13

Weiter im Süden taten sich Lücken in Schnee und Eis auf, obwohl es für Nicht-Nilter immer noch kalt war. Die Nilter betrachten die Äquatorialregion als so etwas wie ein tropisches Paradies, wo tatsächlich Getreide wächst, wo die Temperatur durchaus acht oder neun Grad C übersteigen kann. Die meisten größeren Städte von Nilt liegen auf dem oder in der Nähe des Äquators.

Das Gleiche gilt für das Einzige, wovon sich der Planet so etwas wie Ruhm verspricht — die Glasbrücken.

Dabei handelt es sich um fünf Meter breite Bänder aus Schwarz, die in sanft geschwungenen Bögen über Gräben hängen, die fast so breit wie tief sind — mit Ausmaßen von mehreren Kilometern. Keine Kabel, keine Stützpfeiler, keine Träger. Nur ein schwarzer Bogen, der an beiden Klippen befestigt ist. Phantastische Arrangements aus farbigen Glasspiralen und -röhren hängen an der Unterseite jeder Brücke, manchmal auch seitlich vorgestreckt.

Die Brücken selbst bestehen laut allen Berichten ebenfalls aus Glas, obwohl Glas unmöglich die Belastung aushalten kann, die diese Brücken tragen. Allein ihr Eigengewicht müsste zu viel für sie sein, da sie ohne jede Stütze völlig frei hängen. Es gibt kein Geländer oder Handgriffe, nur den Abgrund und die kilometertiefe Schlucht, mit einer Ansammlung aus dickwandigen Röhren, von denen jede nur anderthalb Meter dick ist, leer und mit glatter Oberfläche. Sie bestehen aus dem gleichen Material wie die Brücken. Niemand weiß, wozu die Brücken und die Röhren darunter gedacht waren oder wer sie erbaut hat. Sie waren bereits hier, als Nilt von den ersten Menschen besiedelt wurde.

Theorien gibt es im Überfluss, eine unwahrscheinlicher als die andere. In vielen spielen interdimensionale Wesen eine wichtige Rolle. Entweder haben sie die Menschen geschaffen oder zu ihren eigenen Zwecken geformt oder eine Nachricht hinterlassen, die aus unerfindlichen Gründen von den Menschen entziffert werden soll. Oder sie waren böse und verfolgten die Absicht, jedes Leben zu vernichten. Die Brücken waren auf irgendeine Weise Teil ihres Plans.

Eine große Untergruppe behauptet, die Brücken wären von Menschen erbaut worden, von einer uralten, längst vergangenen, unglaublich fortgeschrittenen Zivilisation, die entweder ausstarb (langsam und tragisch oder spektakulär in Folge eines katastrophalen Fehlers) oder auf eine höhere Existenzebene wechselte. Advokaten derartiger Theorien behaupten darüber hinaus häufig, dass Nilt die wahre Wiege der Menschheit darstellt. Fast überall, wo ich gewesen bin, herrscht die allgemeine Vorstellung vor, dass die Position des Ursprungsplaneten der Menschen unbekannt und rätselhaft ist. In Wirklichkeit ist dem nicht so, wie jeder feststellen wird, der sich die Mühe macht, die einschlägigen Texte zu diesem Thema zu lesen. Doch diese Welt ist sehr, sehr, sehr weit von allen bekannten Regionen entfernt, und es ist auch keine besonders interessante Welt. Oder zumindest nicht annähernd so interessant wie die reizvolle Vorstellung, dass das eigene Volk keineswegs vor nicht allzu langer Zeit eine neue Heimat fand, sondern eine Welt rekolonisierte, die ihnen bereits seit Anbeginn der Zeiten gehörte. Solche Behauptungen trifft man auf fast allen Welten an, die auch nur ansatzweise für menschliche Besiedlung geeignet sind.

Die Brücke in der Nähe von Therrod war nie eine große Touristinnenattraktion. Die meisten funkelnden Arabesken aus Glas waren im Laufe der Jahrtausende zersplittert, bis fast nur noch der schlichte Bogen übrig blieb. Und Therrod liegt viel zu weit im Norden, als dass Nicht-Nilter es dort allzu lange aushalten könnten. Besucherinnen begnügen sich in der Regel mit den besser erhaltenen Brücken am Äquator, kaufen eine Decke aus Bov-Haar, die garantiert handgesponnen und handgewebt ist, hergestellt von Meisterinnen des Handwerks in den unerträglich kalten Regionen dieser Welt (auch wenn sie fast immer von Maschinen produziert wurden, zu Dutzenden, nur wenige Kilometer vom Souvenirladen entfernt). Außerdem würgen sie ein paar Schlucke übelriechender fermentierter Milch hinunter und kehren dann nach Hause zurück, um ihre Freundinnen und Kolleginnen mit den Abenteuergeschichten zu unterhalten, die sie angeblich erlebt haben.

All das brachte ich innerhalb weniger Minuten in Erfahrung, nachdem mir bewusst wurde, dass ich Nilt besuchen musste, um mein Ziel zu erreichen.

Therrod lag an einem breiten Fluss, in dessen Strömung Blöcke aus grün-weißem Eis trieben und gegeneinanderkrachten. Die ersten Boote der Saison waren bereits an den Docks vertäut. Auf der anderen Seite der Stadt setzte der schräge Ansatz der riesigen dunklen Brücke der zerfaserten Grenze der Häuser ein definitives Ende. Der südliche Rand der Stadt bestand aus Flieger-Parkplätzen, gefolgt von einem weitläufigen Komplex aus blau und gelb gestrichenen Gebäuden, die dem Aussehen nach zu urteilen eine medizinische Einrichtung bildeten, die zu den größten ihrer Art in dieser Region gehören musste. Sie war umgeben von Vierecken aus Herbergen und Lebensmittelgeschäften und Schneisen aus Häusern in hellem Rosa, Orange, Gelb und Rot, gestreift, gezackt und schraffiert.

Wir waren den halben Tag lang geflogen. Ich hätte die ganze Nacht fliegen können. Dazu war ich imstande, auch wenn es unangenehm gewesen wäre. Aber für mich gab es keinen Grund zur Eile. Ich ging auf dem ersten freien Platz nieder, den ich fand, forderte Seivarden schroff zum Aussteigen auf und trat dann ebenfalls nach draußen. Ich schulterte meinen Rucksack, bezahlte die Parkgebühr, machte den Flieger funktionsunfähig, wie ich es bei dem von Strigan getan hatte, und machte mich auf den Weg in die Stadt, ohne mich zu vergewissern, dass Seivarden mir folgte.

Ich war in der Nähe der medizinischen Einrichtung gelandet. Von den Unterkünften, die sie umgaben, waren einige luxuriös eingerichtet, aber viele waren kleiner und weniger komfortabel als jene, die ich im Dorf gemietet hatte, wo ich Seivarden gefunden hatte, allerdings auch ein bisschen teurer. Südländerinnen in hellen Mänteln kamen und gingen, unterhielten sich in einer Sprache, die ich nicht verstand. Andere sprachen die, die ich kannte, und zum Glück war es die gleiche Sprache, die auf den Hinweisschildern verwendet wurde.

Ich wählte eine Herberge — sie war zumindest geräumiger als die preiswertesten hier, Löcher in der Größe von Suspensionskapseln — und führte Seivarden zum ersten sauber wirkenden Lebensmittelladen mit moderaten Preisen, den ich finden konnte.

Als wir eintraten, fiel Seivardens Blick auf die Flaschenregale an der gegenüberliegenden Wand. »Hier gibt es Arrack.«

»Der dürfte unglaublich teuer sein«, sagte ich, »und wahrscheinlich nicht besonders gut. Er wird hier nicht hergestellt. Nehmen Sie sich stattdessen ein Bier.«

Ich hatte gewisse Anzeichen für Stress an ihr bemerkt, und sie war bei der Überfülle der hellen Farben leicht zusammengezuckt, sodass ich irgendeinen gereizten Gefühlsausbruch erwartet hatte, aber stattdessen deutete sie lediglich mit einer Geste ihr Einverständnis an. Dann rümpfte sie angewidert die Nase. »Woraus macht man hier das Bier?«

»Getreide. Es wächst in der Nähe des Äquators. Hier ist es nicht so kalt.« Wir suchten uns Plätze auf den Bänken, die drei Reihen aus langen Tischen säumten, und eine Kellnerin brachte uns Bier und Tassen mit etwas, von dem sie sagte, es wäre die Spezialität des Hauses. »Extra schönes Essen, ja«, erklärte sie in übel verunstaltetem Radchaai, und es war in der Tat recht gut, und wie sich herausstellte, enthielt es sogar echtes Gemüse, einen beträchtlichen Anteil aus dünn geschnittenem Kohl zwischen irgendwelchen anderen Dingen. Die kleineren Klumpen schienen Fleisch zu sein — wahrscheinlich Bov. Seivarden teilte einen der größeren Klumpen mit ihrem Löffel in zwei Hälften, worauf etwas Weißes zum Vorschein kam. »Vermutlich Käse«, sagte ich.

Sie verzog das Gesicht. »Warum können diese Leute keine richtige Nahrung essen? Wissen sie es nicht besser?«

»Käse ist richtige Nahrung. Genauso wie Kohl.«

»Aber diese Soße …«

»Schmeckt gut.« Ich nahm einen weiteren Löffel davon.

»Hier riecht es schon irgendwie seltsam«, beklagte sie sich.

»Essen Sie einfach.«

Sie blickte skeptisch in ihre Schale, löffelte einen Happen auf, schnupperte daran.

»Es kann unmöglich schlimmer riechen als dieses Getränk aus fermentierter Milch«, sagte ich.

Sie lächelte tatsächlich ein wenig. »Nein.«

Ich aß weiter und dachte über die Anzeichen der Verbesserung ihres Verhaltens nach. Ich war mir nicht sicher, was es bedeutete in Bezug auf ihren geistigen Zustand, ihre Absichten oder ihre Meinung über mich. Vielleicht hatte Strigan recht gehabt, und Seivarden hatte sich vorläufig für den vorteilhaftesten Kurs entschieden. Sie wollte sich nicht von der Person entfremden, die ihr zu essen gab, auch wenn sich das ändern würde, sobald sich ihre Optionen änderten.

Eine hohe Stimme rief von einem anderen Tisch herüber. »Hallo!«

Ich drehte mich um. Das Mädchen mit dem Tiktik-Set winkte mir von ihrem Platz neben ihrer Mutter zu. Für einen kurzen Moment war ich überrascht, aber schließlich befanden wir uns in der Nähe der Klinik, wohin sie ihre verletzte Verwandte gebracht hatten. Außerdem waren sie aus der gleichen Richtung gekommen wie wir, sodass sie höchstwahrscheinlich auf der gleichen Seite der Stadt geparkt hatten. Ich lächelte und nickte, worauf sie aufstand und zu uns herüberkam. »Ihrem Freund geht es besser!«, sagte sie fröhlich. »Das ist gut. Was essen Sie da?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Die Kellnerin sagte, es wäre die Spezialität des Hauses.«

»Oh, das ist sehr gut. Ich hatte es gestern. Wann sind Sie hier eingetroffen? Es ist so heiß, dass es sich schon wie im Sommer anfühlt. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es weiter nördlich ist.« Offensichtlich hatte sie genug Zeit gehabt, ihre übliche gute Laune wiederzufinden, seit der Unfall sie zu Strigans Haus geführt hatte. Seivarden beobachtete sie amüsiert, mit dem Löffel in der Hand.

»Wir sind seit einer Stunde hier«, sagte ich. »Wir bleiben nur für die Nacht. Wir sind auf dem Weg zur Brücke.«

»Wir sind hier, bis Onkels Beine geheilt sind. Was wohl noch eine Woche dauern wird.« Sie runzelte die Stirn und zählte die Tage. »Ein wenig länger. Wir schlafen in unserem Flieger, wo es ziemlich unbequem ist, aber Mama sagt, der Preis für eine Unterkunft hier würde an Diebstahl grenzen.« Sie setzte sich neben mich auf das Ende der Bank. »Ich war noch nie im Weltraum. Wie ist es dort?«

»Es ist sehr kalt — selbst du würdest es als kalt empfinden.« Sie hielt es für einen Witz und lachte leise. »Und natürlich gibt es dort keine Luft und kaum Schwerkraft, sodass alles einfach nur schwebt.«

Sie sah mich stirnrunzelnd und mit gespieltem Tadel an. »Sie wissen, was ich meine.«

Ich blickte zu ihrer Mutter hinüber, die phlegmatisch dasaß und aß. Unbesorgt. »Es ist wirklich nicht besonders aufregend.«

Das Mädchen machte eine gleichgültige Geste. »Ach ja! Sie lieben Musik. Heute Abend tritt eine Sängerin in einem Laden an dieser Straße auf.« Sie benutzte das Wort, das ich fälschlicherweise verwendet hatte, nicht das, mit dem sie mich daraufhin in Strigans Haus korrigiert hatte. »Gestern Nacht sind wir nicht hingegangen, weil es etwas kostet. Außerdem ist sie meine Cousine. Das heißt, sie stammt aus der nächsten Linie neben meiner, und sie ist die Tante der Tochter der Cousine meiner Mutter, was auf jeden Fall nahe genug ist. Ich habe sie bei der letzten Versammlung gehört, sie ist sehr gut.«

»Ich werde auf jeden Fall hingehen. Wo ist es?«

Sie nannte mir den Namen des Lokals und sagte dann, dass sie ihre Mahlzeit beenden musste. Ich beobachtete, wie sie zu ihrer Mutter zurückkehrte, die nur kurz aufblickte und mich mit einem knappen Nicken bedachte, das ich erwiderte.

Das Lokal, von dem das Mädchen gesprochen hatte, befand sich nur ein paar Türen weiter, ein langes Gebäude mit niedriger Decke. Die Rückseite bestand ausschließlich aus Rollläden, die nun zu einem von Mauern umgebenen Hof geöffnet waren, wo Nilter ohne Mäntel in der ein Grad kalten Luft saßen, Bier tranken und schweigend einer Frau zuhörten, die auf einem bogenförmigen Saiteninstrument spielte, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Leise bestellte ich Bier für mich und für Seivarden, und wir suchten uns Plätze auf der Innenseite der Rollläden. Dort war es ein wenig wärmer als auf dem Hof, weil kein Wind ging und wir mit dem Rücken zu einer Wand saßen. Ein paar Leute drehten sich zu uns um, starrten uns kurz an und wandten sich dann mehr oder weniger höflich wieder ab.

Seivarden beugte sich drei Zentimeter zu mir vor und flüsterte: »Warum sind wir hier?«

»Um uns die Musik anzuhören.«

Sie hob eine Augenbraue. »Das ist Musik?«

Ich sah sie direkt an. Sie zuckte zusammen, aber nur leicht. »Entschuldigung. Es ist nur …« Sie gestikulierte hilflos. Bei den Radchaai gibt es tatsächlich Saiteninstrumente, sogar in großer Vielfalt, angesammelt durch mehrere Annexionen. Aber sie in der Öffentlichkeit zu spielen wird als recht gewagt betrachtet, weil man entweder mit bloßen Händen spielen muss oder mit Handschuhen, die so dünn sind, dass sie letztlich sinnlos sind. Und diese Musik — die langen, langsamen, ungleichmäßigen Phrasen, die es einem Radchaai-Ohr schwer machen, den Rhythmus wahrzunehmen, der raue, scharfe Klang des Instruments — all das war nicht das, was Seivarden während ihrer Erziehung zu würdigen gelernt hatte. »Es ist so …«

Eine Frau an einem Nachbartisch drehte sich um und zischte tadelnd. Ich gestikulierte versöhnlich und warf Seivarden einen warnenden Blick zu. Einen Moment lang zeigte sich ihre Verärgerung in ihrem Gesicht, und ich war mir schon sicher, dass ich sie nach draußen bringen musste, aber sie holte tief Luft und blickte auf ihr Bier, trank davon und schaute anschließend beharrlich geradeaus.

Als das Stück zu Ende war, klopfte das Publikum behutsam mit den Fäusten auf die Tische. Die Musikantin wirkte irgendwie gleichzeitig leidenschaftslos und zufrieden und stimmte ein neues Stück an, das merklich schneller und lauter war, sodass Seivarden mir gefahrlos wieder etwas zuflüstern konnte. »Wie lange werden wir hier bleiben?«

»Eine Weile«, sagte ich.

»Ich bin müde. Ich möchte zu unserem Zimmer zurückgehen.«

»Wissen Sie, wie Sie es finden?«

Sie bejahte mit einer Geste. Die Frau am Nebentisch beäugte uns missbilligend. »Gehen Sie«, flüsterte ich, so leise ich konnte, und hoffte, dass Seivarden mich trotzdem hörte.

Seivarden ging. Es war nicht mehr mein Problem, sagte ich mir, ob sie den Weg zu unserer Unterkunft fand (und ich gratulierte mir selbst, weil ich die Voraussicht besessen hatte, meinen Rucksack über Nacht in den Safe des Hauses einzuschließen — auch ohne Strigans Warnung traute ich Seivarden nicht, wenn es um meine Sachen oder mein Geld ging) oder ob sie ziellos durch die Stadt streifte oder in den Fluss fiel und ertrank — was auch immer sie tat, es war nicht mein Problem, und es war nichts, weswegen ich mir Sorgen machen musste. Stattdessen hatte ich einen Krug mit halbwegs anständigem Bier und einen Abend mit Musik, und mich erwarteten eine gute Sängerin und Lieder, die ich noch nie gehört hatte. Ich war meinem Ziel näher, als ich je zu hoffen gewagt hatte, und ich konnte mich wenigstens für diese eine Nacht völlig entspannen.

Die Sängerin war ausgezeichnet, obwohl ich keins der Worte verstand, die sie sang. Sie trat spät auf, als es im Lokal recht voll und laut geworden war, auch wenn das Publikum gelegentlich über den Bieren verstummte und auf die Musik lauschte. Das Klopfen zwischen den Stücken wurde lauter und ungestümer. Ich bestellte genügend Bier, um meinen ausgedehnten Aufenthalt zu rechtfertigen, aber das meiste trank ich gar nicht. Ich bin nicht menschlich, aber mein Körper ist es, und zu viel hätte meine Reaktionen auf nicht akzeptable Weise abgestumpft.

Ich blieb recht lange und lief dann durch die dunkle Straße zu unserer Unterkunft zurück. Hier und dort waren die Leute paarweise oder zu dritt unterwegs, unterhielten sich miteinander, beachteten mich nicht.

Im winzigen Zimmer fand ich Seivarden schlafend vor — reglos, ruhig atmend, das Gesicht und die Gliedmaßen erschlafft. Etwas undefinierbar Stilles an ihr deutete darauf hin, dass es das erste Mal war, dass ich sie bei einem wirklichen und erholsamen Schlaf erlebte. Unwillkürlich fragte ich mich für einen kurzen Moment, ob sie Kef genommen hatte, aber ich wusste, dass sie kein Geld hatte, dass sie hier niemanden kannte und keine der Sprachen beherrschte, die ich hier bislang gehört hatte.

Ich legte mich neben sie und schlief ein.

Sechs Stunden später erwachte ich, und zu meinem Erstaunen lag Seivarden immer noch schlafend an meiner Seite. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie in der Zwischenzeit aufgewacht war.

Für mich war es kein Problem, wenn sie sich so lange ausruhte, wie sie konnte. Schließlich hatte ich keine Eile. Ich stand auf und ging hinaus.

In Richtung der Klinik wurde es auf der Straße lauter und gedrängter. Ich kaufte mir eine Schüssel mit heißem, milchigem Brei von einer Verkäuferin neben dem Gehweg und folgte weiter der Straße, die sich um das Krankenhaus bog und danach ins Stadtzentrum führte. Busse hielten an, entließen Passagiere, nahmen neue auf und fuhren weiter.

Im Strom der Passanten sah ich eine Person, die ich wiedererkannte. Das Mädchen, das bei Strigan gewesen war, und ihre Mutter. Sie sahen auch mich. Das Mädchen riss die Augen auf, und sie runzelte leicht die Stirn. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter änderte sich nicht, aber beide kamen nun auf mich zu. Wie es schien, hatten sie auf mich gewartet.

»Breq«, sagte das Mädchen, als sie vor mir stehen blieben. Ungewöhnlich zurückhaltend, wie es schien.

»Geht es deinem Onkel besser?«, fragte ich.

»Ja, Onkel geht es gut.« Aber offensichtlich schien sie etwas zu beunruhigen.

»Ihr Freund …«, sagte ihre Mutter, so teilnahmslos wie immer. Und hielt inne.

»Ja?«

»Unser Flieger parkt neben Ihrem«, sagte das Mädchen, der es unverkennbar schwerfiel, mir eine schlechte Neuigkeit mitzuteilen. »Wir haben ihn gesehen, als wir gestern Abend vom Essen zurückkamen.«

»Sag es mir.« Ich fand keinen Gefallen an Spannung.

Ihre Mutter runzelte tatsächlich die Stirn. »Er ist jetzt nicht mehr da.«

Ich sagte nichts, wartete auf den Rest.

»Sie müssen ihn flugunfähig gemacht haben«, fuhr sie fort. »Ihr Freund nahm Geld entgegen, und die Leute, die ihn bezahlten, schleppten den Flieger ab.«

Das Personal des Parkplatzes hatte offenbar keine Fragen gestellt, nachdem man Seivarden zusammen mit mir gesehen hatte.

»Sie beherrscht keine der hiesigen Sprachen«, wandte ich ein.

»Sie haben viele Gesten gemacht!«, erklärte das Mädchen und bewegte demonstrativ die Arme. »Sie haben die ganze Zeit auf Dinge gezeigt und sehr langsam gesprochen.«

Ich hatte Seivarden sträflich unterschätzt. Natürlich — sie hatte überlebt, war von einem Ort zum nächsten gegangen, ohne irgendeine Sprache außer Radchaai zu kennen und vermutlich ohne Geld, aber es war ihr trotzdem gelungen, sich fast eine Überdosis Kef zu verschaffen. Wahrscheinlich mehr als nur einmal. Sie kam allein zurecht, wenn auch nicht besonders gut. Sie war durchaus in der Lage, sich ohne Hilfe zu besorgen, was sie haben wollte. Sie hatte Kef gewollt, und sie hatte es bekommen. Auf meine Kosten, was für sie jedoch ohne Bedeutung war.

»Wir wussten, dass es nicht richtig sein konnte«, sagte das Mädchen, »weil Sie sagten, dass Sie nur über Nacht bleiben, um dann Ihren Weg in den Weltraum fortzusetzen. Aber niemand wollte auf uns hören, weil wir ja nur Bov-Hirten sind.« Und wenn man bedachte, wer einen Flieger ohne Dokumente kaufen würde, ohne Eigentumsnachweis — und zudem einen Flieger, der offensichtlich mit Absicht funktionsunfähig gemacht worden war, damit niemand außer der Eigentümerin ihn von der Stelle bewegen konnte —, mochte es durchaus eine gute Idee sein, nicht die Konfrontation mit einer solchen Person zu suchen.

»Ich würde mir niemals ein Urteil anmaßen«, sagte die Mutter des Mädchens mit indirekter Verachtung, »was für eine Art Freund Ihr Freund ist.«

Nicht mein Freund. Niemals mein Freund, weder jetzt noch zu irgendeiner anderen Zeit. »Danke, dass Sie es mir gesagt haben.«

Ich lief zum Parkplatz und stellte fest, dass der Flieger tatsächlich verschwunden war. Als ich in unser Zimmer zurückkehrte, schlief Seivarden immer noch oder war zumindest nicht bei Bewusstsein. Ich fragte mich, wie viel Kef der Flieger ihr eingebracht haben mochte. Das fragte ich mich nur so lange, bis ich meinen Rucksack aus dem Safe der Unterkunft geholt und die Übernachtung bezahlt hatte. Von nun an würde Seivarden sich um sich selbst kümmern müssen, was für sie offenbar kein großes Problem darstellte. Danach machte ich mich auf die Suche nach einem Transportmittel, um die Stadt zu verlassen.

Es gab einen Bus, aber der erste war vor fünfzehn Minuten abgefahren, als ich danach fragte, und der nächste ging erst in drei Stunden. Ein Zug führte am Fluss entlang, einmal täglich nach Norden, aber wie der Bus war auch er bereits losgefahren.

Ich wollte nicht warten. Ich wollte von hier verschwinden. Genauer gesagt wollte ich es vermeiden, Seivarden auch nur kurz wiederzusehen. Die Temperatur lag hier die meiste Zeit über dem Gefrierpunkt, und ich war durchaus in der Lage, längere Entfernungen zu Fuß zurückzulegen. Die nächste Stadt, die dieser Bezeichnung würdig war, lag nach den Karten, die ich gesehen hatte, nur einen Tag entfernt, wenn ich über die Glasbrücke ging und dann quer durch die Landschaft, statt der Straße zu folgen, die einen weiten Bogen machte, um dem Fluss und dem weiten Abgrund unter der Brücke auszuweichen.

Die Brücke befand sich mehrere Kilometer außerhalb der Stadt. Der Fußmarsch würde mir guttun, da ich in letzter Zeit nicht genug Bewegung gehabt hatte. Die Brücke selbst war vielleicht einigermaßen interessant. Ich machte mich auf den Weg.

Als ich etwas über einen halben Kilometer gelaufen war, vorbei an den Unterkünften und Lebensmittelgeschäften rund um die medizinische Einrichtung, bis in einen Stadtteil, der wie ein Wohngebiet aussah, mit kleineren Gebäuden und Läden und Komplexen aus niedrigen, quadratischen Häusern, die durch überdachte Gehwege miteinander verbunden waren, tauchte Seivarden hinter mir auf. »Breq!«, keuchte sie außer Atem. »Wohin gehen Sie?«

Ich antwortete nicht, lief etwas schneller.

»Breq, verdammt!«

Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht um. Überlegte, etwas zu sagen. Aber nichts von dem, was mir einfiel, war auch nur ansatzweise gemäßigt, und es würde auch zu nichts führen. Seivarden holte mich ein.

»Warum haben Sie mich nicht geweckt?«, fragte sie. Verschiedene Antworten kamen mir in den Sinn. Ich verzichtete darauf, irgendeine laut auszusprechen. Stattdessen ging ich weiter.

Ich blickte nicht zurück. Es war mir egal, ob sie mir folgte oder nicht. Ich hoffte sogar, sie würde es nicht tun. Ich hatte gar kein Gefühl der Verantwortung mehr, keine Befürchtung, dass sie ohne mich hilflos sein würde. Sie konnte gut für sich selbst sorgen.

»Breq, verdammt!«, rief Seivarden noch einmal. Dann fluchte sie, und ich hörte ihre Schritte hinter mir und wieder ihren angestrengten Atem, als sie mich erneut einholte. Diesmal blieb ich nicht stehen, sondern erhöhte ein wenig mein Tempo.

Nach weiteren fünf Kilometern, während sie abwechselnd zurückfiel und wieder rannte, um mich keuchend einzuholen, sagte sie: »Bei Aatrs Titten, Sie sind sauer auf mich, nicht wahr?«

Ich sagte immer noch nichts und hielt auch nicht an.

Eine weitere Stunde verging, die Stadt lag bereits weit hinter uns, und die Brücke kam in Sicht, ein schmaler schwarzer Bogen über dem Abgrund, darunter Stachel und Schnörkel aus Glas, strahlend rot, intensiv gelb, ultramarinblau und gezackte Stummel in anderen Farben. Die Wände der Schlucht waren schwarz, grün-grau und blau gestreift, stellenweise mit Eis überzogen. Der Boden des Abgrunds verlor sich in Wolken. Ein Schild in fünf Sprachen verkündete, dass es sich um ein geschütztes Denkmal handelte, der Zugang war nur den Besitzern einer bestimmten Genehmigung erlaubt — was für eine Genehmigung und zu welchem Zweck blieb mir rätselhaft, da mir nicht alle Wörter auf dem Schild bekannt waren. Eine niedrige Barriere versperrte den Eingang, doch es wäre kein Problem für mich, einfach hinüberzusteigen. Außerdem war niemand hier, abgesehen von mir und Seivarden. Die Brücke selbst war fünf Meter breit, genauso wie alle anderen, und der Wind blies zwar kräftig, aber nicht kräftig genug, um mich in Gefahr zu bringen. Ich lief weiter und stieg über die Barriere und auf die Brücke.

Hätte ich Probleme mit Höhen gehabt, wäre mir vielleicht schwindlig geworden. Zum Glück war es nicht so, und mein einziges Unbehagen rührte vom Gefühl des leeren Raums hinter und unter mir her, den ich nicht sehen konnte, sofern ich meine Aufmerksamkeit nicht von anderen Stellen abwandte. Meine Stiefel erzeugten dumpfe Geräusche auf dem schwarzen Glas, und das gesamte Gebilde schwankte leicht, schaukelte im Wind.

Ein neues Muster von Vibrationen verriet mir, dass Seivarden mir folgte.

Was als Nächstes geschah, war hauptsächlich meine eigene Schuld.

Wir hatten die Brücke zur Hälfte überquert, als Seivarden sagte: »Also gut, alles klar. Ich habe es verstanden. Sie sind wütend.«

Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht um. »Wie viel haben Sie dafür bekommen?«, fragte ich schließlich — nur einer der Punkte, die ich hatte ansprechen wollen.

»Was?« Obwohl ich mich nicht umgedreht hatte, konnte ich die Bewegung sehen, als sie sich vorbeugte, die Hände auf die Knie gestützt, konnte ich ihren immer noch schweren Atem hören, wie sie sich anstrengte, mich im Wind zu verstehen.

»Wie viel Kef?«

»Ich wollte nur ein wenig«, sagte sie, ohne wirklich auf meine Frage einzugehen. »Genug, um es etwas zu lindern. Ich brauche es. Und schließlich haben Sie auch nichts für den Flieger bezahlt.« Für einen Moment glaubte ich, sie hätte sich erinnert, wie ich an den Flieger gekommen war, mochte es noch so unwahrscheinlich sein. Doch sie fuhr fort: »In Ihrem Rucksack haben Sie genug, um zehn Flieger zu kaufen, und nichts davon gehört Ihnen, sondern der Herrin der Radch, nicht wahr? Sie lassen mich nur deshalb so rennen, weil Sie sauer sind.«

Ich blieb stehen, blickte immer noch geradeaus, während der Wind meinen Mantel flach an mich drückte. Ich versuchte zu verstehen, was ihre Worte bedeuteten, was sie glaubte, wer oder was ich war. Warum sie glaubte, ich hätte mich mit ihr abgemüht.

»Ich weiß, was Sie sind«, sagte sie, während ich schweigend dastand. »Zweifellos wünschen Sie sich, mich zurücklassen zu können, aber das können Sie nicht, nicht wahr? Sie haben den Befehl, mich zurückzubringen.«

»Was bin ich?«, fragte ich, laut, gegen den Wind, da ich mich immer noch nicht umgedreht hatte.

»Niemand, das sind Sie.« Seivarden sprach in verächtlichem Tonfall. Sie stand jetzt aufrecht, knapp hinter meiner linken Schulter. »Sie wurden auf Ihre militärische Eignung geprüft, und wie eine Million anderer Niemande heutzutage glauben Sie, das würde Sie zu jemandem machen. Und Sie haben den Akzent geübt und wie Sie Ihr Besteck halten, und Sie haben sich auf Knien zum Sondereinsatzkommando hochgearbeitet, und jetzt bin ich Ihr Sondereinsatz. Sie müssen mich heil nach Hause bringen, obwohl Sie es lieber nicht tun würden, nicht wahr? Sie haben ein Problem mit mir, und ich vermute, Ihr Problem besteht darin, dass Sie sich so viel Mühe geben können, wie Sie wollen, dass es keine Rolle spielt, vor wem Sie niederknien, aber Sie werden niemals das sein, wozu ich geboren wurde, und Leute wie Sie finden das einfach schrecklich

Ich drehte mich zu ihr um. Ich war mir sicher, dass mein Gesicht keinen Ausdruck zeigte, aber als mein Blick ihren traf, zuckte sie zusammen — nichts war gelindert, ganz und gar nichts — und trat reflexhaft drei schnelle Schritte zurück.

Über den Rand der Brücke.

Ich trat an den Rand, blickte hinunter. Seivarden hing sechs Meter tiefer, die Hände um einen komplexen Schnörkel aus rotem Glas geklammert, die Augen weit aufgerissen, der Mund leicht geöffnet. Sie blickte zu mir auf und sagte: »Sie wollten mich schlagen!«

Die Berechnungen war ganz einfach. Wenn ich meine gesamte Kleidung zusammenknotete, kam ich nur auf 5,7 Meter. Das rote Glas war irgendwo unter der Brücke mit einer Stelle verbunden, die ich nicht sehen konnte. Kein Anzeichen für etwas, woran sie hinaufklettern könnte. Das farbige Glas war nicht so stabil wie die Brücke selbst — ich schätzte, dass die rote Spirale irgendwann in den nächsten drei bis sieben Sekunden unter Seivardens Gewicht bersten würde. Obwohl das nicht mehr als eine Vermutung war. Trotzdem würde jede Hilfe, die ich vielleicht herbeirufen konnte, zweifellos zu spät eintreffen. Der untere Bereich der Schlucht war weiterhin von Wolken verhüllt. Die Röhren waren nur ein paar Zentimeter dünner als meine ausgestreckten Arme, und sie reichten selbst sehr tief hinunter.

»Breq?« Seivardens Stimme klang belegt und angestrengt. »Können Sie etwas tun?« Wenigstens kein Sie müssen etwas tun.

»Vertrauen Sie mir?«, fragte ich.

Ihre Augen wurden noch größer, ihr Keuchen noch etwas rauer. Ich wusste, dass sie mir nicht vertraute. Sie war nur deshalb immer noch bei mir, weil sie glaubte, ich wäre offiziell im Dienst und sie könnte mir daher nicht ausweichen, und dass sie wichtig genug für die Radch war, um jemanden zu ihr zu schicken — ihre eigene Bedeutung zu unterschätzen hatte noch nie zu Seivardens Schwächen gehört — und vielleicht weil sie genug davon hatte wegzulaufen, vor der Welt, vor sich selbst. Bereit zum Aufgeben. Aber ich verstand immer noch nicht, warum ich bei ihr war. Von allen Offizierinnen, denen ich gedient hatte, war sie nie meine Favoritin gewesen.

»Ich vertraue Ihnen«, log sie.

»Wenn ich nach Ihnen greife, aktivieren Sie Ihre Rüstung und legen die Arme um mich.« Neue Angst blitzte in ihrem Gesicht auf, aber dafür war nicht genug Zeit. Ich entfaltete meine Rüstung unter der Kleidung und trat von der Brücke.

In dem Moment, als meine Hände ihre Schultern berührten, zersplitterte das rote Glas. Scharfkantige Fragmente flogen davon, mit kurzem Funkeln. Seivarden schloss die Augen, zog den Kopf ein, das Gesicht an meinem Hals, hielt mich so fest, dass meine Atmung beeinträchtigt worden wäre, hätte ich keine Rüstung getragen. Wegen der Rüstung konnte ich ihren panischen Atem nicht auf meiner Haut spüren, konnte nicht spüren, wie die Luft vorbeirauschte, auch wenn ich sie hörte. Aber sie fuhr ihre eigene Rüstung nicht aus.

Wenn ich mehr als nur ich selbst gewesen wäre, wenn ich die Zahlen gehabt hätte, die ich benötigte, hätte ich unsere Endgeschwindigkeit berechnen können und wie lange es dauern würde, sie zu erreichen. Die Schwerkraft allein war simpel, aber das Gewicht meines Rucksacks und unserer schweren Mäntel, die uns umflatterten und unsere Geschwindigkeit beeinflussten, machten es zu kompliziert. Es wäre viel einfacher gewesen, es für ein Vakuum zu berechnen, aber wir fielen nicht durch ein Vakuum.

Doch der Unterschied zwischen fünfzig Metern pro Sekunde und hundertfünfzig war in diesem Moment nur in abstrakten Begriffen ein großer. Ich konnte den Boden noch nicht sehen, das Ziel, das ich zu treffen hoffte, war klein, und ich wusste nicht, wie viel Zeit wir haben würden, unsere Haltung anzupassen, falls wir es überhaupt konnten. Während der nächsten zwanzig bis vierzig Sekunden blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten und zu fallen.

»Rüstung!«, schrie ich Seivarden ins Ohr.

»Hab sie verkauft«, antwortete sie. Ihre Stimme zitterte leicht, klang angestrengt in der rauschenden Luft. Ihr Gesicht war immer noch fest gegen meinen Hals gepresst.

Plötzlich wurde es grau. Feuchtigkeit schlug sich auf freiliegenden Teilen meiner Rüstung nieder und wurde nach oben geblasen. Eins Komma drei fünf Sekunden später sah ich den Boden, dicht gepackte dunkle Kreise. Größer und demzufolge näher, als mir lieb gewesen wäre. Ich wurde von einem Adrenalinschub überrascht, anscheinend hatte ich mich zu sehr ans Fallen gewöhnt. Ich drehte den Kopf, versuchte an Seivardens Schulter vorbei auf das zu blicken, was genau unter uns lag.

Meine Rüstung war dazu gedacht, die Kraft eines aufprallenden Geschosses zu verteilen und einen Teil davon als Wärme abzugeben. Theoretisch war sie undurchdringlich, aber mit genügend Kraftaufwand konnte ich trotzdem verletzt oder sogar getötet werden. Unter einem unablässigen Kugelhagel hatte ich Knochenbrüche erlitten und Körper verloren. Ich war mir nicht sicher, was die Reibungskräfte eines Aufpralls mit meiner Rüstung oder mit mir anstellen würden. Ich besaß einige Skelett- und Muskelverstärkungen, aber ob sie für so etwas ausreichend waren, konnte ich nicht sagen. Ich war nicht in der Lage zu berechnen, wie schnell wir fielen, wie viel Energie absorbiert werden musste, um uns auf eine Geschwindigkeit zu verlangsamen, die wir überleben konnten, wie heiß es innerhalb und außerhalb meiner Rüstung werden mochte. Und Seivarden konnte ohne Rüstung nichts dazu beitragen.

Wenn ich immer noch das gewesen wäre, was ich einmal war, hätte das alles natürlich gar keine Rolle gespielt. Dies wäre nicht mein alter Körper gewesen. Unwillkürlich dachte ich, dass es besser gewesen wäre, Seivarden in die Tiefe stürzen zu lassen. Dass ich nicht hätte springen sollen. Im Fallen wusste ich immer noch nicht, warum ich es getan hatte. Aber im Moment der Entscheidung hatte ich das Gefühl gehabt, dass ich ihr nicht einfach den Rücken zukehren konnte.

Inzwischen kannte ich die Entfernung in Zentimetern. »Fünf Sekunden«, sagte ich, schrie ich im Wind. Da waren es bereits vier. Wenn wir sehr, sehr großes Glück hatten, fielen wir genau in die Röhre unter uns, worauf ich meine Hände und Füße gegen die Wände drücken würde. Wenn wir sehr, sehr großes Glück hatten, würde die Reibungshitze die ungeschützte Seivarden nicht allzu schlimm verbrennen. Wenn ich noch größeres Glück hatte, würde ich mir nur die Hand- und Fußgelenke brechen. All das kam mir recht unwahrscheinlich vor, aber die Omen würden so fallen, wie Amaat es wollte.

Der Fall machte mir keine Sorgen. Ich konnte ewig fallen, ohne mich zu verletzen. Das Ende des Falls war das Problem. »Drei Sekunden«, sagte ich.

»Breq«, sagte Seivarden mit einem schluchzenden Keuchen. »Bitte.«

Einige Antworten würde ich nie erhalten. Ich gab die Berechnungen auf, mit denen ich immer noch beschäftigt war. Ich wusste nicht, warum ich gesprungen war, aber in diesem Moment spielte es keine Rolle, in diesem Moment gab es nichts anderes mehr. »Was auch immer Sie tun« — noch eine Sekunde —, »lassen Sie nicht los.«

Dunkelheit. Kein Aufprall. Ich streckte die Arme aus, die unverzüglich nach oben gerissen wurden. Der Schlag brach meine Handgelenke und Fußknöchel, trotz der Verstärkung durch die Rüstung. Sehnen und Muskel rissen, und wir wurden zur Seite geschleudert. Trotz der Schmerzen zog ich meine Arme und Beine an und streckte sie schnell wieder aus, um uns zu stabilisieren. Dabei brach etwas in meinem rechten Bein, aber ich konnte es mir nicht leisten, mir darüber Gedanken zu machen. Zentimeter um Zentimeter wurden wir langsamer.

Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Hände oder Füße, konnte sie nur noch gegen die Wände stoßen und hoffen, dass wir nicht erneut aus dem Gleichgewicht gebracht wurden und hilflos, kopfüber in den Tod stürzten. Die Schmerzen waren schneidend, blendeten alles bis auf Zahlen aus — eine Entfernung (geschätzt), die zentimeterweise geringer wurde (ebenfalls geschätzt), eine Geschwindigkeit (geschätzt), die geringer wurde, die externe Rüstungstemperatur (an meinen Extremitäten steigend, mögliche Gefahr des Überschreitens akzeptabler Parameter, mögliche Verletzungsfolge), doch die Zahlen waren für mich fast ohne Bedeutung, denn der Schmerz war lauter, unmittelbarer als alles andere.

Aber die Zahlen waren wichtig. Ein Vergleich zwischen Entfernung und unserer Verzögerungsrate deutete auf eine bevorstehende Katastrophe hin. Ich strengte mich an, tief einzuatmen, stellte fest, dass ich dazu nicht in der Lage war, und bemühte mich, kräftiger gegen die Wände zu drücken.

An den Rest des Sturzes habe ich keine Erinnerung.

Ich erwachte, auf dem Rücken liegend, unter Schmerzen. In meinen Händen und Armen, in den Schultern. In den Füßen und Beinen. Vor mir — genau über mir — ein Kreis aus grauem Licht. »Seivarden«, versuchte ich zu sagen, aber ich brachte nicht mehr als einen krampfhaften Seufzer zustande, der leicht von den Wänden widerhallte. »Seivarden.« Diesmal kam der Name verständlich heraus, aber kaum hörbar und durch meine Rüstung verzerrt. Ich deaktivierte die Rüstung und versuchte noch einmal zu sprechen, und diesmal funktionierte meine Stimme. »Seivarden.«

Ich hob den Kopf, nur ein wenig. Im schwachen Licht von oben sah ich, dass ich auf dem Boden lag, die Knie gebeugt und zu einer Seite gedreht, das rechte Bein in einem ungewöhnlichen Winkel abstehend, während meine Arme gerade neben meinem Körper lagen. Ich versuchte einen Finger zu bewegen, was mir nicht gelang. Eine Hand. Auch das ging nicht — natürlich. Ich versuchte mein rechtes Bein zu verrücken. Es reagierte mit noch mehr Schmerz.

Hier war niemand außer mir. Nichts außer mir — ich konnte meinen Rucksack nirgendwo sehen.

Früher hätte ich ein Radchaai-Schiff kontaktieren können, wenn eins im Orbit gewesen wäre, mit der Leichtigkeit eines Gedankens. Aber wenn ich mich irgendwo in der Nähe eines Radchaai-Schiffs aufgehalten hätte, wäre all dies niemals geschehen.

Hätte ich Seivarden im Schnee liegen gelassen, wäre all dies niemals geschehen.

Ich war so nahe dran gewesen. Nach zwanzig Jahren Planung und Arbeit, nachdem ich mich hier zwei Schritte vorwärts und dort einen Schritt zurück bewegt hatte, langsam und geduldig, war ich gegen alle Wahrscheinlichkeit so weit gekommen. Viele Male hatte ich wie diesmal einen blinden Versuch unternommen, wobei nicht nur der Erfolg, sondern auch mein Leben auf dem Spiel gestanden hatte, und jedes Mal hatte ich gewonnen oder zumindest nicht auf eine Weise verloren, die mich daran gehindert hätte, es noch einmal zu versuchen.

Bis jetzt. Und das aus einem völlig idiotischen Grund. Über mir verbargen Wolken den unerreichbaren Himmel, die Zukunft, die ich nicht mehr hatte, das Ziel, das ich nun nicht mehr erreichen konnte. Gescheitert.

Ich schloss die Augen über den Tränen, die nicht von körperlichen Schmerzen herrührten. Wenn ich scheiterte, dann nicht, weil ich jemals, zu irgendeinem Zeitpunkt, aufgegeben hätte. Seivarden hatte sich irgendwie entfernt. Ich würde sie wiederfinden. Ich wollte mich einen Moment lang ausruhen, mich sammeln, die Kraft aufbringen, den Handsender aus meinem Mantel zu ziehen und um Hilfe zu rufen. Oder ich würde irgendeine andere Möglichkeit finden, diesen Ort zu verlassen, und wenn ich mich dazu selbst aus den blutigen, nutzlosen Überresten meiner Gliedmaßen herausziehen musste, würde ich es tun, trotz aller Schmerzen, oder ich würde beim Versuch sterben.

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