Am nächsten Morgen waren die Korrektiva abgefallen, und die Blutergüsse in Seivardens Gesicht verblasst. Es schien ihr gut zu gehen, was aber kaum verwunderlich war, denn sie schien immer noch high zu sein.
Ich rollte das für sie gekaufte Kleiderbündel auseinander — Thermounterwäsche, wattiertes Hemd und Hose, Unter- und Übermantel mit Kapuze, Handschuhe — und legte alles für sie bereit. Dann nahm ich ihr Kinn und drehte ihren Kopf zu mir. »Können Sie mich hören?«
»Ja.« Ihre dunkelbraunen Augen starrten über meine linke Schulter ins Leere.
»Stehen Sie auf.« Ich zerrte an ihrem Arm, sie blinzelte träge und schaffte es, sich aufrecht hinzusetzen, bevor der Antrieb wieder nachließ. Doch es gelang mir etappenweise, sie anzukleiden, dann packte ich die herumliegenden Sachen zusammen, schulterte meinen Rucksack, nahm Seivarden am Arm und ging.
Am Stadtrand gab es einen Fliegerverleih, und die Inhaberin wollte, wie zu erwarten war, nur an mich vermieten, wenn ich das Doppelte der üblichen Kaution hinterlegte. Ich sagte ihr, dass ich nach Nordwesten fliegen wollte, um ein Lager von Viehhirten zu besuchen — eine glatte Lüge, was sie zweifellos durchschaute. »Sie sind nicht von hier«, sagte sie. »Sie wissen nicht, wie es außerhalb der Städte aussieht. Fremde fliegen immer wieder zu Hirtenlagern und verirren sich. Manchmal finden wir sie wieder, manchmal nicht.« Ich sagte nichts. »Sie werden meinen Flieger verlieren, und wo bleibe ich dann? Draußen im Schnee mit meinen hungrigen Kindern, das kann ich Ihnen sagen.« Neben mir starrte Seivarden irgendwohin ins Leere.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als eine hohe Kaution zu hinterlegen. Ich hatte die Befürchtung, dass ich das Geld nie wiedersehen würde. Die Inhaberin verlangte noch mehr, weil ich keine einheimische Pilotenlizenz vorweisen konnte — was meines Wissens gar nicht erforderlich war. Denn sonst hätte ich vorher eine gefälscht.
Schließlich gab sie mir den Flieger. Ich überprüfte den Motor, der sauber und in gutem Zustand zu sein schien, und den Treibstoffvorrat. Als ich damit fertig war, legte ich meinen Rucksack hinein, setzte Seivarden auf ihren Platz und bestieg den Pilotensitz.
Zwei Tage nach dem Sturm kam allmählich wieder das Schneemoos in blassgrünen Streifen zum Vorschein, die hier und da von dunkleren durchzogen waren. Als wir zwei Stunden später eine Hügelkette überflogen, verdunkelte sich das Grün auf dramatische Weise — unregelmäßig geäderte Flächen, wie Malachit in vielen Schattierungen glänzend. An einigen Stellen war das Moos von darauf weidenden Tieren verschmutzt und zertrampelt worden. Es waren Herden langhaariger Bov, die im Frühling südwärts zogen. An den Rändern der Pfade lauerten in sorgsam angelegten Tunneln die Eisteufel, die nur auf den Fehltritt eines Bov warteten, damit sie es hinunterzerren konnten. Ich sah keine Spur von ihnen, aber selbst Hirten, die ihr Leben lang den Rindern folgten, konnten nur selten sagen, ob einer in der Nähe war.
Der Flug war unproblematisch. Seivarden saß halb liegend und still neben mir. Wie hatte sie nur überlebt? Und wie konnte sie hierhergelangt sein? Es war so gut wie unmöglich. Doch es passierten immer wieder die unwahrscheinlichsten Dinge. Fast tausend Jahre bevor Leutnantin Awn überhaupt geboren war, hatte Seivarden ein eigenes Schiff geführt, die Schwert der Nathtas, und es verloren. Der größte Teil der menschlichen Besatzung, einschließlich Seivarden, hatte es in Rettungskapseln geschafft, doch ihre war nie geborgen worden, soweit ich gehört hatte. Doch nun war sie hier. Irgendjemand musste sie vor relativ kurzer Zeit gefunden haben. Sie hatte Glück, dass sie am Leben war.
Ich war sechs Milliarden Kilometer entfernt, als Seivarden ihr Schiff verlor. Ich patrouillierte gerade in einer Stadt aus Glas und geschliffenem rotem Stein, in der Totenstille herrschte, abgesehen vom Geräusch meiner Füße, den Gesprächen meiner Leutnantinnen oder dem Widerhall meiner Stimme, wenn ich sie gelegentlich auf den fünfeckigen Plätzen ausprobierte. Kaskaden roter, gelber und blauer Blumen schmückten die Mauern um die Häuser mit den fünfeckigen Höfen. Die Blumen verwelkten allmählich. Außer mir und meinen Offizierinnen traute sich niemand auf die Straße, denn alle wussten um das Schicksal, das mit großer Wahrscheinlichkeit nach einer Festnahme drohte. Stattdessen drängten sich die Leute in ihren Häusern zusammen, warteten ängstlich ab, erschraken, wenn sie eine meiner Leutnantinnen lachen oder mich singen hörten.
Meine Leutnantinnen und ich hatten nur sporadisch Ärger bekommen. Der Widerstand der Garseddai war symbolisch. Die Truppentransporter hatten sich geleert, die Schwerter und Gnaden waren größtenteils auf Wache im System. Die Repräsentantinnen aus den fünf Zonen der jeweils fünf Regionen, insgesamt fünfundzwanzig, die die verschiedenen Monde, Planeten und Stationen im Garseddai-System vertraten, hatten sich im Namen ihrer Wähler ergeben, und waren einzeln auf dem Weg zur Schwert der Amaat, um sich mit der Herrin der Radch, Anaander Mianaai, zu treffen und sie darum zu bitten, die Bevölkerung zu verschonen. Deshalb auch die Angst und das Schweigen in der Stadt.
In einem schmalen, rautenförmigen Park, an einem schwarzen Granitblock, auf dem die »Fünf richtigen Taten« und der Name der Garseddai-Patronin standen, die der einheimischen Bevölkerung die Lehrsätze einschärfen wollte, begegnete eine meiner Leutnantinnen einer anderen und beschwerte sich, dass diese Annexion enttäuschend langweilig gewesen war. Drei Sekunden später erhielt ich eine Nachricht von Kapitänin Seivardens Schwert der Nathtas.
Die drei Garseddai-Repräsentantinnen, die sich an Bord befanden, hatten zwei ihrer Leutnantinnen und zwölf Hilfseinheitensegmente der Schwert der Nathtas getötet. Sie hatten das Schiff beschädigt, Leitungen gekappt, den Schiffsrumpf leckgeschlagen. Dem Bericht beigefügt war eine Aufzeichnung von der Schwert der Nathtas — eine Waffe, die ein Hilfssegment unbestreitbar gesehen hatte, die aber gemäß den anderen Sensoren der Schwert der Nathtas gar nicht existierte. Eine Garseddai-Repräsentantin, die wider Erwarten eine silbrig schimmernde Radchaai-Rüstung trug, sichtbar nur für die Augen der Hilfseinheiten, feuerte den Schuss ab. Die Kugel durchschlug den Panzer der Hilfseinheit und tötete das Segment. Nachdem es die Augen verloren hatte, flimmerten die Waffe und die Rüstung wieder zurück in die Nichtexistenz.
Alle Repräsentantinnen waren durchsucht worden, bevor sie an Bord gelassen worden waren, und die Schwert der Nathtas hätte in der Lage sein sollen, sämtliche Waffen oder Schutzschildgeneratoren oder Implantate aufzuspüren. Rüstungen im Radchaai-Stil waren früher in den Regionen um die Radch weit verbreitet gewesen, doch diese Gebiete waren bereits eintausend Jahre vorher einverleibt worden. Bei den Garseddai waren sie nicht in Gebrauch, sie wussten nicht, wie man sie herstellte, und erst recht nicht, wie man sie benutzte. Und selbst wenn, diese Waffe und diese Kugeln waren schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.
Drei Personen mit einer solchen Waffe und Rüstungen konnten in einem Schiff wie der Schwert der Nathtas großen Schaden anrichten. Vor allem, falls es einer Garseddai gelang, bis zum Triebwerk vorzudringen und den Hitzeschild zu durchbrechen. Die Triebwerke von Radchaai-Kriegsschiffen brannten sonnenheiß, und ein defekter Hitzeschild führte zur sofortigen Verdampfung, zur Auflösung des gesamten Schiffs in einem kurzen hellen Lichtblitz.
Aber ich konnte nichts dagegen tun, niemand konnte etwas tun. Die Nachricht war fast vier Stunden alt, ein Signal aus der Vergangenheit, ein Geist. Die Sache war längst besiegelt gewesen, noch bevor ich davon erfahren hatte.
Ein schriller Ton erklang, und ein blaues Licht blinkte in der Konsole vor mir, gleich neben der Treibstoffanzeige. Eben noch war der Tank laut Anzeige fast voll gewesen, nun war er leer. Das Triebwerk würde sich in wenigen Minuten abschalten. Neben mir hatte sich Seivarden ruhig und entspannt auf dem Sitz ausgestreckt.
Ich landete.
Der Treibstofftank war so manipuliert worden, dass ich nichts bemerkt hatte. Er schien zu drei Vierteln voll zu sein, war es aber nicht, und das Warnsignal, das bei der Hälfte hätte ertönen sollen, war außer Funktion gesetzt worden.
Ich dachte an die doppelte Kaution, die ich bestimmt nie wiedersehen würde. An die Sorgen der Inhaberin, dass sie ihren wertvollen Flieger verlieren könnte. Es musste einen Sender geben, auch ohne dass ich einen Notruf auslöste. Die Inhaberin würde den Flieger bestimmt nicht verlieren wollen, sondern nur, dass ich allein im Niemandsland aus Schnee und Moos strandete. Ich konnte um Hilfe rufen — ich hatte zwar meine Kommunikationsimplantate deaktiviert, aber ich besaß ein Handgerät. Doch wir waren sehr, sehr weit von allen entfernt, die sich vielleicht dazu bewegen ließen, Unterstützung zu schicken. Und selbst wenn Hilfe kam — noch vor der Inhaberin, die mir offensichtlich nicht wohlgesinnt war —, würde ich nicht an mein Ziel gelangen, was mir sehr wichtig war.
Die Luft hatte minus achtzehn Grad. Ein leichter Südwind von ungefähr acht Kilometern pro Stunde bedeutete Schnee in naher Zukunft. Nichts Ernstes, wenn man sich auf den morgendlichen Wetterbericht verlassen konnte.
Meine Landung hatte eine grün gesäumte weiße Schmierspur im Schneemoos hinterlassen, die von der Luft aus unschwer zu erkennen war. Das Gelände war leicht hügelig, auch wenn die Hügel, die wir überflogen hatten, nun nicht mehr zu sehen waren.
Wäre es ein alltäglicher Notfall gewesen, hätten wir am besten im Flieger auf Hilfe gewartet. Aber es war nicht alltäglich, und ich rechnete nicht mit einer Rettung.
Sie würden entweder kommen, sobald ihnen der automatische Sender mitteilte, dass wir gestrandet waren, um uns zu töten, oder sie würden abwarten. Der Verleih hatte mehrere Fahrzeuge, und der Inhaberin würde es nichts ausmachen, mehrere Wochen zu warten, bis sie ihren Flieger zurückbekam. Wie sie selbst gesagt hatte, würde es niemanden überraschen, wenn sich eine Fremde im Schnee verirrte.
Ich hatte zwei Alternativen. Ich konnte hier warten und versuchen, alle Personen, die kommen würden, um mich zu töten und auszurauben, in einen Hinterhalt zu locken und dann ihr Transportmittel zu benutzen. Das wäre natürlich sinnlos, wenn sie es darauf angelegt hatten, dass Kälte und Hunger ihnen diese Arbeit abnahmen. Oder ich konnte Seivarden aus dem Flieger zerren, meinen Rucksack schultern und zu Fuß gehen. Mein Ziel lag ungefähr sechzig Kilometer südöstlich. Ich konnte es, wenn es sein musste, in einem Tag schaffen, sofern der Boden und das Wetter — und die Eisteufel — es zuließen, aber ich konnte mich glücklich schätzen, wenn Seivarden es in der doppelten Zeit schaffte. Das wäre natürlich sinnlos, wenn die Inhaberin nicht warten, sondern den Flieger so schnell wie möglich bergen wollte. Auf dem von Moos durchwachsenen Schnee würden wir Spuren hinterlassen, denen sie nur folgen mussten, um uns dann zu erledigen. Es würde mich höchstens um den Vorteil bringen, den ich hätte, wenn ich mich in der Nähe des gestrandeten Fliegers verstecken und sie überraschen würde.
Und ich konnte mich glücklich schätzen, wenn ich an meinem Zielort überhaupt etwas vorfand. Ich war in den vergangenen neunzehn Jahren den spärlichsten Hinweisen nachgegangen, hatte Wochen und Monate mit Suchen und Warten verbracht, nur unterbrochen von Momenten wie diesen, wo der Erfolg oder sogar das Leben vom Wurf einer Münze abhingen. Ich hatte Glück gehabt, überhaupt so weit gekommen zu sein. Vernünftig betrachtet konnte ich nicht damit rechnen, es noch weiter zu schaffen.
Eine Radchaai hätte diese Münze geworfen. Oder vielmehr eine ganze Handvoll, ein Dutzend, jede mit ihrer Bedeutung und ihrem Wert, und das Muster, in dem sie fielen, wäre die Landkarte des Schicksals, wie es Amaat vorherbestimmt hatte. Dinge geschehen, wie sie geschehen, weil die Welt ist, wie sie ist. Oder das Schicksal wird von den Göttern geformt, wie eine Radchaai sagen würde. Amaat wird als Licht begriffen, und der Begriff des Lichts zieht zwangsläufig den Begriff des Nicht-Lichts nach sich, womit der Ursprung von Licht und Dunkelheit gegeben ist. Das ist die erste Emanation: EtrepaBo, Licht / Dunkelheit. Die drei weiteren bauen auf der ersten auf und sind EskVar (Anfang / Ende), IssaInu (Bewegung / Stillstand) und VahnItr (Existenz / Nicht-Existenz). Diese vier Emanationen spalten und verbinden sich wieder auf unterschiedlichste Weise, um das Universum zu erschaffen. Alles, was ist, geht von Amaat aus.
Das kleinste, scheinbar unbedeutendste Ereignis ist Teil eines komplexen Ganzen, und um zu verstehen, warum ein bestimmtes Staubkorn auf eine bestimmte Stelle fällt und an einem besonderen Ort landet, müsste man Amaats Willen verstehen. So etwas wie »nur ein Zufall« gibt es nicht. Nichts geschieht aus Zufall, sondern weil die Gottheit es so bestimmt hat.
So lehrt es zumindest die offizielle Orthodoxie der Radchaai. Ich selbst habe die Religion nie richtig verstanden. Es wurde auch nie von mir verlangt. Und obwohl mich die Radchaai erschaffen hatten, war ich keine Radchaai. Ich scherte mich wenig um den Willen der Götter. Ich wusste nur, dass ich irgendwann zu meinem Bestimmungsort gelangen würde, wo auch immer das war.
Ich holte meinen Rucksack aus dem Flieger, öffnete ihn und nahm ein Ersatzmagazin heraus, das ich in meinem Mantel neben meiner Pistole verstaute. Ich schulterte den Rucksack, ging um den Flieger herum und öffnete die Tür auf der anderen Seite. »Seivarden«, sagte ich.
Sie rührte sich nicht, hauchte nur ein leichtes Hmmm. Ich nahm ihren Arm und zog, sodass sie in den Schnee hinaustaumelte.
Ich hatte es bis hierhin geschafft, weil ich einen Schritt nach dem anderen gegangen war. Ich wandte mich nach Nordosten, zog Seivarden mit und marschierte los.
Dr. Arilesperas Strigan, zu deren Haus ich hoffentlich unterwegs war, hatte früher als Ärztin eine Privatpraxis in der Station Dras Annia geführt, einer Aggregation von mindestens fünf verschiedenen Stationen, eine auf die andere gebaut, an einem Kreuzungspunkt von zwei Dutzend verschiedenen Routen weit außerhalb des Radch-Territoriums. Dorthin konnte es nahezu alles verschlagen, und so hatte sie im Laufe ihrer Arbeit eine große Vielfalt an Leuten mit sehr vielfältigen Vorgeschichten kennengelernt. Sie wurde mit Geld bezahlt, mit Gefälligkeiten, mit Kunstgegenständen und nahezu allem, das irgendeinen Wert haben mochte.
Ich war dort gewesen, hatte die Station mit ihren verschachtelten, sich durchdringenden Schichten besucht, hatte gesehen, wo Strigan gearbeitet und gelebt hatte, und was sie zurückgelassen hatte, als sie eines Tages ohne erkennbaren Grund Passagen für fünf verschiedene Raumschiffe kaufte und dann verschwand. Einen Kasten voller Saiteninstrumente, von denen ich nur drei benennen konnte. Fünf Regale voller Ikonen, eine schwindelerregende Sammlung von Gottheiten und Heiligen aus Holz, aus Muscheln und Gold. Ein Dutzend Waffen, jede sorgfältig mit der Zulassungsnummer der Station markiert. Es waren Sammlungen, die mit einem einzelnen in Zahlung genommenen Objekt begonnen hatten, das sie neugierig gemacht hatte. Strigans Miete war 150 Jahre im Voraus bezahlt worden, weshalb die Verwaltung der Station ihre Wohnung nicht angerührt hatte.
Ich bestach jemanden, um hineinzukommen und die Sammlung sehen zu können, wegen der ich gekommen war. Ein paar fünfeckige Fliesen, deren Farben nach tausend Jahren immer noch hell leuchteten. Eine flache Schale mit vergoldetem Rand, mit einer Inschrift rundum in einer Sprache, die Strigan unmöglich hatte lesen können. Ein flaches Rechteck aus Plastik, von dem ich wusste, dass es ein Aufnahmegerät war. Auf Knopfdruck produzierte es Gelächter, Stimmen, die in der gleichen toten Sprache redeten.
Die Sammlung war zwar klein, aber bestimmt nicht leicht zusammenzustellen gewesen. Artefakte der Garseddai waren selten, denn als Anaander Mianaai klar geworden war, dass die Garseddai imstande waren, Radchaai-Schiffe zu zerstören und Radchaai-Rüstungen zu durchdringen, hatte sie die komplette Vernichtung von Garsedd und seiner Bewohnerinnen angeordnet. Die fünfeckigen Plätze, die Blumen, alles Leben auf allen Planeten, Monden und allen Stationen des Systems waren verschwunden. Niemand würde dort jemals wieder leben. Niemand sollte jemals vergessen, wozu es führte, wenn man die Radch herausforderte.
Hatte ihr vielleicht eine Patientin die Schale gegeben, und wollte sie daraufhin nach mehr Informationen suchen? Und wenn ein Gegenstand der Garseddai dort gelandet war, was könnte es sonst noch geben? Vielleicht hatte eine Patientin sie damit bezahlt, die gar nicht wusste, was es war — oder sie wusste es und wollte es unbedingt loswerden. Vielleicht hatte es dazu geführt, dass Strigan flüchten musste, dass sie verschwand und fast ihren gesamten Besitz zurückließ. Vielleicht war es etwas Gefährliches, und sie konnte sich nicht durchringen, es zu zerstören, um sich endlich davon zu befreien.
Etwas, das ich unbedingt haben wollte.
Ich wollte so schnell wie möglich so weit wie möglich kommen, weshalb wir stundenlang marschierten und nur ganz kurze Pausen machten, wenn es unbedingt nötig war. Obwohl es am Tag klar und so hell war, wie es auf Nilt werden konnte, fühlte ich mich auf eine Weise blind, die ich, wie ich gedacht hatte, inzwischen zu ignorieren gelernt hatte. Einst hatte ich zwanzig Körper gehabt, zwanzig Augenpaare und ein paar Hundert weitere, auf die ich bei Bedarf oder auf Wunsch zurückgreifen konnte. Jetzt konnte ich nur in eine Richtung blicken, konnte die große Weite hinter mir nur sehen, wenn ich den Kopf drehte und das, was vor mir lag, ausblendete. Um dem zu entgehen, mied ich gewöhnlich zu offene Flächen und achtete darauf, was hinter mir lag; aber hier war das unmöglich.
Mein Gesicht brannte trotz der sehr sanften Brise, wurde dann gefühllos. Zuerst taten mir die Hände und Füße weh — ich hatte weder Handschuhe noch Stiefel mit der Absicht gekauft, sechzig Kilometer in der Kälte zu gehen —, dann wurden sie schwer und taub. Ich hatte Glück, dass ich nicht im Winter gekommen war, wenn die Temperaturen noch sehr viel tiefer sinken konnten.
Seivarden fror bestimmt genauso, aber sie ging Schritt für Schritt apathisch voran, während ich sie mitzog, schleifte die Füße durch Moos und Schnee, starrte zum Boden, ohne sich zu beklagen oder überhaupt zu sprechen. Als die Sonne fast den Horizont erreicht hatte, verlagerte sie leicht die Schultern und hob den Kopf. »Ich kenne das Lied«, sagte sie.
»Was?«
»Das Lied, das Sie summen.« Träge wandte sie mir den Kopf zu, ihr Gesicht wirkte weder verängstigt noch verwirrt. Ich fragte mich, ob sie sich bemüht hatte, ihren Akzent zu verbergen. Vermutlich nicht — so wie sie auf Kef war, kümmerte es sie wohl kaum. Im Hoheitsgebiet der Radch erkannte man an diesem Akzent Angehörige von wohlhabenden und einflussreichen Häusern, Personen, die mit fünfzehn Jahren die Eignungsprüfung ablegten und später eine prestigeträchtige Stellung übernehmen würden. Außerhalb des Hoheitsgebietes assoziierte man mit diesem Akzent reiche, korrupte und kaltherzige Schurken, wie sie in tausend Unterhaltungsprogrammen auftraten.
Das leise Geräusch eines Fliegers erreichte uns. Ich drehte mich um, ohne stehen zu bleiben, suchte den Horizont ab und sah ihn ganz klein in der Ferne. Er flog tief und langsam, folgte offensichtlich unserer Spur. Es war mit Sicherheit kein Rettungsflieger. Die Münzen waren falsch gefallen, und nun waren wir diesen Leuten schutzlos ausgeliefert.
Wir gingen weiter, während sich das Geräusch des Fliegers näherte. Wir wären ihm auch dann nicht entkommen, wenn Seivarden nicht gestolpert wäre. Sie fing sich wieder, aber sie war eindeutig am Ende ihrer Kräfte. Wenn sie unverhofft redete, etwas von ihrer Umgebung wahrnahm, kam sie wahrscheinlich allmählich herunter. Ich hielt an, ließ ihren Arm los, und sie blieb neben mir stehen.
Der Flieger zog über uns hinweg, drehte ein und landete etwa dreißig Meter vor uns auf unserem Weg. Entweder hatten sie keine Möglichkeit, uns aus der Luft zu erschießen, oder sie wollten es gar nicht. Ich legte meinen Rucksack ab und löste die Verschlüsse meines Außenmantels, um besser an meine Waffe zu kommen.
Vier Leute stiegen aus dem Flieger — die Inhaberin, von der ich das Fahrzeug gemietet hatte, zwei Leute, die ich nicht kannte, und die Person aus der Bar, die mich »tapferes kleines Mädchen« genannt hatte und die ich eigentlich hatte töten wollen. Ich ließ meine Hand in den Mantel gleiten und griff nach der Waffe. Meine Möglichkeiten waren eingeschränkt.
»Haben Sie den Verstand verloren?«, rief die Inhaberin, als sie fünfzehn Meter entfernt waren. Alle vier blieben stehen. »Man bleibt beim Flieger, wenn er defekt ist, damit wir Sie finden können.«
Ich schaute die Person aus der Bar an, sah, dass sie mich erkannte und merkte, dass auch ich sie erkannt hatte. »In der Bar sagte ich, wer versuchen sollte, mich auszurauben, würde sterben«, rief ich ihr in Erinnerung. Sie zog eine Grimasse.
Eine der Personen, die ich nicht kannte, zog plötzlich von irgendwo eine Waffe hervor. »Wir werden es nicht nur versuchen«, sagte sie.
Ich zog meine Waffe, feuerte und traf sie im Gesicht. Sie brach im Schnee zusammen. Bevor die anderen reagieren konnten, erschoss ich die Person aus der Bar, die ebenso zu Boden ging, dann die Person neben ihr, alle drei schnell hintereinander in weniger als einer Sekunde.
Die Inhaberin stieß einen Fluch aus, drehte sich um und wollte flüchten. Ich schoss ihr in den Rücken. Sie machte noch drei Schritte, bevor sie zusammenbrach.
»Mir ist kalt«, sagte Seivarden neben mir seelenruhig und völlig unbeteiligt.
Sie hatten den Flieger unbewacht gelassen. Alle vier Insassen hatten sich mir genähert. Dumm. Die ganze Unternehmung war dumm und völlig planlos gewesen, wie es schien. Ich musste nur Seivarden und meinen Rucksack in ihren Flieger laden und starten.
Der Wohnsitz von Arilesperas Strigan war aus der Luft kaum zu erkennen, ein Kreis von wenig mehr als fünfunddreißig Metern Durchmessern, in dem das Schneemoos sichtlich heller und dünner war. Ich landete außerhalb des Kreises und wartete einen Moment, um die Lage einzuschätzen. Aus diesem Blickwinkel war offensichtlich, dass es zwei Gebäude gab, schneebedeckte Hügel. Es hätte auch ein unbewohntes Hirtenlager sein können, aber wenn ich mich auf meine Informationen verlassen konnte, war es das nicht. Es waren weder eine Mauer noch ein Zaun zu sehen, aber ich wollte daraus keine Schlüsse auf die Sicherheitsvorkehrungen ziehen.
Nach gründlicher Überlegung öffnete ich die Fahrzeugtür, stieg aus und zog Seivarden hinter mir heraus. Wir gingen langsam bis zur Stelle, wo sich der Schnee veränderte, wobei auch Seivarden innehielt, wenn ich es tat. Sie stand gleichgültig da und starrte ins Leere.
Weiter hatte ich nicht planen können. »Strigan!«, rief ich und wartete, aber es kam keine Antwort. Ich ließ Seivarden stehen, wo sie war, und lief den Kreis ab. Die Eingänge zu den beiden Gebäuden in den Schneehügeln lagen seltsam im Schatten. Ich blieb stehen und schaute noch einmal hin.
Beide standen offen, und im Innern war es dunkel. Solche Gebäude hatten zweifellos Doppeltüren — wie bei einer Luftschleuse, um die Wärme drinnen zu halten —, aber ich hätte nicht gedacht, dass jemand überhaupt eine Tür offen lassen würde.
Entweder hatte Strigan die Gebäude gesichert oder nicht. Ich trat über die Linie in den Kreis. Nichts geschah.
Die inneren und die äußeren Türen standen offen, und es gab kein Licht. In einem der Häuser war es drinnen genau so kalt wie draußen. Mit etwas Licht hätte ich vermutlich einen Lagerraum für Werkzeug, versiegelte Nahrungspakete und Treibstoff vorgefunden. Im anderen betrug die Innentemperatur zwei Grad Celsius — ich vermutete, dass es bis vor Kurzem beheizt worden war. Anscheinend Wohnräume. »Strigan!«, rief ich in die Dunkelheit, aber wie das Echo meiner Stimme zurückhallte, musste das Haus leer sein.
Wieder draußen fand ich die Spuren, wo ihr Flieger gestanden hatte. Also war sie fort, und die offenen Türen und die Dunkelheit waren eine Botschaft für jene, die hierherkommen mochten. Für mich. Ich war nicht in der Lage herauszufinden, wohin sie verschwunden war. Ich blickte in den leeren Himmel hinauf und wieder auf die Abdrücke ihres Fliegers. Ich stand eine Weile da und betrachtete die leere Stelle.
Als ich zu Seivarden zurückkehrte, hatte sie sich in den grün gesprenkelten Schnee gelegt und war eingeschlafen.
Hinten im Flieger fand ich eine Laterne, einen Kocher, ein Zelt und Bettzeug. Mit der Laterne ging ich in das Gebäude, in dem ich den Wohnbereich vermutete, und schaltete sie ein.
Große Teppiche in hellen Farben bedeckten den Boden. An den Wänden hingen Webteppiche in Blau und Orange und in einem Grün, das den Augen wehtat. Niedrige Bänke mit Kissen säumten den Raum. Außer den Bänken und den grellen Wandbehängen gab es nur wenig. Ein Brettspiel mit Spielmarken, aber das Brett hatte ein Lochmuster, das ich nicht kannte, und ich verstand auch nicht die Aufteilung der Spielmarken zwischen den Löchern. Ich fragte mich, mit wem Strigan gespielt hatte. Vielleicht war das Spielbrett nur Dekoration. Es war fein geschnitzt, und die Spielfiguren waren knallbunt.
Auf einem Tisch in der Ecke stand eine hölzerne Kiste, ein langes Oval mit einem geschnitzten, durchbohrten Deckel und drei straff darüber gespannten Schnüren. Das Holz war blassgolden mit einer welligen, gekräuselten Maserung. Die in den flachen Deckel geschnitzten Löcher waren genauso unregelmäßig und komplex wie die Maserung im Holz. Es war ein schönes Objekt. Ich zupfte an der Schnur, und ein sanfter Ton erklang.
Türen führten zur Küche, zum Bad, zu den Schlafzimmern und zu dem, was offensichtlich eine kleine Krankenstation war. Ich öffnete eine Schranktür und sah ordentlich aufeinander gestapelte Korrektiva. In jeder Schublade, die ich herauszog, waren Instrumente und Medikamente. Vielleicht war sie zu einem Hirtenlager unterwegs, um Erste Hilfe zu leisten. Aber da Licht und Heizung ausgeschaltet und die Türen offen waren, stand das wohl außer Frage.
Wenn nicht ein Wunder geschah, war dies das Ende von neunzehn Jahren Planung und Mühen.
Die Schaltzentrale des Hauses befand sich hinter einer Klappe in der Küche. Ich stellte fest, dass die Energieversorgung in Ordnung war, schloss sie wieder an und schaltete Heizung und Licht ein. Dann ging ich nach draußen, holte Seivarden und schleifte sie ins Haus.
Ich machte eine Pritsche aus Decken, die ich in Strigans Schlafzimmer gefunden hatte, dann zog ich Seivarden aus, legte sie darauf und häufte noch mehr Decken über sie. Sie wachte nicht auf, und ich nutzte die Zeit, um das Haus gründlicher zu erkunden.
Die Schränke waren mit Lebensmitteln gefüllt. Auf einer Theke stand ein Becher, am Boden eine dünne Schicht einer grünlichen Flüssigkeit. Daneben lagen in einer weißen Schale die letzten Stücke einer dicken Scheiben von vertrocknetem Brot, das sich in halb gefrorenem Wasser auflöste. Es sah so aus, als wäre Strigan gegangen, ohne nach einer Mahlzeit aufzuräumen, wobei sie so gut wie alles zurückgelassen hatte — Essen, Medikamente. Ich sah im Schlafzimmer nach, fand dort warme Kleidung in gutem Zustand. Sie war überstürzt aufgebrochen, ohne viel mitzunehmen.
Sie wusste, was sie besaß. Natürlich, sonst hätte sie gar nicht flüchten müssen. Wenn sie nicht dumm war — und ich war überzeugt, dass sie es nicht war —, war sie gegangen, als ihr bewusst wurde, was ich war. Und nun flüchtete sie so weit wie möglich vor mir.
Aber wohin mochte sie gegangen sein? Wenn ich die Macht der Radch repräsentierte und sie sogar hier, so weit vom Radch-Territorium und von ihrem eigenen Zuhause entfernt, aufgespürt hätte, wohin konnte sie gehen, um am Ende nicht doch gefunden zu werden? Das war ihr bestimmt bewusst. Aber welcher andere Ausweg blieb ihr noch?
Bestimmt wäre sie nicht so dumm zurückzukehren.
Unterdessen würde Seivarden bald krank werden, wenn ich kein Kef für sie auftreiben konnte. Aber das hatte ich nicht vor. Außerdem gab es hier zu essen und Wärme und vielleicht konnte ich etwas finden, einen Hinweis, einen Anhaltspunkt darauf, was in Strigan in dem Moment vorgegangen sein mochte, als sie dachte, die Radch wäre hinter ihr her, was sie zur Flucht veranlasst hatte. Etwas, das mir verraten würde, wohin sie gegangen war.