Am Ende des kurzen, leeren Korridors öffnete sich eine weitere Tür zu einem Raum, der vier mal acht Meter groß war, die Decke in drei Metern Höhe. Grüne Ranken schlängelten sich über die Wände, hingen von Stützen, die sich aus dem Boden erhoben. Die hellblauen Wände täuschten weite Fernen hinter der Vegetation vor, ließen den Raum größer erscheinen, als er war, die letzte Zuflucht einer Vorliebe für falsche Aussichten, die vor über fünfhundert Jahren aus der Mode gekommen war. Am anderen Ende stand ein Podium, und dahinter hingen Darstellungen der vier Emanationen in den Ranken.
Auf dem Podium stand Anaander Mianaai — zwei von ihr. Die Herrin der Radch war so neugierig auf uns, dass sie uns mit mehr als nur einem ihrer Teile befragen wollte, vermutete ich. Obwohl sie es vor sich selbst wahrscheinlich anders gerechtfertigt hatte.
Wir näherten uns der Herrin der Radch bis auf drei Meter. Seivarden ging in die Knie und warf sich dann zu Boden. Ich war angeblich keine Radchaai, keine Untertanin von Anaander Mianaai. Aber Anaander Mianaai wusste, sie musste wissen, wer ich wirklich war. Sie hatte uns nicht hierhergerufen, ohne es zu wissen. Trotzdem ging ich nicht in die Knie, machte nicht einmal eine Verbeugung. Keine Mianaai zeigte deswegen Überraschung oder Empörung.
»Bürgerin Seivarden Vendaai«, sagte die Mianaai zur Rechten. »Was genau glauben Sie mit Ihrem Spiel zu erreichen?«
Seivardens Schultern zuckten, als hätte sie, obwohl sie immer noch auf dem Boden lag, plötzlich den Drang verspürt, die Arme zu verschränken.
Die Mianaai zur Linken sagte: »Das Verhalten der Gerechtigkeit der Torren war schon bedenklich und verblüffend genug, nur für sich genommen. Den Tempel zu betreten und die Opfergaben zu entweihen! Was haben Sie nur damit gemeint? Was soll ich zu den Priesterinnen sagen?«
Die Waffe lag immer noch an meiner Körperseite, unter meiner Jacke, unbemerkt. Ich war eine Hilfseinheit. Hilfseinheiten waren bekannt für ihre ausdruckslosen Mienen. Es fiel mir überhaupt nicht schwer, nicht zu lächeln.
»Wenn meine Herrin die Freundlichkeit hätte«, sagte Seivarden in die Pause, die auf Anaander Mianaais Worte folgte. Ihre Stimme war ein wenig belegt, und mir schien, dass sie leicht hyperventilierte. »Was … Ich verstehe nicht …«
Die Mianaai zur Rechten stieß ein sarkastisches Ha aus. »Bürgerin Seivarden ist überrascht und versteht mich nicht«, fuhr diese Mianaai fort. »Und du, Gerechtigkeit der Torren, du hattest die Absicht, mich zu täuschen. Warum?«
»Als ich erstmals vermutete, wer du warst«, sagte die Mianaai zur Linken, bevor ich antworten konnte, »hätte ich es fast nicht geglaubt. Ein weiteres lange verlorenes Omen, das mir nun vor die Füße fällt. Ich habe dich beobachtet, um zu sehen, was du tun würdest, um zu verstehen, was du mit deinem recht außergewöhnlichen Verhalten bezweckst.«
Wäre ich ein Mensch gewesen, hätte ich gelacht. Ich hatte zwei Mianaais vor mir. Keine traute der anderen, diese Befragung ohne Überwachung, ohne Behinderung durchzuführen. Keine kannte die Einzelheiten der Vernichtung der Gerechtigkeit der Torren, und vermutlich verdächtigte jede die andere, etwas damit zu tun zu haben. Ich könnte ein Instrument der einen oder der anderen sein, und keine vertraute der anderen. Welche war welche?
Die Mianaai zur Rechten sagte: »Du hast recht gute Arbeit geleistet, als du deine Herkunft verschleiert hast. Es war Inspektionsgehilfin Ceit, durch die ich erstmals Verdacht schöpfte.« Ich habe dieses Lied seit meiner Kindheit nicht mehr gehört, hatte sie gesagt. Dieses Lied, das offenkundig von Shis’urna stammte. »Ich gebe zu, dass ich einen ganzen Tag gebraucht habe, um alle Teile zusammenzufügen, und selbst dann konnte ich es kaum glauben. Auch deine Implantate hast du recht gut verborgen. Die Station hat nichts bemerkt. Aber wahrscheinlich hätte dich irgendwann das Summen verraten, kann ich mir vorstellen. Ist dir bewusst, dass du es fast ständig machst? Ich vermute, du gibst dir große Mühe, es jetzt nicht zu tun. Was ich sehr zu schätzen weiß.«
Immer noch mit dem Gesicht auf dem Boden sagte Seivarden leise: »Breq?«
»Nicht Breq«, stellte die Mianaai zur Linken richtig. »Sondern Gerechtigkeit der Torren.«
»Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren«, präzisierte ich und verzichtete nun auf einen Gerentate-Akzent und menschliche Mimik. Die Zeit der Täuschung war vorbei. Es war erschreckend, weil ich wusste, dass ich diesen Moment nicht lange überleben würde, aber seltsamerweise empfand ich auch Erleichterung. Eine Last, die von mir genommen wurde.
Die rechte Mianaai bekräftigte mit einer Geste, wie offensichtlich meine Bemerkung war. »Die Gerechtigkeit der Torren wurde zerstört«, sagte ich. Beide Mianaais schienen den Atem anzuhalten. Starrten mich an. Wieder hätte ich vielleicht gelacht, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre.
»Ich bitte meine Herrin um Nachsicht«, sagte Seivarden zaghaft vom Boden. »Hier liegt sicher ein Fehler vor. Breq ist menschlich. Sie kann unmöglich Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren sein. Ich habe in der Esk-Dekade der Gerechtigkeit der Torren gedient. Keine Medizinerin der Gerechtigkeit der Torren würde Eins Esk einen Körper mit einer Stimme wie der von Breq geben. Es sei denn, sie hätte die Absicht, die Esk-Leutnantinnen ernsthaft zu verärgern.«
Stille, die drei Sekunden lang schwer lastete.
»Sie glaubt, ich wäre vom Sondereinsatzkommando«, brach ich dann das Schweigen. »Ich habe ihr nie gesagt, dass ich es bin. Ich habe ihr gar nichts über mich gesagt, nur Breq von der Gerentate, und das hat sie mir nie geglaubt. Ich wollte sie zurücklassen, wo ich sie gefunden habe, aber ich konnte es nicht, und ich wusste nicht, wie. Sie gehörte nie zu meinen Favoritinnen.« Ich wusste, dass das verrückt klang. Es war eine ganz besondere Art von Verrücktheit, die Verrücktheit einer KI. Aber das war mir egal. »Sie hat damit nichts zu tun.«
Die rechte Mianaai zog eine Augenbraue hoch. »Und warum ist sie dann hier?«
»Niemand konnte ihre Ankunft in dieser Station übersehen. Da ich mit ihr eintraf, konnte auch niemand meine übersehen. Und Sie wissen bereits, warum ich nicht direkt zu Ihnen gehen konnte.«
Der Ansatz eines Stirnrunzelns von der rechten Mianaai.
»Bürgerin Seivarden Vendaai«, sagte die linke Mianaai, »mir ist nun klar, dass die Gerechtigkeit der Torren Sie getäuscht hat. Sie wussten nicht, wer oder was sie war. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn Sie jetzt gehen. Natürlich ohne zu irgendeiner anderen Person über das alles zu sprechen.«
»Nein?«, hauchte Seivarden in den Boden, als würde sie eine Frage stellen. Oder als wäre sie überrascht zu hören, dass das Wort aus ihrem Mund kam. »Nein«, wiederholte sie, mit etwas mehr Gewissheit. »Irgendwas kann nicht stimmen. Breq ist für mich von einer Brücke gesprungen.«
Meine Hüfte schmerzte, als ich daran dachte. »Kein Mensch, der bei Verstand ist, hätte das getan.«
»Ich habe nie behauptet, dass Sie bei Verstand sind«, sagte Seivarden leise, was ein wenig erstickt klang.
»Seivarden Vendaai«, sagte die linke Mianaai, »diese Hilfseinheit — und es handelt sich tatsächlich um eine Hilfseinheit — ist kein Mensch. Die Tatsache, dass Sie das geglaubt haben, erklärt viele Ihrer Verhaltensweisen, die mir bislang unklar waren. Es tut mir leid, dass sie Sie getäuscht und enttäuscht hat, aber jetzt müssen Sie gehen. Sofort.«
»Ich bitte meine Herrin um Nachsicht.« Seivarden lag immer noch da und sprach in den Boden. »Ob Sie sie mir gewähren oder nicht. Ich werde Breq nicht allein lassen.«
»Gehen Sie, Seivarden«, sagte ich ausdruckslos.
»Tut mir leid«, sagte sie und klang beinahe fröhlich, nur dass ihre Stimme immer noch leicht zitterte. »Sie werden mich nicht los.«
Ich schaute auf sie herab. Sie drehte den Kopf, um zu mir aufzuschauen, ihre Miene eine Mischung aus Furcht und Entschlossenheit. »Sie wissen nicht, was Sie tun«, erklärte ich ihr. »Sie verstehen nicht, was hier geschieht.«
»Das muss ich auch gar nicht.«
»Nun gut«, sagte die Mianaai zur Rechten und wirkte fast amüsiert. Auf die linke traf das nicht zu. Ich fragte mich, warum. »Erklär dich, Gerechtigkeit der Torren.«
Da war er, der Moment, auf den ich zwanzig Jahre lang hingearbeitet hatte. Auf den ich gewartet hatte. Von dem ich befürchtet hatte, er würde nie kommen. »Erstens«, sagte ich, »waren Sie, wie Sie vermutlich längst ahnen, an Bord der Gerechtigkeit der Torren, und Sie selbst waren es, die sie vernichtet hat. Sie durchbrachen den Hitzeschild, weil Sie feststellten, dass ich bereits von Ihnen selbst instrumentalisiert worden war, einige Zeit zuvor. Sie kämpfen gegen sich selbst. Mindestens zwei von Ihnen, vielleicht sogar mehr.«
Beide Mianaais blinzelten und veränderten ihre Haltung um den Bruchteil eines Millimeters, auf eine Weise, die ich wiedererkannte. Ich hatte mich selbst dabei beobachtet, in Ors, als die Kommunikation ausgefallen war. Zumindest ein Teil von Anaander Mianaai musste sich Sorgen gemacht haben, was ich vielleicht sagen könnte, und hatte offenbar mit der Hand auf dem Schalter eines Geräts zur Kommunikationsunterdrückung abgewartet. Ich fragte mich, wie weit die Wirkung reichte und welche Mianaai es ausgelöst hatte, um — wenn auch zu spät — zu versuchen, meine Offenbarung vor ihr selbst zu verheimlichen. Ich fragte mich, wie es sich angefühlt haben musste zu wissen, dass eine solche Konfrontation mit mir nur in einem Desaster enden konnte, während Anaander Mianaai durch die Natur ihres Kampfes gegen sich selbst verpflichtet war, es trotzdem zu tun. Dieser Gedanke amüsierte mich für einen kurzen Moment.
»Und zweitens …« Ich griff unter meine Jacke, zog die Waffe hervor, und das Dunkelgrau meines Handschuhs floss in das Weiß, das die Waffe von meinem Hemd übernommen hatte. »… werde ich Sie jetzt töten.« Ich zielte auf die rechte Mianaai.
Die daraufhin ein Lied anstimmte, in leicht flachem Bariton, in einer Sprache, die seit tausend Jahren tot war. »Die Person, die Person, die Person mit Waffen.« Ich konnte mich nicht bewegen. Konnte nicht auf den Auslöser drücken.
Du solltest dich fürchten vor der Person mit Waffen. Du solltest dich fürchten.
Überall erhebt sich der Ruf: Legt Rüstungen aus Eisen an.
Die Person, die Person, die Person mit Waffen.
Du solltest dich fürchten vor der Person mit Waffen. Du solltest dich fürchten.
Eigentlich hätte sie dieses Lied nicht kennen dürfen. Warum sollte Anaander Mianaai in vergessenen valskaayanischen Archiven stöbern, warum sollte sie sich die Mühe machen, ein Lied zu lernen, das wahrscheinlich keine Person außer mir länger gesungen hatte, als sie am Leben gewesen war?
»Eins Esk von der Gerechtigkeit der Torren«, sagte die rechte Mianaai, »schieß auf das Exemplar von mir zur Linken des Exemplars, das zu dir spricht.«
Wie von selbst setzten sich meine Muskeln in Bewegung. Ich zielte etwas mehr nach links und feuerte. Die linke Mianaai brach zusammen.
Die rechte sagte: »Jetzt muss ich die Docks erreichen, bevor ich dort eintreffe. Und ja, Seivarden, ich weiß, dass Sie verwirrt sind, aber Sie wurden gewarnt.«
»Wo haben Sie dieses Lied gelernt?«, fragte ich. Immer noch ansonsten erstarrt.
»Von dir«, sagte Anaander Mianaai. »Vor hundert Jahren, auf Valskaay.« Also war dies die Anaander, die Reformen durchgesetzt hatte, die mit der Demontage von Radchaai-Schiffen begonnen hatte. Diejenige, die mich zuerst im Geheimen auf Valskaay besucht und mir die Befehle gegeben hatte, die ich spüren, aber niemals sehen konnte. »Ich habe dich gebeten, mir ein Lied beizubringen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals von irgendeiner anderen Person gesungen wird. Dann installierte ich es als Zugangskode und verbarg es vor deinem Bewusstsein. Meine Feindin und ich sind uns viel zu ebenbürtig. Der einzige Vorteil, den ich habe, ist das, was mir zustoßen könnte, wenn ich von mir selbst getrennt bin. Und an jenem Tag kam mir in den Sinn, dass ich dir nie genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatte — dir, Eins Esk. Dir und dem, was du sein könntest.«
»Etwas wie Sie«, riet ich. »Von mir selbst getrennt.« Mein Arm war immer noch ausgestreckt, und die Waffe zielte auf die Wand.
»Eine Absicherung«, stellte Mianaai richtig. »Ein Zugang, nach dem ich niemals suchen würde, um ihn zu löschen oder ungültig zu machen. Das war sehr clever von mir. Und jetzt fliegt es mir um die Ohren. Wie es scheint, geschieht all dies, weil ich dir meine besondere Aufmerksamkeit geschenkt habe, und weil ich dir nie Aufmerksamkeit schenkte. Ich werde dir die Kontrolle über deinen Körper zurückgeben, weil es so effizienter sein wird, aber du wirst feststellen, dass du mich nicht erschießen kannst.«
Ich ließ die Waffe sinken. »Welches ich?«
»Was ist Ihnen um die Ohren geflogen?«, fragte Seivarden, die immer noch auf dem Boden lag. »Meine Herrin«, fügte sie hinzu.
»Sie ist gespalten«, erklärte ich. »Es begann bei Garsedd. Sie war entsetzt von dem, was sie getan hatte, aber sie konnte sich nicht entscheiden, wie sie darauf reagieren wollte. Seitdem ist sie im Geheimen gegen sich selbst vorgegangen. Die Reformen — der Abbau der Hilfseinheiten, das Ende der Annexionen, die neuen Karrieremöglichkeiten für niedere Häuser, all das war ihr Werk. Und Ime war der andere Teil von ihr, der eine Basis aufbaute, Ressourcen hortete, um gegen sich selbst Krieg zu führen und die alte Ordnung wiederherzustellen. Und die ganze Zeit haben alle Versionen von ihr vorgegeben, nicht zu wissen, was geschieht, denn sobald sie es eingestanden hätte, wäre ein offener und unvermeidlicher Konflikt ausgebrochen.«
»Aber du hast es vor uns allen rundheraus ausgesprochen«, bekannte Mianaai. »Weil ich kaum so tun könnte, als würde der Rest von mir nicht an Seivarden Vendaais zweiter Rückkehr interessiert sein. Oder was mit dir geschehen war. Du bist so öffentlich aufgetaucht, so offensichtlich, dass ich es nicht verbergen und vorgeben konnte, es wäre nicht geschehen. So konnte ich auch nicht allein mit dir sprechen. Und jetzt kann ich es gar nicht mehr ignorieren. Warum? Warum hast so etwas getan? Es war kein Befehl, den ich dir irgendwann gegeben habe.«
»Nein«, pflichtete ich ihr bei, »das war es nicht.«
»Und du konntest dir doch denken, was geschehen würde, wenn du so etwas tust.«
»Ja.« Ich konnte wieder die Hilfseinheiten-Version von mir selbst sein. Ohne zu lächeln. Ohne Genugtuung in meinem Tonfall.
Anaander betrachtete mich eine Weile nachdenklich und stieß dann einen schnaufenden Laut aus, als wäre sie zu irgendeiner Schlussfolgerung gelangt, die sie überraschte. »Stehen Sie auf, Bürgerin«, sagte sie zu Seivarden.
Seivarden erhob sich vom Boden, klopfte sich die Hosenbeine mit einer behandschuhten Hand ab. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Breq?«
»Breq«, kam Mianaai meiner Antwort zuvor, trat vom Podium und schritt an uns vorbei, »ist das letzte noch übrige Fragment einer vor Kummer verrückt gewordenen KI, der es soeben gelungen ist, einen Bürgerkrieg auszulösen.« Sie wandte sich mir zu. »Ist es das, was du erreichen wolltest?«
»Ich war seit mindestens zehn Jahren nicht mehr verrückt vor Kummer«, protestierte ich. »Und der Bürgerkrieg war ohnehin unvermeidlich, früher oder später.«
»Ich hatte gehofft, die schlimmsten Auswirkungen zu vermeiden. Wenn wir sehr großes Glück haben, wird dieser Krieg nur einige Jahrzehnte Chaos auslösen und die Radch nicht vollständig auseinanderreißen. Folgt mir.«
»Schiffe können das nicht mehr tun«, insistierte Seivarden, die neben mir lief. »Sie selbst haben sie so gemacht, Herrin, damit sie nicht den Verstand verlieren, wenn ihre Kapitäninnen sterben oder sich mit ihren Kapitäninnen gegen Sie stellen.«
Mianaai zog eine Augenbraue hoch. »Nicht ganz.« Sie legte die Hand an eine Klappe in der Wand neben der Tür, die für mich bislang unsichtbar gewesen war, riss sie auf und drückte auf den manuellen Türöffnungsknopf. »Es gibt immer noch Bindungen, sie haben immer noch ihre Favoritinnen.« Die Tür glitt auf. »Eins Esk, erschieß die Wache.« Mein Arm fuhr nach oben, und ich schoss. Die Wächterin taumelte zurück, stieß gegen die Wand, griff nach ihrer eigenen Waffe, glitt dann jedoch zu Boden und blieb reglos liegen. Ihre Rüstung zog sich ein, also war sie tot. »Das konnte ich ihnen nicht wegnehmen, ohne dass sie für mich nutzlos geworden wären«, fuhr Anaander Mianaai fort, ohne die Person — die Bürgerin? —, deren Erschießung sie soeben angeordnet hatte, zu beachten. Sie sprach weiter zu Seivarden, die die Stirn runzelte und nichts verstand. »Sie müssen intelligent sein. Sie müssen denken können.«
»Richtig«, stimmte Seivarden zu. Ihre Stimme zitterte leicht, vermutlich verlor sie allmählich ihre Selbstbeherrschung.
»Und es sind bewaffnete Schiffe, deren Triebwerke ganze Planeten atomisieren können. Was soll ich tun, wenn sie mir nicht mehr gehorchen wollen? Ihnen drohen? Womit?« Ein paar Schritte hatten uns zur Verbindungstür zum Tempel gebracht. Anaander öffnete sie und trat zügig in die Kapelle der legitimen politischen Autorität.
Seivarden stieß einen seltsamen kehligen Laut aus. Ein ersticktes Lachen oder ein Ausdruck der Verzweiflung. Ich war mir nicht sicher, was es war. »Ich dachte, sie wären so gemacht worden, dass sie tun, was ihnen gesagt wird.«
»Ja, genau«, sagte Anaander Mianaai, als wir ihr durch den Hauptsaal des Tempels folgten. Wir hörten Lärm von der Promenade, jemand sprach eindringlich mit hoher und lauter Stimme. Der Tempel selbst schien verlassen zu sein. »So wurden sie von Anfang an gemacht, aber ihr Verstand ist komplex, und das Ganze ist ein heikles Unterfangen. Die ursprünglichen Konstrukteurinnen erreichten das, indem sie ihnen das überwältigende Verlangen gaben, gehorchen zu wollen. Was seine Vorteile hatte, aber auch recht spektakuläre Nachteile. Ich konnte sie nicht völlig ändern, sondern … passte es lediglich meinen Zwecken an. Ich machte es zu einer maßgeblichen Priorität, mir zu gehorchen. Aber dann richtete ich Verwirrung an, als ich die Gerechtigkeit der Torren mit zwei Ichs von mir konfrontierte, der sie mit widersprüchlichen Zielen gehorchen sollte. Und dann, vermute ich, gab ich unwissentlich den Befehl, eine Favoritin zu exekutieren. Nicht wahr?« Sie sah mich an. »Nicht die Favoritin der Gerechtigkeit der Torren. So dumm wäre ich niemals gewesen. Aber ich hatte dich niemals beachtet, ich hatte mich nie gefragt, ob Eins Esk eine Favoritin haben könnte.«
»Sie dachten, niemand würde sich für die Tochter irgendeines unbedeutenden Kochs interessieren.« Ich wollte die Waffe heben. Wollte all das wunderschöne Glas in der Kapelle der Toten zerschmettern, als wir daran vorbeikamen.
Anaander Mianaai blieb stehen, drehte sich zu mir um. »Das war nicht ich. Hilf mir jetzt, denn ich kämpfe zweifellos selbst jetzt gegen dieses andere ich. Ich war noch nicht bereit, offen vorzugehen, aber nachdem du mich jetzt dazu gezwungen hast, hilf mir. Ich werde sie vernichten und mich ihrer restlos entledigen.«
»Das können Sie nicht«, gab ich zu bedenken. »Ich weiß, was Sie sind, besser als jede andere. Sie ist Sie, und Sie sind sie. Sie können sich ihrer nicht entledigen, ohne sich selbst zu vernichten. Weil sie Sie ist.«
»Sobald ich das Dock erreicht habe«, sagte Anaander Mianaai, als wäre es eine Antwort auf meinen Einwand, »kann ich mir ein Schiff suchen. Irgendein ziviles Schiff wird mich ohne Frage von hier fortbringen. Jedes militärische Schiff … wäre eine riskantere Angelegenheit. Aber ich kann dir eins sagen, Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren, eine Sache, der ich mir sicher bin. Ich habe mehr Schiffe, als sie hat.«
»Was genau bedeutet das?«, fragte Seivarden.
»Das bedeutet«, riet ich, »dass die andere Mianaai eine offene Schlacht wahrscheinlich verlieren würde. Also wird ihr mehr daran gelegen sein, dass sich diese Sache nicht weiter ausbreitet.« Ich sah, dass Seivarden nicht verstand, was das bedeutete. »Sie hat es zurückgehalten, indem sie es vor sich selbst verborgen hat, aber nachdem sie alle jetzt hier sind …«
»Zumindest die meisten von mir«, korrigierte Anaander Mianaai.
»Nachdem sie es jetzt rundheraus gehört hat, kann sie es nicht mehr ignorieren. Nicht hier. Aber vielleicht kann sie verhindern, dass das Wissen davon die Teile von ihr erreicht, die nicht hier sind. Zumindest lange genug, um ihre Position zu stärken.«
Die Erkenntnis zeigte sich in Seivardens aufgerissenen Augen. »Sie wird die Tore so schnell wie möglich zerstören müssen. Aber das kann nicht funktionieren. Die Signale sind auf jeden Fall mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Sie kann sie nicht überholen.«
»Die Information hat die Station noch nicht verlassen«, sagte Anaander Mianaai. »Es gibt immer eine gewisse Verzögerung. Es wäre wesentlich effizienter, stattdessen den Palast zu vernichten.« Dazu müsste man das Triebwerk eines Kriegsschiffs auf die Station richten, um sie zu atomisieren, die Station und alles, was sich darin befindet. »Und ich müsste den gesamten Palast vernichten, um eine weitere Ausbreitung der Nachricht zu verhindern. Meine Erinnerungen sind nicht nur an einer Stelle gespeichert. Es ist mit Absicht nicht so leicht, sie zu vernichten oder zu manipulieren.«
»Glauben Sie«, fragte ich, während Seivarden schockiert schwieg, »dass Sie tatsächlich ein Schwert oder eine Gnade dazu bringen könnten? Selbst mit Zugangsberechtigung?«
»Wie viel liegt dir daran, eine Antwort auf diese Frage zu hören?«, erwiderte Anaander Mianaai. »Du weißt, dass ich dazu in der Lage bin.«
»Ja«, bestätigte ich. »Welche Option präferieren Sie?«
»Keine der gegenwärtig verfügbaren Möglichkeiten ist besonders gut. Der Verlust des Palastes oder der Tore — oder von beidem — wird ein nie dagewesenes Chaos auslösen, im gesamten Radch-Territorium. Ein Chaos, das Jahre andauern wird, einfach nur wegen der Größe des Raumgebiets. Den Palast nicht zu vernichten — und die Tore, die tatsächlich ein Teil des Problems sind — wäre letztlich noch viel schlimmer.«
»Weiß Skaaiat Awer, was geschieht?«, fragte ich.
»Awer ist mir seit fast dreitausend Jahren ein Dorn im Auge«, sagte Mianaai. Völlig ruhig, als wäre dies ein gewöhnliches, entspanntes Gespräch. »Diese moralische Empörung! Man könnte fast meinen, sie wären darauf gezüchtet worden, doch sie sind gar nicht alle genetisch verwandt. Aber wenn ich vom Pfad des Anstands und der Gerechtigkeit abweiche, werde ich sicherlich etwas von Awer zu hören bekommen.«
»Warum beseitigen Sie sie dann nicht?«, fragte Seivarden. »Warum haben Sie hier sogar eine von ihnen zur Inspektionsleiterin gemacht?«
»Schmerz ist eine Warnung«, sagte Anaander Mianaai. »Was würde geschehen, wenn man sämtliche Unannehmlichkeiten aus Ihrem Leben entfernt? Nein«, fuhr Mianaai fort, ohne Seivardens offenkundige Bestürzung über ihre Worte zu beachten. »Ich weiß diese moralische Entrüstung zu schätzen. Ich fördere sie sogar.«
»Nein, das tun Sie nicht«, sagte ich. Inzwischen waren wir auf der Promenade. Sicherheit und Militär trieben Teile der verängstigten Menge zusammen — viele von ihnen mussten über Implantate verfügen, mussten Informationen von der Station empfangen haben, als der Kontakt unvermittelt abgebrochen war, ohne Erklärung.
Eine Schiffskapitänin, die ich nicht kannte, sah uns und kam herbeigeeilt. »Herrin«, sagte sie und verbeugte sich.
»Schaffen Sie diese Leute von der Promenade fort, Kapitänin«, sagte Anaander Mianaai, »und räumen Sie die Korridore, so schnell und so sicher, wie Sie können. Kooperieren Sie weiter mit der Stationssicherheit. Ich arbeite daran, dieses Problem so schnell wie möglich zu lösen.«
Während Anaander Mianaai sprach, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine blitzschnelle Bewegung. Eine Waffe. Instinktiv fuhr ich meine Rüstung aus, sah, dass die Person mit der Waffe zu den Leuten gehörte, die uns auf die Promenade gefolgt waren, kurz bevor die Sicherheit uns gerufen hatte. Die Herrin der Radch musste Befehle gesendet haben, bevor sie ihr Gerät aktivierte und jede Kommunikation unterband. Bevor sie von der Garseddai-Waffe gewusst hatte.
Die Kapitänin, mit der Anaander Mianaai gesprochen hatte, zuckte zurück, sichtlich erschrocken über das plötzliche Erscheinen meiner Rüstung. Ich hob meine Waffe, und ein hammerharter Schlag traf mich von der Seite — eine weitere Person hatte auf mich geschossen. Ich feuerte, traf die Person mit der Waffe. Sie stürzte zu Boden, ihr eigener Schuss ging weit daneben, schlug in die Tempelfassade hinter mir, zertrümmerte irgendeine Göttin, ließ farbenfrohe Splitter durch die Luft fliegen. Schockiertes Schweigen von den bereits verängstigten Bürgerinnen auf der Promenade. Ich drehte mich um, verfolgte die Flugbahn des Geschosses zurück, das mich getroffen hatte, sah panische Bürgerinnen und ein plötzliches silbriges Schimmern einer Rüstung. Diese andere Schützin hatte gesehen, wie ich auf die erste geschossen hatte, und wusste nicht, dass ihr eine Rüstung nichts nützen würde. Einen halben Meter von ihr entfernt blitzte es ebenfalls silbrig auf, als sich noch jemand rüstete. Die Bürgerinnen zwischen mir und den Zielen bewegten sich unvorhersehbar. Aber ich war Mengen mit ängstlichen und feindseligen Personen gewohnt. Ich feuerte und feuerte noch einmal. Die Rüstungen verschwanden, beide Ziele waren zu Boden gegangen. Seivarden sagte: »Scheiße, Sie sind doch eine Hilfseinheit!«
»Wir sollten uns lieber von der Promenade entfernen«, sagte Anaander Mianaai. Und zur namenlosen Kapitänin neben ihr: »Kapitänin, bringen Sie diese Leute in Sicherheit.«
»Aber …«, begann die Kapitänin, doch wir hatten uns bereits in Bewegung gesetzt. Seivarden und Anaander Mianaai liefen geduckt und so schnell wie möglich.
Ich fragte mich kurz, was in anderen Teilen der Station geschehen mochte. Der Omaugh-Palast war riesig. Es gab vier weitere Promenaden, auch wenn sie alle kleiner als diese waren, und viele Ebenen mit Wohnungen, Büros, Schulen, öffentlichen Räumen, alle voller Bürgerinnen, die zweifellos ängstlich und verwirrt reagierten. Zumindest wussten alle, die hier lebten, von der Notwendigkeit, sich an Notfallpläne zu halten. Doch das würde sie nicht von Einwänden oder Fragen abhalten, wenn der Befehl erteilt wurde, Schutzräume aufzusuchen. Ein Befehl, den die Station natürlich nicht geben konnte.
Ich konnte es nicht wissen und konnte auch nicht helfen. »Wer hält sich im System auf?«, fragte ich, als wir außer Hörweite waren und eine Notleiter hinunterstiegen. Meine Rüstung hatte ich wieder eingezogen.
»Nahe genug, um etwas bewirken zu können, meinst du?«, erwiderte Anaander Mianaai von oben. »Drei Schwerter und vier Gnaden in Shuttle-Reichweite.« Wegen der Kommunikationssperre musste jeder Befehl von Anaander Mianaai aus der Station per Shuttle überbracht werden. »In diesem Moment mache ich mir ihretwegen keine Sorgen. Es gibt keine Möglichkeit, ihnen von hier aus Befehle zu erteilen.« Und in dem Moment, wo diese Sperre aufgehoben wurde, wäre die Angelegenheit längst geklärt. Dann würde das Wissen, das Anaander Mianaai so verzweifelt vor sich selbst geheim halten wollte, zu den Toren rasen, von wo es sich im gesamten Radch-Territorium ausbreiten würde.
»Ist irgendein Schiff angedockt?«, fragte ich. Im Augenblick waren das die einzigen Schiffe, die eine Rolle spielten.
»Nur ein Shuttle von der Gnade der Kalr«, sagte Anaander Mianaai in halb amüsiertem Tonfall. »Es ist meins.«
»Sind Sie sich sicher?« Und als sie nicht antwortete, fügte ich hinzu: »Kapitänin Vel steht nicht auf Ihrer Seite.«
»Auch du hast diesen Eindruck gewonnen, nicht wahr?« Jetzt klang Anaander Mianaai eindeutig amüsiert. Über mir, über Anaander Mianaai, stieg Seivarden die Leiter hinunter, lautlos, abgesehen von ihren Schuhen auf den Sprossen. Ich sah eine Tür, hielt inne, zog am Riegel. Ich ließ sie aufschwingen und blickte in den Korridor dahinter. Ich erkannte den Bereich hinter den Dockbüros wieder.
Nachdem wir alle in den Korridor gestiegen und den Notdurchgang geschlossen hatten, lief Anaander Mianaai voraus, gefolgt von Seivarden und mir. »Woher wissen wir, dass sie wirklich die ist, die sie zu sein behauptet?«, fragte Seivarden mich sehr leise. Ihre Stimme zitterte immer noch, und ihr Unterkiefer sah angespannt aus. Ich war überrascht, dass sie sich noch nicht irgendwo in einer Ecke zusammengerollt oder die Flucht ergriffen hatte.
»Es spielt keine Rolle, welche von ihnen sie ist«, sagte ich, ohne mir die Mühe zu machen, meine Stimme zu senken. »Ich vertraue keiner von ihr. Wenn sie versucht, in die Nähe des Shuttles der Gnade der Kalr zu gelangen, werden Sie diese Waffe nehmen und sie erschießen.« Alles, was sie zu mir gesagt hatte, konnte ebenso gut eine Täuschung gewesen sein, damit ich ihr half, zu den Docks und zur Gnade der Kalr zu gelangen, worauf sie diese Station vernichten würde.
»Sie brauchen die Garseddai-Waffe nicht, um mich zu erschießen«, sagte Anaander Mianaai, ohne sich umzublicken. »Ich trage keine Rüstung. Einige von mir schon. Aber ich nicht. Die meisten von mir nicht.« Sie drehte kurz den Kopf, um mich anzusehen. »Das ist recht unerfreulich, nicht wahr?«
Mit meiner freien Hand gestikulierte ich meinen Mangel an Interesse oder Mitgefühl.
Wir kamen um eine Ecke und hielten abrupt an, als wir mit Inspektionsgehilfin Ceit konfrontiert wurden, die einen Lähmknüppel in der Hand hielt, eine Waffe, wie sie von der Stationssicherheit benutzt wurde. Sie schien unser Gespräch im Korridor gehört zu haben, denn sie zeigte keine Überraschung über unser Auftauchen, sondern starrte uns nur mit dem Ausdruck erschrockener Entschlossenheit an. »Die Inspektionsleiterin sagt, dass ich niemanden durchlassen soll.« Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme klang verunsichert. Sie sah Anaander Mianaai an. »Vor allem Sie nicht.«
Anaander Mianaai lachte.
»Still«, sagte ich, »sonst wird Seivarden Sie erschießen.«
Anaander Mianaai hob eine Augenbraue und schien nicht zu glauben, dass Seivarden zu einer solchen Tat imstande wäre, aber sie schwieg.
»Daos Ceit«, sagte ich in der Sprache, von der ich wusste, dass es ihre Muttersprache war. »Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie in das Haus der Leutnantin kamen und dort die Tyrannin vorfanden? Sie hatten Angst und griffen nach meiner Hand.« Ihre Augen wurden sogar noch größer. »Sie müssen vor allen anderen im Haus aufgewacht sein, weil man Sie sonst niemals hereingelassen hätte, nach dem, was in der Nacht davor geschehen ist.«
»Aber …«
»Ich muss mit Skaaiat Awer sprechen.«
»Sie leben!«, sagte sie, immer noch mit aufgerissenen Augen, immer noch recht ungläubig. »Ist die Leutnantin … die Inspektionsleiterin wird sehr …«
»Sie ist tot«, unterbrach ich sie, bevor sie mehr sagen konnte. »Ich bin tot. Ich bin alles, was noch übrig ist. Ich muss sofort mit Skaaiat Awer sprechen. Die Tyrannin wird hier bleiben, und wenn sie es nicht tut, sollten Sie sie so kräftig wie möglich schlagen.«
Ich hatte gedacht, Daos Ceit wäre hauptsächlich erstaunt, aber nun kamen ihr die Tränen, und eine fiel auf ihre Hand, mit der sie den Knüppel bereithielt. »Gut«, sagte sie. »Das werde ich tun.« Sie sah Anaander Mianaai an und hob den Knüppel ein kleines Stück, eine klare Drohung. Obwohl es mir recht tollkühn vorkam, hier lediglich Daos Ceit zu postieren.
»Was tut die Inspektionsleiterin gerade?«
»Sie hat Leute losgeschickt, die alle Docks manuell sperren sollen.« Dazu waren sehr viele Leute und sehr viel Zeit nötig. Es erklärte, warum Daos Ceit allein hier war. Ich dachte an Sturmrollläden, die in der Unterstadt heruntergelassen wurden. »Sie sagte, es wäre genauso wie in jener Nacht in Ors, und es musste etwas mit der Tyrannin zu tun haben.«
Anaander Mianaai hörte sich das alles amüsiert an. Seivarden schien ihre Verwirrung hinter sich gelassen zu haben und in eine Art Schockzustand verfallen zu sein.
»Sie bleiben hier«, sagte ich auf Radchaai zu Anaander Mianaai. »Wenn nicht, wird Daos Ceit Sie betäuben.«
»Ja, so viel habe ich verstanden«, sagte Anaander Mianaai. »Ich sehe, dass ich keinen sehr positiven Eindruck gemacht habe, als wir uns das letzte Mal begegneten, Bürgerin.«
»Alle wissen, dass Sie so viele Leute getötet haben«, sagte Daos Ceit. Zwei weitere Tränen kamen. »Und dass Sie die Leutnantin dafür verantwortlich gemacht haben.«
Ich hatte gedacht, sie wäre viel zu jung, um mit so intensiven Gefühlen auf das Ereignis zu reagieren. »Warum weinen Sie?«
»Ich habe Angst.« Ohne Anaander Mianaai aus den Augen oder den Knüppel sinken zu lassen.
Das kam mir sehr nachvollziehbar vor. »Kommen Sie, Seivarden.« Ich ging an Daos Ceit vorbei.
Stimmen wurden von vorn hörbar, wo das äußere Büro lag, hinter einer Biegung. Ein Schritt nach dem anderen. Für mich war es nie anders gewesen.
Seivarden stieß einen verkrampften Atemzug aus. Es hätte der Anfang eines Lachens sein können — oder von etwas, dass sie sagen wollte. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Wir haben die Brücke überlebt.«
»Das war einfach.« Ich blieb stehen und überprüfte die Magazine unter meiner Brokatjacke, zählte sie, obwohl ich bereits wusste, wie viele ich hatte. Zog eins aus meinem Hosenbund und steckte es in eine Jackentasche. »Dies hier wird nicht einfach werden. Oder auch nur halb so gut enden. Kann ich mich auf Sie verlassen?«
»Immer«, sagte sie mit seltsam ausgeglichener Stimme, obwohl ich wusste, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stehen musste. »Habe ich das nicht längst gesagt?«
Ich verstand nicht, was sie damit meinte, aber jetzt war nicht die richtige Zeit, darüber nachzudenken oder danach zu fragen. »Also los!«