Mit großer Wahrscheinlichkeit würde es Wochen dauern, bis Seivarden auch nur einen Termin für ihre Audienz bekam. In der Zwischenzeit lebten wir hier, und ich würde die Gelegenheit erhalten, mir einen Eindruck vom Stand der Dinge zu verschaffen — wer sich auf Mianaais Seite schlagen würde, wenn es zu einem offenen Bruch kam. Vielleicht konnte ich sogar herausfinden, welche der Mianaais hier die Oberhand hatte. Jede Information konnte sich als entscheidend erweisen, wenn der Moment gekommen war. Und er würde kommen, dessen war ich mir immer sicherer. Ganz gleich, ob Anaander Mianaai früher oder später erkannte, was ich war, oder nicht, zum jetzigen Zeitpunkt konnte ich mich nicht mehr vor ihren anderen Versionen verbergen. Ich war hier, völlig offen, für jede sichtbar, gemeinsam mit Seivarden.
Wenn ich an Seivarden und an Kapitänin Vel Oscks Bestreben dachte, sie zu treffen, dachte ich gleichzeitig an Hundert-Kapitänin Rubran Osck. An Anaander Mianaai, die sich beklagte, dass sie ihre Überzeugung nicht einschätzen konnte, dass sie sich weder ihres Widerstandes noch ihrer Unterstützung sicher sein konnte, dass sie sie auch nicht unter Druck setzen konnte, um es in Erfahrung zu bringen. Kapitänin Rubran hatte sich dank ihrer Familienbande eine solche neutrale Haltung erlauben können. Verriet das etwas über den Stand von Mianaais Konflikt mit sich selbst zu jenem Zeitpunkt?
Nahm die Kapitänin der Gnade der Kalr den gleichen neutralen Standpunkt ein? Oder hatte sich etwas in dieser Balance verändert, während ich fort gewesen war? Und was bedeutete es, dass Inspektionsleiterin Skaaiat sie nicht mochte? Ich war mir sicher, dass es Abneigung war, was ich auf ihrem Gesicht gesehen hatte, als ich den Namen erwähnt hatte. Die Dockverwaltung war nicht für Militärschiffe zuständig — außer wenn es um Ankunft und Abflug ging, verstand sich —, und in der Beziehung zwischen beiden spielte immer auch eine gewisse Verachtung auf der einen Seite und leichte Missgunst auf der anderen eine Rolle, alles überdeckt von zurückhaltender Höflichkeit. Doch Skaaiat Awer hatte nie zu Missgunst geneigt, und es kam hinzu, dass sie beide Seiten des Spiels kannte. Hatte Kapitänin Vel sie persönlich beleidigt? Oder war es gewöhnliche Antipathie, wie sie gelegentlich vorkam?
Oder stand sie aufgrund ihrer Sympathien auf der anderen Seite irgendeiner politischen Trennlinie? Und wo würde Skaaiat Awer schließlich landen, wenn es zur Spaltung der Radch kam? Sofern nicht irgendetwas geschehen war, das ihre Persönlichkeit und ihre Ansichten drastisch verändert hatte, glaubte ich zu wissen, wie sich Skaaiat Awer dann entscheiden würde. Kapitänin Vel — und genauso die Gnade der Kalr — kannte ich nicht gut genug, um dazu etwas sagen zu können.
Was Seivarden betraf, machte ich mir keine Illusionen, wo ihre Sympathien liegen würden, wenn sie vor der Wahl zwischen Bürgerinnen stand, die ihre angemessene Stellung in einer expandierenden, nach Eroberung strebenden Radch beibehielten, oder keinen weiteren Annexionen und der Beförderung von Bürgerinnen mit dem falschen Akzent und den falschen Vorfahrinnen. Ich machte mir keine Illusionen, welche Meinung Seivarden von Leutnantin Awn gehabt hätte, wären sie sich jemals begegnet.
Der Laden, in dem Kapitänin Vel Tee zu trinken pflegte, wurde nicht auffällig beworben. Das hatte er auch gar nicht nötig. Es gab vermutlich exklusivere Orte — es sei denn, das Vermögen von Osck war in den letzten zwanzig Jahren in ungeahnte Höhen gestiegen. Aber es war trotzdem einer jener Läden, wo man eher nicht willkommen war, wenn man ihn nicht bereits kannte. Drinnen war es düster, und es klang dumpf — Teppiche und Wandbehänge schluckten Echos oder ungewollte Geräusche. Als ich aus dem lärmenden Korridor hineintrat, war es, als hätte ich mir plötzlich die Hände auf die Ohren gelegt. Gruppen aus niedrigen Stühlen umgaben kleine Tische. Kapitänin Vel saß in einer Ecke, vor ihr Kannen und Teetassen und ein halb leeres Tablett mit Gebäck auf dem Tisch. Alle Stühle waren besetzt, und man hatte einen äußeren Kreis dazugestellt.
Sie waren schon seit mindestens einer Stunde hier. Bevor wir das Zimmer verlassen hatten, hatte Seivarden höflich, aber immer noch gereizt zu mir gesagt, dass ich natürlich nicht hetzen sollte, wenn ich zum Tee eingeladen war. Wäre sie bei besserer Laune gewesen, hätte sie mir unverblümt gesagt, dass ich zu spät kommen sollte. Schon bevor sie etwas gesagt hatte, war mir der gleiche Gedanke gekommen, also ließ ich sie in dem Glauben, mich beeinflusst zu haben, sofern ihr diese Genugtuung wichtig war.
Kapitänin Vel sah mich, stand auf und verbeugte sich. »Ah, Breq Ghaiad. Oder heißt es Ghaiad Breq?«
Ich antwortete mit einer ähnlichen Verbeugung, wobei ich darauf achtete, sie genauso knapp zu halten wie ihre. »In der Gerentate stellen wir unsere Hausnamen voran.« Die Gerentate hatte keine Häuser, wie es sie in der Radch gab, aber es war der einzige Begriff, den die Radchaai für familiäre Netzwerke hatten. »Doch ich befinde mich zur Zeit nicht in der Gerentate. Ghaiad ist mein Hausname.«
»Dann haben Sie ihn für uns bereits in die richtige Reihenfolge gebracht«!, sagte Kapitänin Vel mit falscher Jovialität. »Sehr rücksichtsvoll.« Ich konnte Seivarden nicht sehen, die hinter mir stand. Ich fragte mich kurz, welchen Gesichtsausdruck sie zeigte und warum Kapitänin Vel mich hierher eingeladen hatte, wenn ihre Interaktion mit mir immer wieder auf leichte Beleidigungen hinauslief.
Zweifellos wurde ich von der Station beobachtet. Sie würde zumindest Spuren meiner Verärgerung bemerken. Aber nicht Kapitänin Vel. Und wahrscheinlich hätte es sie auch gar nicht interessiert, wenn sie es hätte sehen können.
»Und Kapitänin Seivarden Vendaai«, fuhr Kapitänin Vel fort und verbeugte sich erneut, diesmal jedoch merklich tiefer als beim ersten Mal. »Es ist mir eine Ehre. Eine ausgesprochene Ehre. Setzen Sie sich doch!« Sie deutete auf die Stühle neben ihren, worauf sich zwei elegant gekleidete und mit Edelsteinen geschmückte Radchaai erhoben, um Platz für uns zu machen, ohne sich zu beklagen oder mit sichtbarer Verstimmung zu reagieren.
»Mit Verlaub, Kapitänin«, sagte Seivarden. Höflich. Die am Vortag angebrachten Korrektiva waren abgefallen, und sie sah wieder fast genauso wie vor tausend Jahren aus, die wohlhabende und arrogante Tochter eines hochstehenden Hauses. Ich war mir sicher, dass sie im nächsten Moment verächtlich lächeln und etwas Sarkastisches sagen würde, aber sie tat es nicht. »Ich bin dieses Ranges nicht mehr würdig. Ich bin die Dienerin der geehrten Breq.« Mit leichter Betonung auf geehrt, als wäre Kapitänin Vel der angemessene Höflichkeitstitel vielleicht nicht bekannt und als wollte Seivarden lediglich nett zu ihr sein und sie diskret darüber informieren. »Und ich danke Ihnen für die Einladung, die sie freundlicherweise an mich weitergeleitet hat.« Da war es, eine Andeutung von Verachtung, auch wenn es durchaus möglich war, dass nur eine Person, die sie gut kannte, sie bemerken würde. »Aber ich habe Pflichten, denen ich nachkommen muss.«
»Ich habe Ihnen für den Nachmittag freigegeben, Bürgerin«, sagte ich, bevor Kapitänin Vel antworten konnte. »Verbringen Sie ihn, wie Sie möchten.« Keine Reaktion von Seivarden, und ich konnte ihr Gesicht immer noch nicht sehen. Ich setzte mich auf einen der Plätze, die man für uns geräumt hatte. Vorher hatte dort eine Leutnantin gesessen, zweifellos eine von Kapitänin Vels Offizierinnen. Obwohl ich hier mehr braune Uniformen sah, als es an Bord eines kleinen Schiffs wie der Gnade der Kalr geben konnte.
Die Person neben mir war eine Zivilistin in Rosa und Azurblau, mit feinen Satinhandschuhen, die andeuteten, dass sie niemals rauere oder schwerere Dinge anfasste als eine Teetasse, und einer protzigen großen Brosche aus geflochtenem und gehämmertem Golddraht, die mit Saphiren besetzt war — und nicht mit Glas, wie ich mir sicher war. Wahrscheinlich tat die Gestaltung kund, zu welchem reichen Haus sie gehörte, aber ich erkannte es nicht. Sie beugte sich zu mir vor und sagte laut, während Seivarden sich mir gegenüber setzte: »Wie glücklich Sie sich schätzen müssen, Seivarden Vendaai gefunden zu haben!«
»Glücklich«, wiederholte ich vorsichtig, als wäre mir das Wort unvertraut, und ließ noch ein wenig stärker meinen Gerentate-Akzent mitschwingen. Fast wünschte ich mir, die Sprache der Radchaai würde mehr Wert auf das Geschlecht legen, damit ich es falsch verwenden konnte und noch fremder klang. Fast. »Ist das der Begriff, mit dem man es bezeichnet?« Ich hatte richtig geraten, warum Kapitänin Vel auf diese Weise an mich herangetreten war. Inspektionsleiterin Skaaiat hatte etwas Ähnliches getan und Seivarden angesprochen, obwohl sie gewusst hatte, dass sie als meine Dienerin in die Station gekommen war. Natürlich hatte die Inspektionsleiterin ihren Fehler fast sofort erkannt.
Auf der anderen Seite des Tisches erklärte Seivarden Kapitänin Vel, wie es um ihre Eignungsprüfung stand. Ich war erstaunt über ihre eiskalte Ruhe, wenn ich bedachte, wie verärgert sie gewesen war, seit ich ihr von meiner Absicht erzählt hatte, an diesem Treffen teilzunehmen. Aber dies war in gewisser Weise ihr natürliches Habitat. Wenn das Schiff, das ihre Suspensionskapsel gefunden hatte, sie an einen Ort wie diesen gebracht hätte und nicht in eine kleine provinzielle Station, hätten sich die Dinge für sie ganz anders entwickelt.
»Lächerlich!«, rief Rosa-und-Azurblau neben mir, während Kapitänin Vel eine Tasse Tee einschenkte und sie Seivarden anbot. »Als wären Sie ein Kind. Als wüsste niemand, wozu Sie geeignet sind. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass Beamtinnen solche Angelegenheiten mit Anstand regeln.« Gerecht, schwang beim vorletzten Wort mit. Nützlich.
»Ich habe mein Schiff verloren, Bürgerin«, sagte Seivarden.
»Nicht durch Ihre Schuld, Kapitänin«, protestierte eine andere Zivilistin irgendwo hinter mir. »Auf gar keinen Fall.«
»Alles, was während meiner Wache geschieht, ist meine Schuld, Bürgerin«, erwiderte Seivarden.
Kapitänin Vel gestikulierte Zustimmung. »Trotzdem hätte es keine Frage sein sollen, ob Sie sich erneut den Prüfungen unterziehen.«
Seivarden blickte auf ihren Tee, sah zu mir herüber, die ich mit leeren Händen dasaß, und stellte ihre Tasse auf den Tisch, ohne davon getrunken zu haben. Kapitänin Vel schenkte eine Tasse ein und bot sie mir an, als hätte sie Seivardens Geste nicht bemerkt.
»Wie finden Sie die Radch nach tausend Jahren, Kapitänin?«, fragte jemand hinter mir, als ich den Tee annahm. »Sehr verändert?«
Seivarden hob ihre eigene Tasse nicht wieder auf. »Zum Teil verändert, zum Teil gleich geblieben.«
»Zum Besseren oder zum Schlechteren?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Seivarden gelassen.
»Wie schön Sie sprechen, Kapitänin Seivarden«, sagte eine andere Person. »Heutzutage achten so viele junge Leute überhaupt nicht mehr auf ihre Sprache. Es ist nett, eine Person zu hören, die mit wahrer Vornehmheit spricht.«
Seivardens Lippen verzogen sich auf eine Weise, die man als Dank für ein Kompliment verstehen könnte, was es aber mit Sicherheit nicht war.
»Diese niederen Häuser und Leute aus der Provinz mit ihren Akzenten und Slangs«, stimmte Kapitänin Vel zu. »Wirklich, mein eigenes Schiff, gute Soldatinnen, aber wenn man sie reden hört, könnte man glauben, sie wären nie zur Schule gegangen.«
»Pure Bequemlichkeit«, bekräftigte eine Leutnantin hinter Seivarden.
»So etwas gibt es bei Hilfseinheiten nicht«, sagte jemand hinter mir, wahrscheinlich eine andere Kapitänin.
»Vieles gibt es bei Hilfseinheiten nicht«, sagte wieder eine andere Person. Der Kommentar war auf zweideutige Weise zu verstehen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass ich wusste, wie er gemeint war. »Aber das ist kein sicheres Gesprächsthema.«
»Kein sicheres?«, fragte ich unschuldig. »Es ist doch bestimmt nicht verboten, sich über junge Leute zu beklagen! Wie grausam. Ich dachte, das gehört zur menschlichen Natur, eine der wenigen menschlichen Gepflogenheiten, die universell praktiziert werden.«
»Und bestimmt«, fügte Seivarden mit leicht verächtlicher Miene hinzu, als ihre Maske endlich Risse bekam, »ist es immer sicher, sich über niedere Häuser und Leute aus der Provinz zu beklagen.«
»Das sollte man meinen«, sagte Rosa-und-Azurblau neben mir und missverstand Seivardens Intention. »Aber seit Ihren Tagen haben wir uns auf traurige Weise geändert, Kapitänin. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass bei den Eignungsprüfungen die richtigen Bürgerinnen zu den richtigen Posten kamen. Einige der Entscheidungen, die heute getroffen werden, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Und Atheisten werden Privilegien gewährt.« Sie meinte die Valskaayaner, die im Allgemeinen keine Atheisten, sondern exklusive Monotheisten waren. Viele Radchaai waren außerstande, diesen Unterschied zu sehen. »Und menschliche Soldatinnen! Heutzutage reagieren viele Leute empfindlich auf Hilfseinheiten, aber man sieht niemals betrunkene Hilfseinheiten, die sich auf der Promenade erbrechen.«
Seivarden machte eine mitfühlende Geste. »Ich habe noch nie erlebt, wie sich Offizierinnen bis zum Erbrechen betrinken.«
»Zu Ihren Zeiten vielleicht nicht«, erwiderte jemand hinter mir. »Es hat sich einiges verändert.«
Rosa-und-Azurblau verneigte den Kopf in Kapitänin Vels Richtung, deren Gesichtsausdruck mir verriet, dass sie Seivardens Worte endlich verstanden hatte, im Gegensatz zu Rosa-und-Azurblau. »Das soll nicht heißen, Kapitänin, dass Sie Ihr Schiff nicht in Ordnung halten. Aber mit Hilfseinheiten müssten Sie gar nichts in Ordnung halten, nicht wahr?«
Kapitänin Vel tat die Bemerkung mit einem Wink der leeren Hand ab, während sie ihre Teetasse in der anderen hielt. »Das ist Führung, Bürgerin, das ist einfach nur meine Aufgabe. Aber es gibt viel ernstere Probleme. Man kann Truppentransporter nicht mit Menschen bestücken. Alle Gerechtigkeiten mit menschlichen Besatzungen sind halb leer.«
»Und natürlich«, warf Rosa-und-Azurblau ein, »müssen sie alle bezahlt werden.«
Kapitänin Vel gestikulierte Zustimmung. »Manche sagen, dass wir sie nicht mehr brauchen.« Wobei mit manche natürlich Anaander Mianaai gemeint war. Niemand würde ihren Namen nennen, wenn sie kritisiert wurde. »Dass unsere Grenzen angemessen sind, so wie sie sind. Ich behaupte nicht, etwas von Strategie oder Politik zu verstehen. Aber mir scheint, dass es weniger verschwenderisch ist, wenn wir Hilfseinheiten einlagern, statt Menschen auszubilden und zu bezahlen und sie turnusmäßig ein- und auszulagern.«
»Manche sagen«, warf Rosa-und-Azurblau neben mir ein, während sie sich ein Stück Gebäck vom Tisch nahm, »wenn die Gerechtigkeit der Torren nicht verschwunden wäre, hätte man inzwischen längst einen der anderen Transporter verschrottet.« Meine Überraschung, als ich meinen Namen hörte, konnte für niemanden hier sichtbar gewesen sein, aber die Station würde es zweifellos bemerken. Und diese Überraschung, dieser leichte Schreck, war etwas, das nicht in die Identität passte, die ich konstruiert hätte. Ich war mir sicher, dass die Station mich nun reevaluierte. Genauso wie Anaander Mianaai.
»Ah«, sagte eine Zivilistin hinter mir. »Aber unsere Besucherin freut es zweifellos zu hören, dass unsere Grenzen festgelegt sind.«
Ich drehte kaum den Kopf, um zu antworten. »Die Gerentate wäre ein ziemlich großer Happen.« Ich sprach mit gleichmäßiger Stimme. Niemand hier konnte sehen, wie sehr ich immer noch über den Schreck vor wenigen Augenblicken bestürzt war.
Außer natürlich der Station und Anaander Mianaai. Und Anaander Mianaai — oder zumindest ein Teil von ihr — würde einem Gespräch über die Gerechtigkeit der Torren und den Reaktionen darauf große Beachtung schenken.
»Ich weiß nicht, Kapitänin Seivarden«, sagte Kapitänin Vel in diesem Moment, »ob Sie schon von der Meuterei bei Ime gehört haben. Eine komplette Einheit verweigerte ihre Befehle und lief zu einer Alien-Streitmacht über.«
»Mit einer Schiffsbesatzung aus Hilfseinheiten wäre das bestimmt nicht passiert«, sagte jemand hinter Seivarden.
»Kein allzu großer Happen für die Radch, würde ich meinen«, sagte die Person hinter mir.
»Ich wage zu behaupten« — wieder ließ ich ein wenig Gerentate-Akzent einfließen —, »dass Sie sich, wenn Sie eine so lange Grenze mit uns teilen, inzwischen etwas bessere Tischsitten angewöhnt haben müssten.« Ich wollte mich nicht ganz umdrehen, um zu sehen, ob das Schweigen, das ich zur Antwort erhielt, amüsiert oder entrüstet war, oder ob sie lediglich durch Seivarden und Kapitänin Vel abgelenkt wurde. Und ich bemühte mich, nicht zu angestrengt darüber nachzudenken, welche Schlussfolgerungen Anaander Mianaai aus meiner Reaktion ziehen würde, als ich meinen Namen gehört hatte.
»Ich glaube, ich habe davon gehört«, sagte Seivarden mit leicht gerunzelter Stirn. »Ime. Das war das System, in dem die Provinzgouverneurin und die Schiffskapitäninnen mordeten und raubten und die Schiffe und die Station sabotierten, damit niemand die Vorfälle melden konnte. Nicht wahr?« Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, wie die Station — oder die Herrin der Radch — meine Reaktion auf das deutete. Sie würde so ausfallen, wie sie ausfiel. Ich musste ruhig bleiben.
»Das ist nicht der Punkt«, erwiderte Rosa-und-Azurblau. »Der Punkt ist, dass es Meuterei war. Eine Meuterei, über die hinweggesehen wurde, aber man kann keine schlichte Tatsachenbehauptung über die Gefahren der Beförderung von schlecht erzogenen und vulgären Personen auf verantwortliche Posten oder über Reglements vorbringen, die zu niederträchtigem Verhalten animieren und sogar alles unterminieren, wofür die Zivilisation stets gestanden hat, ohne Geschäftskontakte oder Karriereaussichten zu verlieren.«
»Dann scheint es sehr mutig von Ihnen zu sein, so etwas auszusprechen«, stellte ich fest. Aber ich war mir sicher, dass Rosa-und-Azurblau gar nicht ausgesprochen mutig war. Sie konnte so sprechen, weil sie sich damit nicht in Gefahr brachte.
Ruhig bleiben. Ich konnte meine Atmung beherrschen, sie flach und gleichmäßig halten. Meine Haut war zu dunkel, um irgendeine Rötung zu zeigen, aber die Station würde die Temperaturveränderung bemerken. Vielleicht dachte sie nur, dass ich mich über irgendetwas ärgerte. Ich hatte gute Gründe, mich zu ärgern.
»Geehrte«, sagte Seivarden unvermittelt. An der Haltung ihres Unterkiefers und ihrer Schultern sah ich, dass sie den Drang unterdrückte, die Arme zu verschränken. Dass sie schon bald wieder in der Stimmung sein würde, wo sie nur noch stumm die Wand anstarren würde. »Wir werden zu spät zu unserer nächsten Verabredung kommen.« Sie erhob sich, etwas abrupter, als es die Höflichkeit geboten hätte.
»In der Tat«, pflichtete ich ihr bei und stellte meine noch volle Teetasse zurück. Und hoffte, dass sie aus eigenem Antrieb in Aktion getreten war, und nicht, weil sie Anzeichen für meine Beunruhigung gesehen hatte. »Kapitänin Vel, vielen Dank für Ihre freundliche Einladung. Es war eine Ehre, Sie alle kennengelernt zu haben.«
Draußen auf der Hauptpromenade lief Seivarden neben mir und murmelte: »Verdammte Wichtigtuerinnen.« Leute passierten uns, von denen die meisten uns überhaupt nicht beachteten. Das war gut. Das war normal. Ich spürte, wie mein Adrenalinpegel sank.
Schon besser. Ich blieb stehen, wandte mich Seivarden zu und hob eine Augenbraue.
»Aber sie sind Wichtigtuerinnen«, sagte sie. »Was glauben die, wofür Eignungsprüfungen da sind? Der Sinn des Ganzen ist doch, dass jede sich für alles prüfen lassen kann.«
Ich erinnerte mich an die zwanzig Jahre jüngere Leutnantin Skaaiat, die in der feuchten Dunkelheit der Oberstadt fragte, ob es den Eignungsprüfungen schon zuvor an Unvoreingenommenheit gemangelt hatte oder ob das erst jetzt der Fall war. Und wie sie für sich selbst geantwortet hatte, dass beides der Fall war. Und an den Schmerz und die Bestürzung von Leutnantin Awn.
Seivarden verschränkte die Arme, löste sie wieder, ballte die Hände in den Handschuhen zu Fäusten. »Und natürlich muss jemand aus einem niederen Haus schlecht erzogen sein und einen vulgären Akzent haben. Wie könnte es auch anders sein?«
Seivarden war noch nicht fertig. »Und was haben sie sich dabei gedacht, ein solches Gespräch zu führen? In einem Teeladen! In einer Palaststation! Ich meine nicht nur ›als wir noch jung waren‹ und ›Leute aus der Provinz sind vulgär‹, sondern auch noch korrupte Eignungsprüfungen? Das Militär wird schlecht verwaltet?« Ich sagte nichts dazu, aber sie antwortete, als hätte ich es getan. »Ja, natürlich, jede beklagt sich darüber, dass Dinge schlecht laufen. Aber doch nicht so! Was ist hier los?«
»Mich dürfen Sie nicht fragen.« Obwohl ich es natürlich wusste — oder zu wissen glaubte. Und ich fragte mich erneut, warum diese Rosa-und-Azurblau und die anderen so freiheraus ihre Meinung gesagt hatten. Welche Anaander Mianaai mochte hier vorherrschen? Auch wenn diese Art von freier Meinungsäußerung vielleicht nur bedeutete, dass es der Herrin der Radch lieber war, wenn ihre Feindinnen sich offen und unzweideutig zu erkennen gaben. »Und waren Sie schon immer dafür, dass Personen aus schlechtem Haus für höhere Posten getestet werden sollen?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass sie es nicht gewesen war.
Und plötzlich wurde mir bewusst, dass die Station vielleicht niemals einer Person von der Gerentate begegnet war, aber Anaander Mianaai sehr wohl. Warum hatte ich nicht vorher daran gedacht? Etwas, das in mein Schiffsbewusstsein einprogrammiert worden war, bis zu diesem Moment unsichtbar für mich, oder einfach nur die Einschränkungen dieses einen kleinen Gehirns, das mir geblieben war?
Ich konnte vielleicht die Station und jede andere hier täuschen, aber die Herrin der Radch konnte ich keinen Augenblick lang täuschen. Mit Sicherheit hatte sie seit dem Moment, als ich die Palastdocks betreten hatte, genau gewusst, dass ich nicht das war, wofür ich mich ausgab.
Es würde so geschehen, wie es eben geschah, sagte ich mir.
»Ich habe über das nachgedacht, was Sie mir über Ime erzählt haben«, sagte Seivarden, als wäre es eine Antwort auf meine Frage. Ohne etwas von meiner neuen Beunruhigung zu bemerken. »Ich weiß nicht, ob die Anführerin dieser Einheit das Richtige getan hat. Aber ich weiß auch nicht, was das Richtige gewesen wäre. Und ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte, für das Richtige zu sterben, selbst wenn ich gewusst hätte, was es ist. Ich meine …« Sie hielt inne. »Ich meine, ich stelle mir gern vor, ich hätte ihn gehabt. Es gab eine Zeit, in der ich mir dessen ganz sicher gewesen wäre. Aber ich kann nicht einmal …« Sie verstummte mit leicht zitternder Stimme. Sie schien den Tränen nah zu sein, wie die Seivarden von vor einem Jahr, als fast alle Gefühle zu viel für sie gewesen waren. Diese ausdauernde Höflichkeit im Teeladen musste das Ergebnis einer beträchtlichen Anstrengung gewesen sein.
Ich hatte den Leuten, die an uns vorbeigingen, keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Aber nun bekam ich den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Ich war mir plötzlich der Anwesenheit und Bewegung der Leute um uns herum sehr bewusst. Etwas Unbestimmtes beunruhigte mich, etwas an der Art, wie sich einzelne Leute bewegten.
Mindestens vier Personen beobachteten uns verstohlen. Sie waren uns zweifellos gefolgt, und ich hatte sie bis jetzt nicht bemerkt. Das konnte nur eine neue Entwicklung sein. Sie wären mir aufgefallen, wenn sie mir seit dem Augenblick meiner Ankunft in den Docks gefolgt wären. Dessen war ich mir ganz sicher.
Die Station hatte bestimmt mein Erschrecken im Teeladen gesehen, als Rosa-und-Azurblau die Gerechtigkeit der Torren erwähnt hatte. Zweifellos hatte sie sich gefragt, warum ich so reagiert hatte. Hatte mich daraufhin sicherlich noch aufmerksamer als zuvor beobachtet. Aber die Station musste mich nicht verfolgen lassen, um mich im Auge zu behalten. Das hier war keine bloße Überwachung.
Das hier war nicht die Station.
Ich hatte noch nie zu Panikanfällen geneigt und würde jetzt nicht damit anfangen. Dieser Wurf war meiner, und wenn ich auch die Bahn eines Omens nicht ganz richtig berechnet hatte, war mir bei den anderen kein Fehler unterlaufen. Mit sehr, sehr leiser Stimme sagte ich zu Seivarden: »Wir werden zu früh bei der Inspektionsleiterin eintreffen.«
»Müssen wir wirklich zu dieser Awer gehen?«, fragte Seivarden.
»Ich denke, wir sollten es tun.« Nachdem ich es gesagt hatte, wünschte ich mir im nächsten Moment, es nicht getan zu haben. Ich wollte mich nicht mit Skaaiat Awer treffen, nicht jetzt, nicht in meinem Zustand.
»Vielleicht sollten wir es nicht tun«, sagte Seivarden. »Vielleicht sollten wir ins Zimmer zurückgehen. Sie können meditieren oder beten oder was auch immer Sie machen, dann können wir zu Abend essen und etwas Musik hören. Ich glaube, das wäre besser.«
Sie machte sich Sorgen um mich. Ganz offensichtlich. Und sie hatte recht, im Zimmer wäre es besser. Ich hätte die Gelegenheit, mich zu beruhigen, eine Bestandsaufnahme zu machen.
Und Anaander Mianaai hätte die Gelegenheit, mich verschwinden zu lassen, ohne dass es jemand bemerkte. »Zur Inspektionsleiterin«, sagte ich.
»Ja, Geehrte«, antwortete Seivarden fügsam.
Skaaiat Awers Quartier war ein eigenes kleines Labyrinth aus Korridoren und Zimmern. Sie lebte hier mit mehreren Dockinspektorinnen und Klientinnen und sogar Klientinnen von Klientinnen. Zweifellos handelte es sich nicht um Awers einzige Präsenz in der Station, und das Haus musste hier noch andere Quartiere haben, aber Skaaiat schien es so lieber zu sein. Recht exzentrisch, aber das war von einer Awer zu erwarten. Aber wie bei so vielen Awers hatte diese Exzentrizität auch einen praktischen Aspekt — wir befanden uns hier recht nahe bei den Docks.
Eine Dienerin ließ uns ein und führte uns in ein Wohnzimmer mit blau-weißen Steinfliesen. Vom Boden bis zur Decke war es mit allen möglichen Pflanzen ausgekleidet, dunkel- oder hellgrün, mit schmalen oder breiten Blättern, hängend oder aufrecht, einige blühend, stellenweise in Weiß, Rot, Purpur, Gelb, gefleckt oder gescheckt. Wahrscheinlich war mindestens ein Mitglied des Haushalts in Vollzeit mit der Pflege dieser Sammlung beschäftigt.
Daos Ceit wartete hier auf uns. Sie verbeugte sich tief und schien aufrichtig erfreut zu sein, uns zu sehen. »Geehrte Breq, Bürgerin Seivarden. Die Inspektionsleiterin wird sich sehr freuen, dass Sie gekommen sind. Setzen Sie sich bitte.« Sie deutete auf die Stühle, die im Zimmer verteilt standen. »Möchten Sie Tee? Oder hatten Sie schon genug? Ich weiß, dass Sie heute noch einen anderen Termin hatten.«
»Tee wäre nett, vielen Dank«, sagte ich. Weder ich noch Seivarden hatten in Kapitänin Vels Runde tatsächlich etwas getrunken. Aber ich wollte mich nicht setzen. Alle Stühle sahen aus, als würden sie meine Bewegungsfreiheit einschränken, sollte ich angegriffen werden und gezwungen sein, mich zu verteidigen.
»Breq?«, sagte Seivarden sehr leise. Besorgt. Sie erkannte, dass etwas nicht stimmte, konnte aber nicht diskret nach dem Grund fragen.
Daos Ceit reichte mir eine Tasse Tee, lächelnd, allem Anschein nach aufrichtig. Ohne meinen Zustand der Anspannung zu bemerken, wie es schien, der für Seivarden so offensichtlich war. Wie hatte ich sie nicht sofort wiedererkennen können, als ich sie gesehen hatte? Warum hatte ich nicht sofort ihren orsianischen Akzent identifiziert?
Wie hatte ich übersehen können, dass ich Anaander Mianaai unmöglich länger als nur für einen winzigen Augenblick täuschen konnte?
Ich konnte nicht die ganze Zeit stehen, ohne dass es einen unhöflichen Eindruck machte. Ich musste mir einen Platz suchen. Keiner der verfügbaren Stühle war annehmbar. Aber ich war viel gefährlicher, als fast jeder hier bewusst sein konnte, selbst im Sitzen. Ich hatte immer noch die Waffe, ein beruhigendes Druckgefühl an meinen Rippen, unter meiner Jacke. Ich hatte immer noch die Aufmerksamkeit der Station, von allen Anaander Mianaais, ja, und das war genau das, was ich gewollt hatte. Es war immer noch mein Spiel. Das war es. Such dir einen Platz aus. Die Omen werden fallen, wie sie fallen.
Bevor ich mich setzen konnte, trat Skaaiat Awer in den Raum. Ihr Schmuck war so bescheiden wie während ihrer Arbeitszeit, aber ich hatte einen Ballen des hellgelben Stoffs ihrer elegant geschnittenen Jacke im teuren Bekleidungsgeschäft gesehen. An ihrer rechten Manschette blinkte das billige, maschinengestanzte Goldabzeichen.
Sie verbeugte sich. »Geehrte Breq. Bürgerin Seivarden. Es freut mich, Sie beide wiederzusehen. Wie ich sehe, hat Gehilfin Ceit Ihnen bereits Tee serviert.« Seivarden und ich stimmten mit höflichen Gesten zu. »Ich möchte Ihnen sagen, bevor alle anderen eintreffen, dass ich hoffe, dass Sie beide zum Abendessen bleiben.«
»Sie haben gestern versucht, uns zu warnen, nicht wahr?«, fragte Seivarden.
»Seivarden …«, begann ich.
Inspektionsleiterin Skaaiat hob eine Hand in elegantem gelbem Handschuh. »Schon gut, Geehrte. Ich weiß, dass Kapitänin Vel sich gern mit ihrer Antiquiertheit brüstet. Und ihrer Überzeugung Ausdruck verleiht, wie viel besser alles war, als Kinder noch Respekt vor ihren Eltern hatten und guter Geschmack und kultivierte Manieren die Regel waren. Die alten vertrauten Reden, und ich bin mir sicher, dass Sie ähnliche bereits vor tausend Jahren gehört haben, Bürgerin.« Seivarden bestätigte es mit einem kurzen Ha. »Zweifellos haben Sie schon viel darüber gehört, dass die Radchaai die Pflicht haben, der Menschheit die Zivilisation zu bringen. Und dass Hilfseinheiten bei dieser Aufgabe erheblich effizienter sind als menschliche Soldatinnen.«
»Was das betrifft«, sagte Seivarden, »würde ich meinen, dass sie das auch sind.«
»Natürlich würden Sie das.« Skaaiat ließ einen Ansatz von Verärgerung aufblitzen. Seivarden hatte es vermutlich gar nicht gesehen, weil sie sie nicht gut genug kannte. »Wahrscheinlich wissen Sie nicht, Bürgerin, dass ich selbst während einer Annexion menschliche Truppen kommandiert habe.« Das hatte Seivarden nicht gewusst. Ihre Überraschung war offensichtlich. Ich hatte es natürlich gewusst. Mein Mangel an Überraschung wäre für die Station offenkundig. Für Anaander Mianaai.
Es hatte keinen Sinn, sich deswegen Sorgen zu machen. »Es stimmt«, fuhr Skaaiat fort, »dass man Hilfseinheiten nicht bezahlen muss und sie nie private Probleme haben. Sie tun, was man von ihnen verlangt, ohne Klage oder Kommentar, und sie tun es gut und vollständig. Und das traf auf meine menschlichen Soldatinnen nicht zu. Und die meisten meiner Soldatinnen waren gute Leute, aber es ist so einfach, nicht wahr, zu entscheiden, dass die Leute, gegen die man kämpft, nicht menschlich sind. Oder vielleicht muss man es tun, damit man in der Lage ist, sie zu töten. Leute wie Kapitänin Vel weisen gern auf die Gräueltaten hin, die menschliche Truppen begangen haben, die Hilfseinheiten niemals begehen würden. Als wäre die Erschaffung dieser Hilfseinheiten nicht bereits eine Gräueltat. Und sie sind tatsächlich effizienter.«
In Ors hätte Skaaiat eine sarkastische Bemerkung zu diesem Thema gemacht, aber nun sprach sie völlig ernsthaft. Vorsichtig und präzise. »Und wenn wir immer noch expandieren würden, würden wir sie immer noch benutzen. Weil wir es mit menschlichen Soldatinnen nicht schaffen würden, nicht für längere Zeit. Und wir sind dazu gemacht zu expandieren, wir sind seit mehr als zweitausend Jahren expandiert, und wenn wir jetzt aufhören, würde das bedeuten, dass wir völlig ändern, was wir sind. Im Augenblick sehen die meisten Leute das noch gar nicht, denken gar nicht darüber nach. Sie werden es erst tun, wenn es einen direkten Einfluss auf ihr Leben hat, und das hat es für die meisten Leute noch nicht. Es ist eine abstrakte Frage, außer für Leute wie Kapitänin Vel.«
»Aber Kapitänin Vels Meinung ist bedeutungslos«, sagte Seivarden. »Genauso wie die aller anderen. Die Herrin der Radch hat entschieden, aus welchem Grund auch immer. Und es wäre dumm, herumzugehen und etwas dagegen zu sagen.«
»Vielleicht entscheidet sie sich anders, wenn sie überzeugt wird«, erwiderte Skaaiat. Wir alle standen immer noch. Ich war viel zu angespannt, um mich zu setzen, Seivarden zu aufgeregt, Skaaiat zu wütend, wie mir schien. Daos Ceit stand erstarrt da und tat, als würde sie nichts hören. »Oder die Entscheidung ist vielleicht ein Anzeichen, dass die Herrin der Radch auf irgendeine Weise korrumpiert wurde. Kapitänin Vel und ihresgleichen sind gewiss gegen all die Gespräche, die wir mit Aliens führen. Die Radch stand schon immer für die Zivilisation, und mit Zivilisation war schon immer die reine, unverdorbene Menschheit gemeint. Wenn wir uns tatsächlich mit Nicht-Menschen auseinandersetzen, statt sie einfach zu töten, kann das nicht gut für uns sein.«
»Ist es das, worum es bei Ime ging?«, fragte Seivarden, die offenbar während unseres Spaziergangs hierher darüber nachgedacht hatte. »Jemand hat beschlossen, eine Basis einzurichten und Hilfseinheiten einzulagern und … und was dann? Um das Problem zu forcieren? Wir reden hier über Rebellion. Verrat. Warum reden jetzt alle über so etwas? Es sei denn, man hat nicht alle Personen erwischt, die für Ime verantwortlich waren. Und jetzt warten sie, dass ein paar Leute aus der Deckung kommen und Lärm machen, und sobald man glaubt, alle Beteiligten hätten sich zu erkennen gegeben …« Jetzt war sie offen verärgert. Das war ziemlich gut geraten, damit mochte sie mehr oder weniger richtig liegen. Je nachdem, welche Anaander hier die Oberhand hatte. »Warum haben Sie uns nicht gewarnt?«
»Ich habe es versucht, Bürgerin, aber ich hätte es direkter formulieren müssen. Allerdings war ich mir nicht sicher, dass Kapitänin Vel so weit gehen würde. Ich wusste nur, dass sie die Vergangenheit auf eine Weise idealisiert, mit der ich nicht einverstanden bin. Selbst die ehrenwertesten Leute mit den besten Absichten der Welt können aus einer Annexion keine gute Sache machen. Das Argument, dass Hilfseinheiten effizient und praktisch sind, spricht in meinen Augen nicht dafür, sie zu benutzen. Dadurch wird es nicht besser, es sieht nur ein wenig sauberer aus.«
Und das auch nur, wenn man ignorierte, was Hilfseinheiten eigentlich waren. »Sagen Sie mir« — ich hätte fast Sagen Sie mir, Leutnantin gesagt, konnte es mir aber gerade noch rechtzeitig verkneifen —, »sagen Sie mir, Inspektionsleiterin, was mit den Leuten geschieht, die darauf warten, dass man sie zu Hilfseinheiten macht.«
»Einige sind noch eingelagert oder an Bord von Truppentransportern«, sagte Skaaiat. »Aber die meisten wurden vernichtet.«
»Dadurch wird es natürlich viel besser«, sagte ich in ernsthaftem, gleichmäßigem Tonfall.
»Awer war von Anfang an dagegen«, sagte Skaaiat. Sie meinte damit eine fortgesetzte Expansion, nicht die Expansion an sich. Und die Radch hatte bereits seit Langem Hilfseinheiten benutzt, als sich Anaander Mianaai zu dem gemacht hatte, was sie war. Es waren nur noch nicht so viele gewesen. »Awers Hausherrinnen haben es der Herrin der Radch wiederholt gesagt.«
»Aber die Hausherrinnen haben sich nicht geweigert, davon zu profitieren.« Ich sprach mit ruhiger, freundlicher Stimme.
»Es ist so einfach, bei etwas mitzumachen, nicht wahr?«, sagte Skaaiat. »Vor allem, wenn man davon profitiert, wie Sie sagen.« Dann runzelte sie die Stirn und legte den Kopf schief, als sie ein paar Sekunden lang auf etwas horchte, das nur sie hören konnte. Sah mich fragend an, dann Seivarden. »Die Stationssicherheit ist an der Tür. Sie fragt nach Bürgerin Seivarden.« Fragen war zweifellos wesentlich höflicher als die Wirklichkeit. »Entschuldigen Sie mich für einen Moment.« Sie trat in den Korridor, gefolgt von Daos Ceit.
Seivarden sah mich seltsam ruhig an. »Allmählich wünsche ich mir, ich wäre immer noch tiefgefroren in meiner Rettungskapsel.« Ich lächelte, aber es schien sie nicht zu überzeugen. »Alles in Ordnung? Sie scheinen ein Problem zu haben, seit wir diese Vel Osck verlassen haben. Verdammte Skaaiat Awer, dass sie uns nicht direkter gewarnt hat! Normalerweise kann man eine Awer nicht davon abhalten, unangenehme Dinge zu sagen. Ausgerechnet jetzt beschließt sie, diskret zu sein!«
»Mir geht es gut«, log ich.
Während ich sprach, kehrte Skaaiat mit einer Bürgerin in der hellbraunen Uniform der Stationssicherheit zurück, die sich verbeugte und an Seivarden wandte. »Bürgerin, würden Sie und diese Person mich bitte begleiten?« Die Höflichkeit war natürlich bloße Formsache. Niemand schlug eine Einladung der Stationssicherheit aus. Selbst wenn wir es versucht hätten, hielt sich draußen die Verstärkung bereit, um sicherzustellen, dass wir uns nicht weigerten. Die Leute, die uns seit dem Treffen mit Kapitänin Vel gefolgt waren, konnten nicht vom Sicherheitsdienst sein. Es waren Sondereinsatzkommandos oder vielleicht sogar Anaander Mianaais eigene Wachen. Die Herrin der Radch hatte alle Puzzleteile zusammengesetzt und beschlossen, mich zu beseitigen, bevor ich irgendeinen ernsthaften Schaden anrichten konnte. Aber dafür war es inzwischen sicherlich zu spät. Alle ihre Versionen beobachteten mich jetzt. Das verriet mir die Tatsache, dass sie die Stationssicherheit geschickt hatte, um mich verhaften zu lassen, und nicht irgendeine Sondereinsatzoffizierin, um mich schnell und leise zu töten.
»Natürlich«, antwortete Seivarden völlig ruhig und höflich. Natürlich. Sie wusste, dass sie sich keines Vergehens schuldig gemacht hatte, sie war davon überzeugt, dass ich zu einem Sondereinsatzkommando gehörte und für Anaander persönlich arbeitete. Warum sollte sie sich also Sorgen machen? Ich aber wusste, dass nun endlich der Augenblick gekommen war. Die Omen, die seit zwanzig Jahren in der Luft verharrt hatten, würden nun fallen und mir wie auch Anaander Mianaai ihr Muster offenbaren.
Die Sicherheitsoffizierin zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie weitersprach. »Die Herrin der Radch möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Bürgerin.« Kein Blick in meine Richtung. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, warum man sie geschickt hatte, um uns zur Herrin der Radch zu eskortieren, war sich gar nicht der Tatsache bewusst, dass ich gefährlich war, dass sie die Rückendeckung brauchte, die draußen im Korridor auf uns wartete. Falls sie überhaupt wusste, dass die Leute warteten.
Die Waffe steckte immer noch unter meiner Jacke, und hier und dort hatte ich Ersatzmagazine deponiert, wo sie sich nicht abzeichnen würden. Ich konnte davon ausgehen, dass Anaander Mianaai nicht wusste, was ich beabsichtigte.
»Wurde mir also meine Audienz gewährt?«, fragte Seivarden.
Die Sicherheitsoffizierin gestikulierte uneindeutig. »Das kann ich nicht sagen, Bürgerin.«
Anaander Mianaai hatte nichts von meiner Ankunft wissen können. Sie wusste nur, dass ich vor etwa zwanzig Jahren verschwunden war. Ein Teil von ihr wusste vielleicht, dass sie bei meiner letzten Reise an Bord gewesen war, aber keine Version von ihr konnte wissen, was geschehen war, nachdem ich das Shis’urna-System durch ein Tor verlassen hatte.
»Ich habe gefragt«, sagte Inspektionsleiterin Skaaiat, »ob Sie zuvor Tee trinken und zu Abend essen möchten.« Dass sie gefragt hatte, sagte einiges über ihre Beziehung zum Sicherheitsdienst aus. Dass ihr Angebot abgelehnt worden war, sagte einiges über die Dringlichkeit dieser Verhaftung aus — und ich war mir sicher, dass es eine Verhaftung war.
Die ahnungslose Sicherheitsoffizierin gestikulierte entschuldigend. »Meine Befehle, Inspektionsleiterin. Bürgerin.«
»Natürlich«, sagte Skaaiat sanft und gelassen, aber ich kannte sie, hörte den unterschwellig besorgten Tonfall in ihrer Stimme. »Bürgerin Seivarden. Geehrte Breq. Wenn ich Ihnen auf irgendeine Weise behilflich sein kann, zögern Sie bitte nicht, mich zu informieren.«
»Vielen Dank, Inspektionsleiterin«, sagte ich und verbeugte mich. Meine Angst und Unsicherheit, meine drohende Panik verflüchtigten sich. Das Omen des Stillstands war gekippt, war zu Bewegung geworden. Und schon bald würde Gerechtigkeit vor mir landen, klar und unzweideutig.
Die Sicherheitsoffizierin führte uns nicht zum Haupteingang des eigentlichen Palasts, sondern in den Tempel, in dem es zu dieser Stunde ruhig war, da viele Leute auf Besuch waren oder zu Hause mit der Familie bei einer Tasse Tee saßen. Eine Juniorpriesterin hockte neben dem nun halb leeren Korb mit Blumen. Sie wirkte gelangweilt und schlecht gelaunt und warf uns einen unfreundlichen Blick zu, als wir eintraten. Aber sie wandte uns nicht einmal den Kopf zu, während wir an ihr vorbeigingen.
Wir durchquerten die Haupthalle, die vierarmige Amaat ragte auf, es roch immer noch nach Weihrauch und dem Blumenhaufen, der der Göttin bis zu den Knien reichte. Ganz hinten in einer Ecke traten wir in eine winzige Kapelle, die einer alten und fast in Vergessenheit geratenen provinziellen Gottheit gewidmet war, eine der Personifikationen abstrakter Begriffe, wie sie in vielen Pantheons vertreten waren, in diesem Fall eine Vergöttlichung der legitimen politischen Autorität. Als man den Palast erbaut hatte, war es zweifellos keine Frage gewesen, dass diese Göttin gleich neben Amaat platziert wurde, doch dann schien sie in Ungnade gefallen zu sein. Oder es hatte sich die Demografie der Station oder vielleicht nur die Mode geändert, sofern nicht ein größeres Unheil dafür verantwortlich war.
In der Wand hinter dem Bildnis der Göttin glitt eine Tür auf. Im Durchgang stand eine bewaffnete und gerüstete Wache, die Waffe im Holster, aber nicht weit von ihrer Hand, das Gesicht von silbrig glatter Rüstung geschützt. Eine Hilfseinheit, dachte ich, obwohl ich mir nicht sicher sein konnte. Nicht zum ersten Mal in den vergangenen zwanzig Jahren fragte ich mich, wie das funktionierte. Der eigentliche Palast wurde doch bestimmt nicht von der Station bewacht. Waren Anaander Mianaais Wachen vielleicht nur weitere Teile von ihr selbst?
Seivarden sah mich verärgert an, vielleicht auch ein wenig verängstigt. »Ich glaube nicht, dass mir dieser Geheimeingang aufgefallen wäre.« Obwohl er wahrscheinlich gar nicht so geheim war, nur weniger öffentlich als der draußen auf der Promenade.
Die Sicherheitsoffizierin machte wieder diese uneindeutige Geste, sagte aber nichts.
»Nun gut«, sagte ich, und Seivarden bedachte mich mit einem erwartungsvollen Blick. Offensichtlich glaubte sie, dass es etwas mit dem speziellen Status zu tun hatte, den ich ihrer Ansicht nach hatte. Ich trat durch die Tür, an der regungslosen Wache vorbei, die mich überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, genauso wenig wie Seivarden, die mir folgte. Hinter uns schob sich die Tür wieder zu.