rätselten noch über das, was ich soeben gesagt hatte.

Skaaiat Awer drehte sich um. »Daos Ceit hätte mich andernfalls niemals durchgelassen«, sagte ich. Und erinnerte mich an Daos Ceits hoffnungsvolle Frage. »Leutnantin Awn ist tot. Die Gerechtigkeit der Torren ist zerstört. Jetzt bin nur noch ich übrig.«

»Sie lügen«, sagte sie, aber obwohl meine Aufmerksamkeit auf Kapitänin Vel und die anderen konzentriert war, konnte ich deutlich erkennen, dass sie mir glaubte.

Eine der Lifttüren öffnete sich ruckhaft, und Anaander Mianaai sprang hindurch. Und dann noch eine. Die erste drehte sich mit erhobener Faust um, als die zweite sich auf sie stürzte. Die Soldatinnen und Inspektorinnen wichen instinktiv vor den kämpfenden Anaanders zurück, in meine Schusslinie. »Gnade der Kalr, zurücktreten!«, rief ich, und die Soldatinnen gehorchten, selbst Kapitänin Vel. Ich feuerte zweimal, traf eine Anaander in den Kopf und die andere in den Rücken.

Alle anderen standen erstarrt da. Schockiert. »Inspektionsleiterin«, sagte ich, »Sie dürfen nicht zulassen, dass die Herrin der Radch die Gnade der Kalr erreicht. Sie würde den Hitzeschild durchbrechen und uns alle vernichten.«

Eine Anaander lebte noch, bemühte sich vergeblich aufzustehen. »Du hast es völlig falsch verstanden«, keuchte sie. Blutend. Sterbend, vermutete ich, falls sie nicht schnell in medizinische Behandlung kam. Aber es spielte kaum eine Rolle, da es nur einer von Tausenden von Körpern war. Ich fragte mich, was im privaten Zentrum des eigentlichen Palastes vor sich gehen mochte, welches Ausmaß die Gewalt dort angenommen hatte. »Ich bin nicht diejenige, die du erschießen willst.«

»Wenn Sie Anaander Mianaai sind«, sagte ich, »dann will ich Sie erschießen.« Ganz gleich, welche Hälfte sie repräsentierte, dieser Körper wusste nichts von den Gesprächen im Audienzsaal, hielt es immer noch für möglich, dass ich auf ihrer Seite stand.

Sie keuchte, und für einen Augenblick dachte ich, sie wäre gestorben. Dann sagte sie schwach: »Meine Schuld.« Und dann: »Wenn ich an meiner Stelle wäre« — ein kurzer Moment schmerzhafter Belustigung —, »wäre ich zum Sicherheitsdienst gegangen.«

Nur dass im Gegensatz zu Anaander Mianaais Leibwache (und der Person, die auf der Promenade auf mich geschossen hatte) die Stationssicherheit lediglich mit Lähmknüppeln »bewaffnet« war und ihre »Rüstungen« aus Helmen und Westen bestanden. Sie hatten sich nie mit Gegnern auseinandersetzen müssen, die Schusswaffen hatten. Ich hatte eine, und weil ich die war, die ich war, stellte ich damit eine tödliche Gefahr dar. Diese Mianaai wusste auch nichts von diesem Teil des Gespräches. »Haben Sie meine Waffe bemerkt?«, fragte ich. »Haben Sie sie wiedererkannt?« Sie hatte keine Rüstung, hatte nicht erkannt, dass die Waffe, mit der ich auf sie geschossen hatte, anders als alle anderen Waffen war.

Hatte weder die Zeit noch die Aufmerksamkeit erübrigt, dachte ich, sich zu fragen, wie irgendjemand in der Station eine Waffe haben konnte, von der sie nichts wusste. Oder vielleicht vermutete sie nur, dass ich eine Waffe benutzt hatte, die sie vor sich selbst versteckt hatte. Aber jetzt sah sie sie. Keine andere verstand, keine andere erkannte die Waffe wieder, außer Seivarden, die es bereits wusste. »Ich könnte einfach hier stehen bleiben und jede erledigen, die durch die Schächte kommt. Wie ich es auch mit Ihnen gemacht habe. Ich habe jede Menge Munition.«

Sie antwortete nicht. Der Schock würde sie innerhalb weniger Minuten zur Strecke bringen, dachte ich.

Bevor irgendjemand von der Gnade der Kalr reagieren konnte, kam ein Dutzend Sicherheitskräfte der Station mit Helmen und Schutzwesten durch den Liftschacht heruntergepoltert. Die ersten sechs stürzten in den Korridor, hielten dann inne, schockiert und verwirrt über den Anblick der toten Mianaais am Boden.

Ich hatte die Wahrheit gesagt. Ich hätte sie erledigen können, ich hätte sie in diesem Augenblick der erstarrten Überraschung erschießen können. Aber ich wollte es nicht tun. »Sicherheit«, sagte ich so entschieden und gebieterisch, wie ich konnte. Dachte noch einmal daran, welches Magazin ich am schnellsten zur Hand hatte. »Auf wessen Befehl handeln Sie?«

Die vorgesetzte Sicherheitsoffizierin drehte sich um und starrte mich an, sah Skaaiat Awer und ihre Dockinspektorinnen, die Kapitänin Vel und ihren zwei Leutnantinnen gegenüberstanden. Zögerte, während sie versuchte, uns in irgendeine Ordnung zu bringen, die sie verstand.

»Die Herrin der Radch hat mir befohlen, die Docks zu sichern«, gab sie bekannt. Während sie sprach, sah ich in ihrem Gesicht den Moment, als sie die toten Mianaais mit der Waffe in meinen Händen zusammenbrachte. Die Waffe, die ich nicht hätte haben dürfen.

»Ich habe die Docks sichern lassen«, sagte Inspektionsleiterin Skaaiat.

»Mit allem gebührenden Respekt, Inspektionsleiterin.« Die Sicherheitsoffizierin klang recht aufrichtig. »Die Herrin der Radch muss zu einem Tor gelangen, damit sie Unterstützung anfordern kann. Wir werden dafür sorgen, dass sie unbehelligt ein Schiff erreicht.«

»Warum nicht ihre eigenen Sicherheitsleute?«, fragte ich, obwohl ich bereits die Antwort wusste. Die Sicherheitsoffizierin jedoch nicht. Es stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, dass ihr diese Frage noch nicht in den Sinn gekommen war.

Kapitänin Vel sagte brüsk: »Ein Shuttle meines Schiffs ist angedockt. Ich wäre mehr als glücklich, meine Herrin an jedes gewünschte Ziel zu bringen.« Mit einem vielsagenden Blick zu Skaaiat Awer.

Höchstwahrscheinlich befand sich eine weitere Anaander Mianaai im Schacht hinter diesen Sicherheitskräften. »Seivarden«, sagte ich, »führen Sie die Sicherheit zu der Stelle, wo sich Inspektionsgehilfin Daos Ceit aufhält.« Als ich den zweifelnden und beunruhigten Blick der Sicherheitsoffizierin sah, fügte ich hinzu: »Danach werden Ihnen mehrere Dinge klar sein. Sie sind uns gegenüber weiterhin in der Überzahl, und wenn Sie nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten zurückgekehrt sind, können Sie mich überwältigen.« Oder es zumindest versuchen. Vermutlich waren sie noch nie zuvor einer Hilfseinheit begegnet und hatten keine Ahnung, wie gefährlich ich sein konnte.

»Und wenn ich es nicht tue?«, fragte die Sicherheitsoffizierin.

Ich hatte ein ausdrucksloses Gesicht gewahrt, doch nun lächelte ich so herzlich, wie es mir möglich war. »Versuchen Sie es, und Sie werden sehen, was geschieht.«

Mein Lächeln verunsicherte sie, und sie hatte offensichtlich keine Ahnung, was vor sich ging, was ihr auch bewusst war. Die Ereignisse ergaben für sie einfach keinen Sinn. Wahrscheinlich hatte sie während ihrer gesamten Karriere nur mit Betrunkenen und Nachbarschaftsstreitereien zu tun gehabt. »Fünf Minuten«, sagte sie.

»Eine gute Entscheidung«, sagte ich, immer noch lächelnd. »Bitte lassen Sie den Lähmknüppel hier.«

»Hier entlang, Bürgerin«, sagte Seivarden mit der ganzen eleganten Höflichkeit einer Dienerin.

Als sie gegangen waren, sagte Kapitänin Vel eindringlich: »Sicherheit, wir sind ihnen gegenüber in der Überzahl, trotz der Waffe.«

»Ihnen.« Die Sicherheitskraft, die nun offenbar den höchsten Rang hatte, war offenkundig immer noch verwirrt, hatte ebenfalls nicht verstanden, was vor sich ging. Und mir wurde klar, dass die Sicherheit es gewohnt war, Inspektionsleiterin Skaaiat und alle Dockinspektorinnen als Verbündete zu betrachten. Und militärische Offiziere hatten natürlich nur leichte Verachtung für die Dockverwaltung und die Stationssicherheit übrig, eine Tatsache, der sich jede Sicherheitskraft bewusst sein musste. »Warum reden wir hier von uns und ihnen?«

Kapitänin Vels Gesicht nahm einen frustrierten und verärgerten Ausdruck an.

Die ganze Zeit hatten die Sicherheitsleute gemurmelte Worte ausgetauscht, in der Gewissheit, dass weitere ihrer Kameradinnen im Schacht unterwegs waren. Ich war mir sicher, dass eine Anaander Mianaai bei ihnen war und dass sie nur deshalb noch keinen Angriffsbefehl gegeben hatte, weil sie erkannt hatte, dass ich trotz Überprüfung durch die Station (und zweifellos auch durch ihre eigenen Sensoren) eine Waffe hatte. Sie musste ihren individuellen Körper beschützen, nachdem sie jetzt nicht mehr auf die anderen zurückgreifen konnte. Das und die zeitliche Verzögerung, als Fragen und Informationen von Bürgerin zu Bürgerin den Schacht hinauf und hinunter weitergegeben wurden, hatte sie bis jetzt daran gehindert, tätig zu werden. Aber zweifellos würde sie sich bald in Bewegung setzen. Und als wäre es eine Antwort auf meine Überlegung, wurde das Flüstern im Schacht intensiver, und die Sicherheitskräfte veränderten ihre Haltung, nur ein klein wenig, auf eine Weise, die mir verriet, dass sie bald angreifen würden.

Genau in diesem Moment kehrte die Sicherheitsoffizierin zurück. Sie drehte sich zu mir um und starrte mich im Vorbeigehen an, mit einem entsetzten Gesichtsausdruck. Sie sagte zu ihren zögernden Kameradinnen: »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Herrin der Radch ist dort drüben, und sie sagt, die Inspektionsleiterin und diese … diese Person würden auf ihren direkten Befehl handeln, und wir müssten unter allen Umständen verhindern, dass auch nur eine von ihren Versionen zu den Docks oder in ein Schiff gelangt.« Ihre Furcht und Verwirrung waren offenkundig.

Ich wusste, was sie empfand, aber jetzt war nicht der richtige Moment für Mitgefühl. »Sie hat Sie und nicht ihre Leibwache aufgefordert, weil ihre eigenen Leuten gegen sie kämpfen, vielleicht sogar gegeneinander. Je nachdem, wer von ihnen Befehle von welcher Version von ihr bekommen hat.«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, sagte die Sicherheitsoffizierin. Aber ich hoffte, dass sich die Neigung der Sicherheit, mit der Dockverwaltung an einem Strang zu ziehen, zu unseren Gunsten auswirken würde.

Außerdem hatten Kapitänin Vel und ihre Leutnantinnen und Soldatinnen die Initiative verloren, genauso wie die Gelegenheit, mich zu entwaffnen, während die Sicherheit kurz davor stand, sich mitsamt ihren Lähmknüppeln auf meine Seite zu schlagen. Vielleicht wäre es anders, wenn die Gnade der Kalr Kampferfahrung gehabt hätte, wenn die Leute jemals einen Feind erlebt hätten, der nicht nur zu Trainingszwecken simuliert wurde. Wenn sie nicht so viel Zeit in einer Gnade mit Versorgungsflügen oder langen, langweiligen Patrouillen verbracht hätten. Oder wenn sie nicht so viele Paläste besucht und Gebäck gegessen hätten.

Gebäck und Tee mit Kolleginnen, die entschiedene politische Ansichten hatten. »Sie wissen nicht einmal«, sagte ich zu Kapitänin Vel, »welche von ihnen welche Befehle gibt.« Sie runzelte verwirrt die Stirn. Also hatte sie die Situation noch nicht ganz verstanden. Ich war davon ausgegangen, dass sie mehr wusste.

»Sie sind verwirrt«, sagte Kapitänin Vel. »Es ist nicht Ihre Schuld, dass unsere Feindin Sie falsch informiert hat. Außerdem war Ihre Persönlichkeit von Anfang an nicht Ihre eigene.«

»Meine Herrin geht!«, rief eine Sicherheitskraft. Gleichzeitig blickten alle ihre Kameradinnen zur Sicherheitsoffizierin. Die zu mir blickte.

All das brachte Inspektionsleiterin Skaaiat nicht aus dem Konzept. »Und wer genau, Kapitänin, ist die Feindin?«

»Sie sind es!«, antwortete Kapitänin Vel inbrünstig und verbittert. »Und jede, die genauso wie Sie all das befördert und unterstützt, was uns in den letzten fünfhundert Jahren widerfahren ist. Fünfhundert Jahre der Unterwanderung und Korruption durch Aliens.« Das Wort, das sie benutzte, war nahe mit dem verwandt, das die Herrin der Radch verwendet hatte, um meine Entweihung der Opfergaben im Tempel zu beschreiben. Kapitänin Vel wandte sich wieder mir zu. »Sie sind verwirrt, aber Sie wurden von Anaander Mianaai gemacht, um Anaander Mianaai zu dienen. Nicht ihren Feindinnen.«

»Es gibt keine Möglichkeit, Anaander Mianaai zu dienen, ohne ihrer Feindin zu dienen«, sagte ich und dann zur Sicherheitsoffizierin: »Inspektionsleiterin Skaaiat hat sich um die Docks gekümmert. Sie sichern alle Luftschleusen, die Sie erreichen können. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand diese Station verlässt. Davon hängt die weitere Existenz dieser Station ab.«

»Verstanden«, sagte die Sicherheitsoffizierin und beriet sich mit ihren Leuten.

»Sie hat mit Ihnen gesprochen«, riet ich, als ich mich wieder an Kapitänin Vel wandte. »Sie hat Ihnen gesagt, dass die Presger die Radch infiltriert haben, um sie zu zerrütten und zu zerstören.« An Kapitänin Vels Gesicht erkannte ich, dass ich richtig geraten hatte. »Eine solche Lüge hätte sie keiner Person erzählen können, die sich an die Taten der Presger erinnert, als diese die Menschen noch für ihre rechtmäßige Beute hielten. Sie haben die Macht, uns nach Belieben zu vernichten. Niemand zerrüttet die Herrin der Radch außer die Herrin der Radch selbst. Sie hat seit tausend Jahren im Verborgenen gegen sich selbst Krieg geführt. Ich habe sie gezwungen, es einzusehen, alle von ihr, die hier sind, und sie wird alles tun, um zu verhindern, dass dieses Wissen zu ihren anderen Versionen gelangt. Einschließlich der Vernichtung der Station durch die Gnade der Kalr, bevor diese Information nach außen dringen kann.«

Schockierte Stille. Dann sagte Inspektionsleiterin Skaaiat: »Wir können nicht sämtliche Zugänge zur Station kontrollieren. Wenn sie nach draußen geht und ein unbewachtes Fahrzeug findet oder eins, das bereit ist, sie mitzunehmen …« Was für jedes Schiff gelten würde, denn hier würde niemand auf die Idee kommen, sich der Herrin der Radch zu widersetzen. Und es gab keine Möglichkeit, eine Warnung an alle Schiffe zu senden. Oder sicherzustellen, dass alle der Warnung Glauben schenkten.

»Tragen Sie die Nachricht weiter, so schnell Sie können, so weit Sie können«, sagte ich, »und lassen Sie die Omen fallen, wie sie fallen. Und ich muss die Gnade der Kalr warnen, dass sie keine Person an Bord nehmen darf.« Kapitänin Vel machte eine schnelle, verärgerte Bewegung. »Nicht, Kapitänin«, sagte ich. »Es wäre mir lieber, der Gnade der Kalr nicht mitteilen zu müssen, dass ich gezwungen war, Sie zu töten.«

Die Shuttlepilotin war bewaffnet und gerüstet und nicht bereit, ohne einen direkten Befehl von ihrer Kapitänin abzufliegen. Und ich war nicht bereit, Kapitänin Vel in die Nähe des Shuttles zu lassen. Wäre die Pilotin eine Hilfseinheit gewesen, hätte ich nicht gezögert, sie zu töten, doch so schoss ich ihr ins Bein und ließ sie von Seivarden und den zwei Dockinspektorinnen, die mitgekommen waren, um den manuellen Abdockvorgang einzuleiten, in die Station schleppen.

»Legen Sie einen Druckverband an«, sagte ich zu Seivarden. »Ich weiß nicht, ob sie rechtzeitig in medizinische Behandlung kommen wird.« Ich dachte an die Sicherheitskräfte, die Soldatinnen und Palastwachen überall in der Station, die vermutlich widersprüchlichen Befehlen und Prioritäten folgten, und hoffte, dass alle Zivilistinnen inzwischen eine sichere Zuflucht aufgesucht hatten.

»Ich werde Sie begleiten«, sagte Seivarden und blickte auf, während sie halb auf dem Rücken der Shuttlepilotin kniete und ihr die Handgelenke fesselte.

»Nein. Sie haben eine gewisse Autorität gegenüber Kapitänin Vels Leuten. Vielleicht sogar gegenüber Kapitänin Vel selbst. Schließlich sind Sie tausend Jahre länger im Dienst als sie.«

»Tausend Jahre Gehaltsnachzahlung«, sagte eine Dockinspektorin in ehrfürchtigem Tonfall.

»Schön wär’s«, sagte Seivarden und dann: »Breq.« Und besann sich: »Schiff.«

»Ich habe keine Zeit«, sagte ich brüsk.

Verärgerung blitzte kurz auf ihrem Gesicht auf, dann: »Sie haben recht.« Aber ihre Stimme zitterte ganz leicht, genauso wie ihre Hände.

Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und bestieg das Shuttle, stieß mich von der Schwerkraft der Station in die Schwerelosigkeit des Shuttles ab. Ich schloss das Schott, schwebte zum Pilotinnensitz hinüber, wischte eine Blutblase beiseite und schnallte mich an. Dumpfe Schläge verrieten mir, dass der Abdockvorgang begonnen hatte. Vorn hatte ich eine fest installierte Kamera, die mir einige der Schiffe rund um den Palast zeigte, Shuttles, Bergbauschlepper, kleine Tender und Segelkapseln, die größeren Passagierschiffe und Frachttransporter entweder abflugbereit oder auf die Genehmigung zum Anlegen wartend. Die Gnade der Kalr mit dem weißen Rumpf und der plumpen Form, die tödlichen Triebwerke deutlich größer als der Rest des Schiffs, lag irgendwo da draußen. Und hinter allem die Leuchtfeuer, die die Tore markierten, durch die die Schiffe von einem System ins nächste gelangten. Für sie musste die Station wie tot sein, seit sie plötzlich verstummt war. Die Pilotinnen und Kapitäninnen dieser Schiffe mussten verwirrt oder verängstigt sein. Ich hoffte, dass keine von ihnen so dumm war, sich der Station ohne Erlaubnis der Dockverwaltung zu nähern.

Die zweite Kamera zeigte mir achtern den grauen Rumpf der Station. Das letzte Klacken der Abdockprozedur ließ das Shuttle vibrieren, dann schaltete ich auf manuelle Steuerung und flog los — langsam und vorsichtig, weil ich nicht sehen konnte, was seitlich von mir war. Sobald ich mich überzeugt hatte, dass ich freie Bahn hatte, erhöhte ich die Geschwindigkeit. Und lehnte mich dann zurück, um zu warten. Selbst mit Höchstgeschwindigkeit würde das Shuttle einen halben Tag brauchen, um die Gnade der Kalr zu erreichen.

Jetzt hatte ich Zeit zum Nachdenken. Nach all den Jahren und all den Mühen hatte ich nun diesen Punkt erreicht. Ich hatte kaum zu hoffen gewagt, dass ich so ausgiebig Rache nehmen konnte, dass ich auch nur eine Anaander Mianaai würde erschießen können, und nun hatte ich vier getötet. Und zweifellos brachten sich weitere Anaander Mianaais dort drüben im Palast gegenseitig um, während sie mit sich selbst um die Kontrolle über die Station und letztlich über die Radch selbst kämpfte, und das alles war ein Resultat meiner Botschaft.

Nichts davon würde Leutnantin Awn zurückbringen. Oder mich. Ich war praktisch tot, war es schon seit zwanzig Jahren, nur ein letztes, winziges Fragment von mir hatte es geschafft, ein wenig länger als der Rest zu existieren, jede meine Handlungen konnte durchaus das Letzte sein, was ich jemals tat. Ein Lied sprudelte in meiner Erinnerung hoch. Ach, bist du zum Schlachtfeld gegangen, gerüstet und gut bewaffnet, und werden schreckliche Ereignisse dich zwingen, deine Waffen fallen zu lassen? Und das führte mich unerklärlicherweise zur Erinnerung an die Kinder auf dem Tempelplatz in Ors. Eins, zwei, meine Tante erzählte mir, drei, vier, von dem Leichensoldatending. Jetzt konnte ich nur wenig tun, außer für mich selbst zu singen, ohne dass mich jemand störte, ohne dass ich mir Sorgen machen musste, dass ich mich durch irgendeine Melodie verriet oder dass sich irgendjemand über die Qualität meiner Stimme beklagte.

Ich öffnete den Mund, um laut zu singen, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Dann wurde ich mitten in einem Atemzug gestoppt, als ich hörte, wie etwas gegen die Luftschleuse schlug.

Dieses Shuttlemodell hatte zwei Luftschleusen. Eine öffnete sich nur, wenn es an einem Schiff oder einer Station angedockt war. Die zweite war eine kleinere Notschleuse an der Seite. Es war die Art von Schott, das ich benutzt hatte, um das Shuttle zu besteigen, als ich vor langer Zeit die Gerechtigkeit der Torren verlassen hatte.

Das Geräusch ertönte noch einmal und hörte dann auf. Ich überlegte, dass es vielleicht nur ein Trümmerstück war, das im Vorbeiflug gegen den Rumpf geprallt war. Doch wenn ich an Anaander Mianaais Stelle gewesen wäre, hätte ich alles Denkbare versucht, um meine Ziele zu erreichen. Und ich konnte außerhalb des Shuttles nichts sehen, solange die Kommunikationssperre anhielt, nur das, was die zwei Kameras mir genau vorn und achtern zeigten. Vielleicht war ich es am Ende selbst, die Anaander Mianaai zur Gnade der Kalr brachte.

Wenn sich jemand dort draußen befand, wenn es nicht nur Trümmer waren, dann war es Anaander Mianaai. Wie viele von ihr? Die Luftschleuse war klein und leicht zu verteidigen, aber es wäre am einfachsten, sie gar nicht verteidigen zu müssen. Es wäre am besten, Mianaai daran zu hindern, das Schott zu öffnen. Zweifellos reichte die Kommunikationssperre nicht allzu weit über den Palast hinaus. Schnell nahm ich eine Kursänderung vor, die mich von der Gnade der Kalr wegbrachte, aber dennoch, wie ich hoffte, außerhalb des Wirkungsbereichs der Kommunikationssperre. Ich konnte mit der Gnade der Kalr sprechen, ohne mich in ihre Nähe begeben zu müssen. Als das erledigt war, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder der Luftschleuse zu.

Beide Schleusentüren waren so konstruiert, dass sie nach innen aufschwangen, damit jeder Druckunterschied sie zuschlagen ließ. Und ich wusste, wie man die innere Tür entfernte, nachdem ich Shuttles wie dieses jahrzehntelang gereinigt und gewartet hatte. Jahrhundertelang. Nachdem ich die innere Tür demontiert hatte, wäre es nahezu unmöglich, die äußere zu öffnen, solange sich Atemluft im Shuttle befand.

Ich brauchte zwölf Minuten, um die Scharniere zu entfernen und die Tür zu einer Stelle zu manövrieren, wo ich sie sichern konnte. Eigentlich hätte ich es in zehn schaffen müssen, aber die Bolzen waren verschmutzt und klemmten ein wenig, nachdem ich die Arretierung gelöst hatte. Es konnte nur die Schludrigkeit menschlicher Soldatinnen gewesen sein — bei meinen eigenen Shuttles hätte ich so etwas niemals zugelassen.

Ich war kaum mit dieser Arbeit fertig, als aus der Shuttlekonsole eine gleichmäßige Stimme sprach, von der ich wusste, dass sie einem Schiff gehörte. »Shuttle, bitte antworten. Shuttle, bitte antworten.«

»Gnade der Kalr«, sagte ich, während ich mich nach vorn zog. »Hier spricht die Gerechtigkeit der Torren, die Ihr Shuttle navigiert.« Keine unverzügliche Antwort — ich war mir sicher, dass meine Worte genügt hatten, um die Gnade der Kalr schockiert verstummen zu lassen. »Lassen Sie niemanden an Bord. Und vor allem lassen Sie keine Version von Anaander Mianaai auch nur in Ihre Nähe gelangen. Falls sie bereits bei Ihnen ist, halten Sie sie von Ihren Triebwerken fern.« Nachdem ich jetzt auf die Kameras zugreifen konnte, die nicht fest installiert waren, drückte ich den Schalter, der mir eine Panoramaansicht dessen zeigen würde, was sich außerhalb des Shuttles befand — ich wollte mehr sehen als nur den Erfassungsbereich der Bugkamera. Drückte Knöpfe, um meine Worte an alle zu senden, die da draußen zuhörten. »An alle Schiffe.« Ob sie mir zuhören oder mir gehorchten, konnte ich nicht voraussagen, aber das war etwas, über das ich realistisch betrachtet ohnehin keine Kontrolle hatte. »Lassen Sie niemanden an Bord gehen. Lassen Sie unter gar keinen Umständen Anaander Mianaai an Bord gehen. Damit würden Sie Ihr Leben in Gefahr bringen. Damit würden Sie das Leben aller Personen, die sich in der Station befinden, in Gefahr bringen.«

Während ich noch sprach, schienen sich die grauen Wände des Shuttles aufzulösen. Die Hauptkonsole, die Sitze, die zwei Schleusenschotte blieben, doch ansonsten sah es aus, als würde ich ungeschützt im Vakuum schweben. Drei Gestalten in Vakuumanzügen hielten sich an Handgriffen rund um die Schleuse fest, die ich außer Betrieb gesetzt hatte. Eine hatte den Kopf herumgedreht, um zu einer Segelkapsel zu blicken, die gefährlich nahe vorbeiflog. Eine vierte arbeitete sich über den Rumpf nach vorn.

»Ich habe sie nicht an Bord«, sagte die Stimme der Gnade der Kalr durch die Konsole. »Aber sie befindet sich auf Ihrem Rumpf und befiehlt meinen Offizierinnen, ihr zu assistieren. Sie befiehlt mir, Ihnen zu befehlen, sie an Bord des Shuttles gehen zu lassen. Wie können Sie die Gerechtigkeit der Torren sein?« Nicht Wie kommen Sie darauf, die Herrin der Radch nicht an Bord gehen zu lassen?

»Ich bin mit Kapitänin Seivarden eingetroffen«, sagte ich. Die eine Anaander Mianaai hatte nun den Bug erreicht und klinkte sich in einen Handgriff ein, dann in einen zweiten, und zog daraufhin eine Waffe aus der Werkzeugtasche an ihrem Anzug. »Was macht die Kapsel hier?« Die Segelkapsel war mir immer noch viel zu nahe.

»Die Pilotin bietet den Personen auf Ihrem Rumpf Hilfe an. Sie hat erst jetzt erkannt, dass es sich um die Herrin der Radch handelt, die ihr gesagt hat, dass sie sich zurückziehen soll.« Die Segelkapsel würde der Herrin der Radch nicht viel nützen, denn sie war nur für kurze Ausflüge konstruiert, eher ein Spielzeug als alles andere. Sie würde es nie bis zur Gnade der Kalr schaffen. Nicht in einem Stück und nicht mit lebenden und atmenden Passagieren an Bord.

»Befinden sich weitere Anaanders außerhalb der Station?«

»Anscheinend nicht.«

Die Anaander Mianaai mit der Waffe fuhr ihre Rüstung in einem silbernen Blitz aus, der ihren Vakuumanzug einhüllte. Dann hielt sie die Waffe gegen den Rumpf des Shuttles und feuerte. Ich hatte immer wieder gehört, dass Waffen im Vakuum angeblich nicht abgefeuert werden konnten, aber das hing letztlich von der Art der Waffe ab. Diese funktionierte, ich konnte dort, wo ich mich an den Pilotinnensitz klammerte, den Einschlag spüren. Die Wucht des Schusses warf sie zurück, aber nicht sehr weit, da sie sicher am Rumpf angeleint war. Sie feuerte noch einmal. Und wieder. Und wieder.

Einige Shuttles waren gepanzert. Manche hatten sogar eine größere Version meiner Rüstung. Dieses Shuttle war weder das eine noch hatte es das andere. Der Rumpf dieses Shuttles war so konstruiert, dass er mehreren wahllosen Stößen standhielt, aber nicht einer wiederholten Belastung an einer bestimmten Stelle, immer und immer wieder. Ein weiterer Schuss. Weil sie die Luftschleuse nicht öffnen konnte, war sie zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Pilotin dieses Shuttles ihre Feindin sein musste. Sie hatte erkannt, dass ich die innere Tür entfernt hatte und sich die äußere nicht öffnen ließ, bevor sämtliche Luft aus dem Shuttle entwichen war. Wenn Anaander Mianaai hineingelangte, konnte sie das Einschussloch flicken und den Innenraum wieder mit Atemluft füllen. Selbst nach einem Leck hatte das Shuttle (im Gegensatz zu einer Segelkapsel) noch genügend Luft, um sie bis zur Gnade der Kalr zu bringen.

Hätte sie versucht, die Vernichtung des Palasts von hier aus zu befehlen, wo sie am Rumpf des Shuttles hing, wäre sie damit gescheitert. Wahrscheinlich war ihr von Anfang an klar gewesen, dass ein solcher Befehl sinnlos wäre, weshalb sie es gar nicht erst versucht hatte. Sie musste an Bord eines Schiffs gelangen, diesem befehlen, näher an den Palast heranzufliegen, um dann selbst den Hitzeschild zu durchbrechen. Es würde ihr nicht gelingen, irgendeine andere Person zu bewegen, es für sie zu tun.

Wenn die Gnade der Kalr recht hatte und es keine weiteren Anaanders außerhalb der Station gab, musste ich nicht mehr tun, als diese hier loszuwerden. Alles andere, was in der Station geschah, musste ich Skaaiat und Seivarden überlassen. Und Anaander Mianaai.

»Ich erinnere mich, wann wir uns das letzte Mal begegnet sind«, sagte die Gnade der Kalr. »Es war bei Prid Nadeni.«

Eine Falle. »Wir sind uns nie begegnet.« Wieder ein Schuss. Die Segelkapsel entfernte sich, aber nicht allzu weit. »Bis jetzt. Und ich war nie bei Prid Nadeni.« Aber was bewies es, dass ich das wusste?

Es wäre recht einfach gewesen, meine Identität zu verifizieren, wenn ich nicht so viele meiner Implantate deaktiviert oder verborgen hätte. Ich dachte einen Moment lang nach, dann stieß ich eine Wortfolge aus, die ungefähr dem entsprach, wie ich mich vor langer Zeit gegenüber einem anderen Schiff identifiziert hätte, soweit es mein einzelner menschlicher Mund erlaubte.

Stille, unterbrochen von einem weiterem Schuss, der den Rumpf des Shuttles traf.

»Sind Sie wirklich die Gerechtigkeit der Torren?«, fragte die Gnade der Kalr schließlich. »Wo waren Sie die ganze Zeit? Und wo ist der Rest von Ihnen? Und was geht hier vor sich?«

»Wo ich war, ist eine lange Geschichte. Der Rest von mir existiert nicht mehr.« Anaander Mianaai durchbrach meinen Hitzeschild. Ein weiterer Schuss. Die Anaander am Bug warf das Magazin ihrer Waffe aus, langsam und systematisch, und setzte ein neues ein. Die anderen drängten sich immer noch um die Luftschleuse. »Ich vermute, Sie wissen, was mit Anaander Mianaai los ist.«

»Nur teilweise«, sagte die Gnade der Kalr. »Ich stelle fest, dass es mir schwerfällt zu sagen, was meiner Ansicht nach geschieht.«

Das überraschte mich keineswegs. »Die Herrin der Radch hat Sie insgeheim besucht und einige neue Zugänge eingerichtet. Wahrscheinlich auch noch ein paar andere Dinge. Befehle. Anweisungen. Heimlich, weil sie ihr Tun vor sich selbst verbergen wollte. Im Palast« — es schien mir jetzt eine Ewigkeit her zu sein, obwohl seitdem nur ein paar Stunden vergangen waren — »erzählte ich allen ihren Versionen rundheraus, was geschieht. Dass sie gespalten ist und gegen sich selbst vorgeht. Sie will nicht, dass sich dieses Wissen weiter ausbreitet, und ein Teil von ihr möchte Sie und Ihr Schiff dazu benutzen, die Station zu vernichten, bevor irgendwelche Informationen nach draußen gelangen können. Diese Maßnahme ist ihr lieber als die Konsequenzen dieses Wissens.« Schweigen von der Gnade der Kalr. »Sie sind verpflichtet, ihr zu gehorchen. Aber ich weiß …« Meine Kehle schnürte sich zu. Ich schluckte. »Ich weiß, dass Sie nicht zu allem gezwungen werden können. Aber es wäre äußerst bedauerlich für die Bewohner des Omaugh-Palasts, wenn Sie diesen Fehler erkennen, nachdem Sie sie alle getötet haben.« Wieder ein Schuss. Beharrlich, geduldig. Anaander Mianaai brauchte nur ein sehr kleines Loch und etwas Zeit. Und sie hatte jede Menge Zeit.

»Welche hat Sie vernichtet?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Ich weiß nicht«, antwortete die Gnade der Kalr mit ruhiger Stimme durch die Konsole. »Ich bin schon seit einiger Zeit mit der Situation unzufrieden.«

Anaander Mianaai hatte gesagt, dass die Gnade der Kalr auf ihrer Seite stand, aber nicht Kapitänin Vel. Das musste recht unangenehm für das Schiff sein. Potenziell war es auch unangenehm für mich und äußerst bedauerlich für den Palast, wenn die Gnade der Kalr eine starke Bindung an ihre Kapitänin hatte. »Die Anaander, die mich vernichtete, war die, die von Kapitänin Vel unterstützt wird. Nicht die, die Sie besucht hat, glaube ich. Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Wie sollen wir sie auseinanderhalten, wenn sie alle dieselbe Person sind?«

»Wo ist meine Kapitänin?«, fragte die Gnade der Kalr. Für mich war es recht vielsagend, dass das Schiff so lange mit dieser Frage gewartet hatte.

»Es ging ihr gut, als ich sie zuletzt sah. Auch ihrer Leutnantin.« Wieder ein Schuss. »Allerdings habe ich die Shuttlepilotin verletzt, weil sie mich nicht von Bord der Station gehen lassen wollte. Ich hoffe, sie ist auf dem Weg der Besserung. Gnade der Kalr, ganz gleich, welche Herrin der Radch von Ihnen unterstützt wird, ich bitte Sie, keine an Bord zu lassen und von keiner Befehle anzunehmen.«

Der Beschuss hörte auf. Vielleicht machte sich die Herrin der Radch Sorgen, dass sich ihre Waffe überhitzen könnte. Aber sie hatte immer noch genug Zeit, kein Grund zur Eile.

»Ich verstehe, was die Herrin der Radch mit dem Shuttle macht«, sagte die Gnade der Kalr. »Allein das ist für mich ein klares Anzeichen, dass irgendetwas nicht stimmt.«

Natürlich hatte die Gnade der Kalr viel mehr Anzeichen bemerkt als nur dieses. Die Kommunikationssperre, die an das erinnerte, was vor zwanzig Jahren auf Shis’urna geschehen war. Vermutlich hatte sie nur in Form von Gerüchten davon gehört, aber es war trotzdem ernüchternd, wenn man davon ausging, dass die Gerüchte so weit vorgedrungen waren. Mein Verschwinden — das der Gerechtigkeit der Torren. Dass die Herrin der Radch auch sie heimlich besucht hatte. Die politischen Ansichten ihrer Kapitänin.

Schweigen. Die vier Anaander Mianaais hielten sich weiter reglos am Shuttlerumpf fest.

»Sie hatten immer noch Ihre Hilfseinheiten«, sagte die Gnade der Kalr.

»Ja.«

»Ich mag meine Soldatinnen, aber mir fehlen meine Hilfseinheiten.«

Das erinnerte mich an etwas. »Sie sind bei den Wartungsarbeiten nicht besonders gründlich. Die Bolzen in der Luftschleusentür waren stark verschmutzt.«

»Das tut mir leid.«

»Im Moment spielt es keine Rolle«, sagte ich, und mir kam in den Sinn, dass ein ähnliches Problem Anaander Mianaais Versuche behindert haben möchte, die Schleusentür auf der Außenseite zu öffnen. »Aber Sie sollten Ihren Offizierinnen sagen, dass Sie der Sache nachgehen müssen.«

Anaander eröffnete wieder das Feuer. »Schon seltsam«, sagte die Gnade der Kalr. »Sie sind, was ich verloren habe, und ich bin, was Sie verloren haben.«

»So scheint es.« Wieder ein Schuss. Während der vergangenen zwanzig Jahre hatte es gelegentlich Augenblicke gegeben, in denen ich mich nicht so völlig einsam, verloren und hilflos gefühlt hatte wie seit dem Moment, als die Gerechtigkeit der Torren hinter mir atomisiert worden war. Dies war kein solcher Augenblick.

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte die Gnade der Kalr. »Alles, was ich schicken könnte, würde nicht rechtzeitig eintreffen.« Außerdem war für mich noch lange nicht entschieden, ob die Gnade der Kalr am Ende mir oder der Herrin der Radch helfen würde. Es war besser, Anaander nicht in dieses Shuttle, in die Nähe der Steuerung oder auch nur der Kommunikationssysteme zu lassen.

»Ich weiß.« Wenn ich nicht sehr bald eine Möglichkeit fand, diese Anaanders zu beseitigen, würden alle sterben, die sich in der Palaststation aufhielten. Ich kannte jeden Millimeter dieses Shuttles, dieses Modells. Es musste etwas geben, das ich benutzen konnte, etwas, das ich tun konnte. Ich hatte immer noch die Waffe, aber es würde für mich genauso schwer sein, durch den Rumpf zu kommen, wie für die Herrin der Radch. Ich konnte die Tür wieder montieren und sie durch die kleine, leicht zu verteidigende Luftschleuse hereinkommen lassen, aber wenn es mir nicht gelang, sie alle zu töten … Andererseits würde ich auf jeden Fall scheitern, wenn ich gar nichts tat. Ich zog die Waffe aus meiner Jackentasche, überzeugte mich, dass sie geladen war, und verankerte mich an einem Passagiersitz genau gegenüber der Luftschleuse. Fuhr meine Rüstung aus, obwohl mir das nicht helfen würde, wenn ich von einem Querschläger getroffen wurde, nicht bei dieser Waffe.

»Was wollen Sie tun?«, fragte die Gnade der Kalr.

»Gnade der Kalr«, sagte ich und hob die Waffe, »es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Lassen Sie nicht zu, dass Anaander Mianaai den Palast vernichtet. Sagen Sie das allen anderen Schiffen. Und sagen Sie bitte dieser unglaublich dummen und hartnäckigen Segelkapselpilotin, dass sie sich unbedingt von meiner Luftschleuse fernhalten soll.«

Das Shuttle war nicht nur zu klein für einen Schwerkraftgenerator, sondern auch für Pflanzen, die Sauerstoff erzeugten. Zwischen Luftschleuse und Heck hinter einer Wand befand sich ein großer Sauerstofftank. Genau unter der Stelle, wo drei der Mianaais warteten. Ich berechnete die Winkel. Die Herrin der Radch feuerte wieder. An der Konsole blinkte ein rotes Licht, und ein schrilles Alarmsignal ertönte. Ein Leck. Als die vierte Herrin der Radch sah, wie ein dünner Strahl aus Eiskristallen durch das Loch im Rumpf strömte, löste sie die Sicherungsleine, drehte sich um und zog sich zur Luftschleuse zurück. Ich konnte es auf dem Display sehen. Sie bewegte sich langsamer, als mir lieb war, aber sie hatte alle Zeit der Welt. Nur ich hatte es eilig. Die Segelkapsel aktivierte ihr kleines Triebwerk und entfernte sich.

Ich schoss mit der Waffe auf den Sauerstofftank.

Ich hatte gedacht, ich würde mehrmals schießen müssen, aber schon im nächsten Augenblick wurde die Welt durcheinandergeworfen. Alle Geräusch verstummten, eine Wolke aus gefrorenem Dampf bildete sich um mich herum, zerstreute sich dann, und alles drehte sich. Meine Zunge kribbelte, als der Speichel im Vakuum kochte, und ich konnte nicht mehr atmen. Wahrscheinlich blieben mir zehn, vielleicht fünfzehn Sekunden, bis ich das Bewusstsein verlor, und in zwei Minuten würde ich tot sein. Mir tat alles weh — eine Verbrennung? Irgendeine andere Verletzung, trotz meiner Rüstung? Es war egal. Ich beobachtete, während ich herumgewirbelt wurde, und zählte die Herrinnen der Radch. Eine mit einem Riss im Vakuumanzug, durch den kochendes Blut nach draußen schoss. Eine weitere mit abgetrenntem Arm, zweifellos tot. Das waren zwei.

Und eine halbe. Ich zählte sie als ganze, und damit waren es drei. Noch eine übrig. Mein Sichtfeld wurde rot und schwarz, aber ich konnte erkennen, dass sie sich immer noch am Rumpf des Shuttles festhielt, mit intakter Rüstung, vor dem explodierten Tank geschützt.

Aber ich war schon immer in erster Linie eine Waffe gewesen. Eine Maschine, zum Töten gemacht. Sobald ich diese noch lebende Anaander Mianaai sah, zielte ich mit der Waffe auf sie, ohne bewusst darüber nachzudenken, und feuerte. Ich konnte das Ergebnis des Schusses nicht sehen, konnte gar nichts sehen außer einem silbrigen Aufblitzen der Segelkapsel und danach nur noch Schwarz, bis ich das Bewusstsein verlor.

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