Irgendwann öffnete ich wieder die Augen, weil ich glaubte, Stimmen gehört zu haben. Um mich herum war nur Blau. Ich versuchte zu blinzeln und stellte fest, dass ich nur die Augen schließen und sie geschlossen halten konnte.
Einige Zeit später öffnete ich erneut die Augen und drehte den Kopf nach rechts. Dort sah ich Seivarden und das Mädchen vor einem Tiktik-Brett hocken. Also träumte oder halluzinierte ich. Wenigstens hatte ich keine Schmerzen mehr, was nach gründlicherer Überlegung ein schlechtes Zeichen war. Aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, mir deswegen Sorgen zu machen. Also schloss ich wieder die Augen.
Schließlich erwachte ich zu vollem Bewusstsein und fand mich in einem kleinen Raum mit blauen Wänden wieder. Ich lag in einem Bett, und auf einer Bank daneben saß Seivarden, gegen die Wand gelehnt. Sie sah aus, als hätte sie längere Zeit nicht geschlafen. Oder eher so, als hätte sie in letzter Zeit nicht so viel geschlafen wie gewöhnlich.
Ich hob den Kopf. Meine Arme und Beine waren durch Korrektiva fixiert.
»Sie sind wach«, sagte Seivarden.
Ich legte den Kopf wieder zurück. »Wo ist mein Rucksack?«
»Hier.« Sie bückte sich und hob ihn in mein Sichtfeld.
»Wir befinden uns in der Klinik in Therrod«, riet ich und schloss die Augen.
»Ja. Glauben Sie, dass Sie mit der Ärztin reden können? Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt.«
Ich erinnerte mich an meinen Traum. »Sie haben gelernt, Tiktik zu spielen.«
»Das ist etwas anderes.« Also doch kein Traum.
»Sie haben den Flieger verkauft.« Keine Antwort. »Sie haben Kef gekauft.«
»Nein«, protestierte sie. »Ich wollte es tun. Aber als ich aufwachte und Sie gegangen waren …« Ich hörte, wie sie unbehaglich auf der Bank herumrutschte. »Ich wollte einen Dealer suchen, aber ich habe mir Sorgen gemacht, weil Sie weg waren, und ich nicht wusste, wo Sie waren. Ich dachte darüber nach, ob Sie mich vielleicht zurückgelassen hatten.«
»Das alles wäre Ihnen egal gewesen, wenn Sie das Kef genommen hätten.«
»Aber ich hatte kein Kef«, sagte sie in überraschend vernünftigem Tonfall. »Und dann ging ich zur Rezeption und stellte fest, dass Sie ausgecheckt hatten.«
»Und Sie beschlossen, nach mir und nicht nach einem Kef-Dealer zu suchen«, sagte ich. »Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen.« Sie schwieg fünf Sekunden lang. »Ich habe hier gesessen und nachgedacht. Ich habe Sie beschuldigt, mich zu hassen, weil ich besser war als Sie.«
»Das ist nicht der Grund, warum ich Sie hasse.«
Sie ging nicht darauf ein. »Bei Amaats Gnade, dieser Sturz … es war meine Schuld, meine Dummheit. Ich war mir sicher, dass ich tot war, und wenn es andersherum passiert wäre, wäre ich niemals gesprungen, um irgendwem das Leben zu retten. Sie haben sich niemals niedergekniet, um etwas zu erreichen. Sie sind dort, wo Sie sind, weil Sie verdammt fähig sind und bereit, alles zu riskieren, um es richtig zu machen, und ich werde nie auch nur die Hälfte dessen sein, was Sie sind, selbst wenn ich mich mein ganzes Leben lang anstrengen würde, und ich dachte die ganze Zeit, ich wäre besser als Sie, selbst halbtot und völlig nutzlos, weil meine Familie alt ist, weil ich besser geboren wurde.«
»Das«, sagte ich, »ist der Grund, warum ich Sie hasse.«
Sie lachte, als hätte ich etwas halbwegs Geistreiches gesagt. »Wenn Sie bereit sind, so etwas für eine Person zu tun, die Sie hassen, was würden sie dann für eine tun, die Sie lieben?«
Ich stellte fest, dass ich darauf keine Antwort geben konnte. Zum Glück kam die Ärztin herein, breit, mit rundem Gesicht, blass. Sie runzelte leicht die Stirn, tat es noch mehr, als sie mich sah. »Wie es scheint«, sagte sie in gleichmäßigem Tonfall, der unbefangen klang, aber Missbilligung implizierte, »verstehe ich Ihren Freund nicht, wenn er versucht zu erklären, was geschehen ist.«
Ich sah Seivarden an, die eine hilflose Geste machte und sagte: »Ich verstehe kein einziges Wort. Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber den ganzen Tag lang ernte ich von ihr nur diesen Blick, als wäre ich biologischer Abfall, in den sie getreten ist.«
»Wahrscheinlich ist es ihr normaler Gesichtsausdruck.« Ich wandte mich wieder der Ärztin zu. »Wir sind von der Brücke gefallen«, teilte ich ihr mit.
Der Ausdruck der Ärztin änderte sich nicht. »Sie beide?«
»Ja.«
Ein Augenblick der leidenschaftslosen Stille, dann: »Es bringt nichts, gegenüber seinem Arzt unaufrichtig zu sein.« Und als ich nichts dazu sagte: »Sie wären nicht die ersten Touristen, die ein Sperrgebiet betreten und sich verletzen. Sie sind jedoch die ersten, die behaupten, von der Brücke gefallen zu sein und es überlebt zu haben. Ich weiß nicht, ob ich eine solche Unverfrorenheit bewundern oder wütend auf Sie sein soll, weil Sie mich zum Narren halten wollen.«
Ich sagte immer noch nichts. Ich konnte mir keine Geschichte ausdenken, die meine Verletzungen überzeugender als die Wahrheit erklärte.
»Mitglieder von militärischen Streitkräften müssen sich bei Ankunft im System registrieren lassen«, fuhr die Ärztin fort.
»Ich erinnere mich, davon gehört zu haben.«
»Haben Sie sich registrieren lassen?«
»Nein, weil ich kein Mitglied irgendeiner militärischen Streitkraft bin.« Das war nicht völlig gelogen. Ich war kein Mitglied, sondern ein Teil der Ausrüstung. Ein einsames, nutzloses Fragment der Ausrüstung, um genau zu sein.
»Diese Klinik ist nicht dafür eingerichtet«, sagte die Ärztin, nur einen Hauch strenger als kurz zuvor, »mit der Art von Implantaten und Verstärkungen umzugehen, über die Sie offenbar verfügen. Ich kann die Resultate der Reparaturen nicht vorhersagen, die ich programmiert habe. Sie sollten einen Arzt aufsuchen, wenn Sie nach Hause zurückgekehrt sind. In die Gerentate.« Diese letzten Worte klangen ein wenig skeptisch, ein leiser Hinweis auf die Zweifel der Ärztin.
»Ich beabsichtige, unverzüglich heimzukehren, sobald ich die Klinik verlassen habe«, sagte ich, aber ich fragte mich, ob die Ärztin uns als potenzielle Spione gemeldet hatte. Ich glaubte nicht daran — hätte sie es getan, hätte sie es wahrscheinlich vermieden, irgendeinen Verdacht zum Ausdruck zu bringen, und stattdessen darauf gewartet, dass sich die Behörden mit uns auseinandersetzten. Also hatte sie es nicht getan. Warum nicht?
Eine mögliche Antwort streckte den Kopf ins Zimmer und rief fröhlich: »Breq! Sie sind wach! Onkel liegt nur eine Etage höher. Was ist passiert? Ihr Freund scheint uns sagen zu wollen, dass Sie von der Brücke gesprungen sind, aber das ist unmöglich. Geht es Ihnen schon besser?« Nun trat das Mädchen ganz in den Raum. »Hallo, Doktor, wird Breq wieder ganz gesund?«
»Breq wird es bald wieder gutgehen. Die Korrektiva dürften morgen abfallen. Sofern es keine neuen Probleme gibt.« Und mit dieser optimistischen Feststellung drehte sie sich um und verließ das Zimmer.
Das Mädchen setzte sich auf die Bettkante. »Ihr Freund ist ein furchtbarer Tiktik-Spieler. Ich bin froh, dass ich ihm nicht die Glücksspiel-Variante beigebracht habe, weil er sonst kein Geld mehr hätte, um den Doktor zu bezahlen. Und es ist Ihr Geld, nicht wahr? Das aus dem Flieger.«
Seivarden runzelte die Stirn. »Was? Was sagt sie?«
Ich beschloss, den Inhalt meines Rucksacks zu überprüfen, sobald ich die Gelegenheit dazu hatte. »Er hätte es beim Counters zurückgewonnen.«
Das Gesicht des Mädchens verriet, dass sie es mir nicht glaubte. »Sie sollten wirklich nicht unter die Brücke gehen, wissen Sie. Ich kenne jemanden, der einen Freund hatte, dessen Cousine unter die Brücke ging. Dann ließ jemand ein Stück Brot fallen, und es fiel so schnell, dass sie davon am Kopf getroffen wurde. Ihr Schädel brach auf, dann ging es ins Gehirn und tötete sie.«
»Der Gesang deiner Cousine hat mir sehr gefallen.« Ich wollte jeder weiteren Diskussion des Vorfalls aus dem Weg gehen.
»Ist sie nicht wunderbar? Oh!« Sie drehte den Kopf, als hätte sie etwas gehört. »Ich muss gehen. Ich werde Sie wieder besuchen!«
»Das würde ich sehr begrüßen«, sagte ich. Dann war sie zur Tür hinaus. Ich sah Seivarden an. »Wie viel hat das alles gekostet?«
»Etwa das, was ich für den Flieger bekommen habe«, sagte sie und zog leicht den Kopf ein, vielleicht aus Beschämung. Oder aus einem anderen Grund.
»Haben Sie irgendetwas aus meinem Rucksack genommen?«
Das brachte ihren Kopf wieder hoch. »Nein! Ich schwöre, dass ich es nicht getan habe.« Ich antwortete nicht. »Sie glauben mir nicht. Das kann ich Ihnen nicht verübeln. Sie können nachschauen, sobald Ihre Hände wieder frei sind.«
»Das werde ich tun. Aber was dann?«
Sie runzelte verständnislos die Stirn. Natürlich konnte sie es nicht verstehen, weil sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, mich (fälschlich) als menschliches Wesen einzuschätzen, dem sie möglicherweise Respekt entgegenbringen sollte. Wie es schien, war sie noch nicht darauf gekommen, dass sie vielleicht gar nicht bedeutend genug für die Radch sein könnte, dass man eine Sondereinsatzoffizierin zu ihr schickte.
»Ich habe nie den Auftrag erhalten, nach Ihnen zu suchen«, sagte ich. »Ich habe Sie rein zufällig gefunden. Und soweit ich weiß, sucht auch sonst niemand nach Ihnen.« Ich wünschte, ich könnte gestikulieren, sie mit einem Wink hinausschicken.
»Warum sind Sie dann hier? Es kann keine Vorbereitungsarbeit für eine Annexion sein, weil es keine mehr geben wird. Zumindest hat man es mir gesagt.«
»Keine Annexionen mehr«, bestätigte ich. »Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Sie kommen und gehen können, wie Sie möchten. Ich habe nicht den Befehl, Sie zurückzubringen.«
Seivarden dachte sechs Sekunden lang darüber nach und sagte dann: »Ich habe schon einmal versucht, den Dienst zu quittieren. Ich habe es wirklich getan. Diese Station, in der ich war, hatte ein Programm. Wenn jemand aussteigt, gibt man ihr einen Job. Eine ihrer Arbeiterinnen holte mich rein und säuberte mich und erzählte mir von dem Angebot. Der Job war miserabel, das Angebot war beschissen, aber ich hatte die Nase voll. So dachte ich jedenfalls.«
»Wie lange haben Sie durchgehalten?«
»Nicht ganz sechs Monate.«
»Sie verstehen«, sagte ich nach einer zweisekündigen Pause, »warum ich diesmal nicht allzu viel Vertrauen in Sie habe.«
»Glauben Sie mir, das verstehe ich. Aber diesmal ist es anders.« Sie beugte sich mit ernster Miene vor. »Nichts klärt die eigenen Gedanken so sehr wie die Überzeugung, dass man sterben wird.«
»Die Wirkung ist oftmals nur vorübergehend.«
»In der Station sagte man zu mir, dass man mir etwas geben könnte, das bewirkt, dass Kef bei mir nicht mehr wirkt. Aber zuerst müsste ich in Ordnung bringen, was mich dazu getrieben hat, es überhaupt zu nehmen, weil ich ansonsten nur irgendetwas anderes finden würde. Blödsinn, wie ich bereits sagte, aber wenn ich es wirklich gewollt hätte, wenn es mir damit ernst gewesen wäre, hätte ich es tun können.«
In Strigans Haus hatte sie angedeutet, dass es einen ganz einfachen und klaren Grund gab, warum sie damit angefangen hatte. »Haben Sie ihnen gesagt, warum Sie damit angefangen haben?« Sie antwortete nicht. »Haben Sie ihnen gesagt, wer Sie waren?«
»Natürlich nicht.«
Ich vermutete, dass die zwei Fragen für sie ein und dieselbe waren. »Im Garsedd-System haben Sie dem Tod ins Auge geblickt.«
Sie zuckte zusammen, nur ganz leicht. »Und alles hat sich verändert. Ich wachte auf, und alles, was ich hatte, war Vergangenheit. Und es war keine besonders gute Vergangenheit, niemand war darauf erpicht, mir zu erzählen, was geschehen war, alle waren so höflich und freundlich, und alles war ein einziger Schwindel. Und ich konnte für mich keine Zukunft mehr sehen. Hören Sie.« Sie beugte sich vor, ernst, etwas angestrengter atmend. »Sie sind ganz allein hier draußen, und offensichtlich sind Sie dazu geeignet, weil Sie sonst nie diesen Auftrag erhalten hätten.« Sie hielt kurz inne, vielleicht um zu überlegen, wer eigentlich wozu geeignet war, wer einen Auftrag wozu erhalten hatte, bis sie den Gedanken aufgab. »Aber am Ende können Sie in die Radch zurückkehren und Leute aufsuchen, die Sie kennen, die sich an Sie erinnern, persönlich, einen Ort finden, wo Sie dazugehören, selbst wenn Sie nicht immer dort sind. Ganz gleich, wohin Sie gehen, Sie bleiben ein Teil dieses Musters, selbst wenn Sie niemals zurückkehren, wissen Sie jederzeit, dass es da ist. Aber als man diese Suspensionskapsel öffnete, war jede, die jemals irgendein persönliches Interesse an mir hatte, bereits vor siebenhundert Jahren gestorben. Wahrscheinlich schon früher. Nicht einmal …« Ihre Stimme zitterte, und sie hielt inne, um auf irgendeinen Punkt hinter mir zu starren. »Selbst die Schiffe.«
Selbst die Schiffe. »Schiffe? Mehr als nur die Schwert der Nathtas?«
»Mein … das allererste Schiff, in dem ich diente. Die Gerechtigkeit der Torren. Ich dachte, wenn ich vielleicht herausfinden könnte, wo sie stationiert war, könnte ich eine Nachricht schicken und …« Sie machte eine verneinende Geste, löschte den Rest ihres Satzes aus. »Es war verschwunden. Vor zehn … warten Sie … ich habe mein Zeitgefühl verloren. Vor etwa fünfzehn Jahren.« Eher zwanzig. »Niemand konnte mir sagen, was passiert ist. Niemand weiß etwas.«
»Waren irgendwelche der Schiffe, in denen Sie dienten, Ihnen in besonderer Weise zugetan?«, fragte ich und achtete auf einen gleichmäßigen, möglichst neutralen Tonfall.
Sie blinzelte. Richtete sich auf. »Das ist eine seltsame Frage. Haben Sie irgendwelche Erfahrungen mit Schiffen?«
»Ja«, sagte ich. »Wirklich.«
»Schiffe haben immer eine enge Bindung zu ihrer Kapitänin.«
»Nicht mehr so wie früher.« Nicht mehr, seit einige Schiffe nach dem Tod ihrer Kapitänin wahnsinnig geworden waren. Das war vor sehr langer Zeit gewesen. »Trotzdem haben sie ihre Favoritinnen.« Obwohl eine Favoritin es nicht unbedingt wissen musste. »Aber das spielt eigentlich gar keine Rolle, nicht wahr? Schiffe sind keine Personen, und sie wurden geschaffen, um Ihnen zu dienen, um eine Bindung einzugehen, wie Sie es ausgedrückt haben.«
Seivarden runzelte die Stirn. »Jetzt sind Sie verärgert. Sie sind sehr gut darin, es zu verbergen, aber Sie sind verärgert.«
»Trauern Sie um Ihre Schiffe«, fragte ich, »weil sie gestorben sind? Oder weil ihr Verlust bedeutet, dass sie nicht da sind, um Ihnen das Gefühl der Bindung und Fürsorge zu geben?« Schweigen. »Oder glauben Sie, dass das dasselbe ist?« Immer noch keine Antwort. »Ich werde meine Frage selbst beantworten: Sie waren niemals eine Favoritin irgendeines Schiffs, in dem Sie gedient haben. Sie halten es gar nicht für möglich, dass Schiffe Favoritinnen haben können.«
Seivarden riss die Augen auf — vielleicht vor Überraschung, vielleicht aus einem anderen Grund. »Sie kennen mich viel zu gut, als dass ich glauben könnte, Sie wären nicht wegen mir hier. Davon war ich überzeugt, seit ich tatsächlich angefangen habe, darüber nachzudenken.«
»Also erst seit relativ kurzer Zeit«, sagte ich.
Sie ignorierte meine Bemerkung. »Sie sind die erste Person, seit diese Kapsel geöffnet wurde, die sich vertraut anfühlt. Als würde ich Sie wiedererkennen. Als würden Sie mich wiedererkennen. Ich weiß nicht, warum das so ist.«
Ich wusste es natürlich. Aber dies war nicht der Moment, um es zu sagen, um es zu erklären, in meinem bewegungsunfähigen und verletzlichen Zustand. »Ich versichere Ihnen, dass ich nicht Ihretwegen hier bin. Ich verfolge hier meine persönlichen Angelegenheiten.«
»Sie sind für mich von der Brücke gesprungen.«
»Und ich werde nicht der Grund für Sie sein, mit dem Kef aufzuhören. Ich übernehme keine Verantwortung für Sie. Das müssen Sie ganz allein tun. Wenn Sie es wirklich tun wollen.«
»Sie sind für mich von dieser Brücke gesprungen. Der Sturz ging bestimmt drei Kilometer in die Tiefe. Noch mehr. Das ist … das ist …« Sie verstummte kopfschüttelnd. »Ich bleibe bei Ihnen.«
Ich schloss die Augen. »In dem Augenblick, wo ich auch nur denke, Sie könnten mich erneut bestehlen, werde ich Ihnen beide Beine brechen und Sie zurücklassen, und es wird reiner Zufall sein, wenn Sie mich danach jemals wiedersehen.« Außer dass es für Radchaai keine Zufälle gab.
»Ich schätze, dass ich dem kaum widersprechen kann.«
»Ich rate Ihnen davon ab.«
Sie lachte kurz, dann schwieg sie fünfzehn Sekunden lang. »Erklären Sie mir eins, Breq«, sagte sie anschließend. »Wenn Sie wegen persönlicher Angelegenheiten hier sind, die ganz und gar nichts mit mir zu tun haben, warum haben Sie dann eine der Garseddai-Waffen in Ihrem Rucksack?«
Die Korrektiva hielten meine Arme und Beine völlig bewegungsunfähig. Ich konnte nicht einmal die Schulter vom Bett heben. Die Ärztin stürmte ins Zimmer, das blasse Gesicht gerötet. »Bleiben Sie still liegen!«, tadelte sie und wandte sich dann an Seivarden. »Was haben Sie getan?«
Das war für Seivarden anscheinend verständlich. Sie breitete die Hände in hilfloser Geste aus. »Nicht!«, antwortete sie nachdrücklich in der gleichen Sprache.
Die Ärztin runzelte die Stirn, zeigte mit einem ausgestreckten Finger auf Seivarden. Seivarden richtete sich auf, empört über die Geste, die für eine Radchaai wesentlich unverschämter war als auf dieser Welt. »Wenn Sie Ärger machen wollen«, sagte die Ärztin streng, »gehen Sie!« Dann sah sie mich an. »Und Sie werden still liegen und Ihre Wunden anständig heilen lassen.«
»Ja.« Ich hörte mit den sehr geringfügigen Bewegungen auf, die ich zustande gebracht hatte. Atmete tief durch, versuchte mich zu beruhigen.
Das schien sie zu besänftigen. Sie beobachtete mich eine Weile, überprüfte zweifellos meine Herz- und Atemfrequenz. »Wenn Sie sich nicht beruhigen können, kann ich Ihnen ein Medikament geben.« Ein Angebot, eine Frage, eine Drohung. »Und ich kann dafür sorgen, dass er« — mit einem Seitenblick auf Seivarden — »verschwindet.«
»Beides wird nicht nötig sein.«
Die Ärztin antwortete mit einem skeptischen Hmpf und verließ das Zimmer.
»Tut mir leid«, sagte Seivarden, nachdem die Ärztin gegangen war. »Das war dumm von mir. Ich hätte nachdenken sollen, bevor ich spreche.« Ich sagte nichts dazu. »Als wir ganz unten landeten«, fuhr sie fort, als hätte es eine logische Verbindung zu ihren vorigen Worten, »waren Sie bewusstlos. Und offensichtlich schwer verletzt. Ich hatte Angst, Sie allzu sehr zu bewegen, weil ich nicht erkennen konnte, ob Sie vielleicht Knochenbrüche hatten. Ich hatte keine Möglichkeit, Hilfe herbeizurufen, aber ich dachte, Sie hätten vielleicht etwas dabei, das ich benutzen konnte, um nach oben zu klettern, oder vielleicht irgendwelche Erste-Hilfe-Korrektiva, die ich Ihnen geben konnte, aber das war natürlich dumm, denn Ihre Rüstung war weiterhin aktiviert, woran ich erkannte, dass Sie noch am Leben waren. Ich habe Ihr Handgerät aus Ihrem Mantel genommen, aber es gab kein Signal. Ich musste bis nach oben klettern, bevor ich irgendwen erreichen konnte. Als ich zurückkam, war Ihre Rüstung eingezogen, und ich hatte Angst, sie könnten tot sein. Es ist immer noch alles in Ihrem Rucksack.«
»Wenn die Waffe weg ist«, sagte ich mit ruhiger und neutraler Stimme, »werde ich Ihnen nicht nur die Beine brechen.«
»Sie ist da«, beteuerte sie. »Aber das kann unmöglich eine persönliche Angelegenheit sein, nicht wahr?«
»Es ist persönlich.« Nur dass etwas Persönliches bei mir immer eine große Anzahl von Personen betraf. Aber wie konnte ich das erklären, ohne mehr zu verraten, als ich in diesem Augenblick offenbaren wollte?
»Erzählen Sie mir davon.«
Jetzt war kein guter Zeitpunkt. Aber es gab sehr viel zu erklären, vor allem, da Seivardens Geschichtswissen über die vergangenen letzten tausend Jahre zweifellos lückenhaft und oberflächlich war. Die Ereignisse vieler Jahre, von denen sie bestimmt keine Ahnung hatte, hatten mich hierhergeführt, und sie würden lange Erklärungen erfordern, bevor ich überhaupt dazu kommen konnte, wer ich war und was ich zu tun beabsichtigte.
Und diese historischen Ereignisse wären von entscheidender Bedeutung. Wie konnte Seivarden irgendetwas verstehen, wenn sie das nicht verstand? Wie konnte sie ohne diesen Kontext verstehen, warum irgendjemand irgendwie gehandelt hatte? Hätte Anaander Mianaai nicht mit solcher Wut auf die Garseddai reagiert, hätte sie dann alles Weitere in den folgenden tausend Jahren genauso getan? Hätte Leutnantin Awn niemals von den Ereignissen in Ime fünf Jahre zuvor gehört, heute vor fünfundzwanzig Jahren, hätte sie dann genauso gehandelt?
Wenn ich mir den Augenblick vorstellte, in dem die Soldatin der Gnade der Sarrse sich ihren Befehlen widersetzte, sah ich sie als Segment einer Hilfseinheit. Sie war die Eins der Amaat-Einheit der Gnade der Sarrse gewesen, ihr ranghöchstes Mitglied. Obwohl sie menschlich gewesen war, obwohl sie neben ihrer Stellung an Bord einen Namen gehabt hatte, außer Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse. Aber ich hatte nie eine Aufzeichnung gesehen, hatte nie ihr Gesicht gesehen.
Sie war menschlich gewesen. Sie hatte die Zustände in Ime unmittelbar erlebt — vielleicht sogar selbst die korrupten Anweisungen der Gouverneurin durchgesetzt, als es ihr befohlen wurde. Aber etwas in diesem bestimmten Augenblick hatte die Dinge verändert. Etwas war zu viel für sie gewesen.
Was war es gewesen? Vielleicht der Anblick einer Rrrrrr, tot oder im Sterben liegend? Ich hatte Bilder der Rrrrrr gesehen, lang wie Schlangen, mit Fell und zahlreichen Gliedmaßen, die knurrend und bellend sprachen, und die Menschen, die mit ihnen assoziiert waren, die diese Sprache sprechen und verstehen konnten. Waren es die Rrrrrr gewesen, die Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse aus der vorgesehenen Bahn geworfen hatten? Hatte sie sich so große Sorgen wegen der Drohung gemacht, den Vertrag mit den Presger zu brechen? Oder war es die Vorstellung gewesen, so viele hilflose menschliche Wesen zu töten? Hätte ich mehr über sie gewusst, hätte ich vielleicht erkannt, warum sie in diesem Augenblick beschlossen hatte, lieber zu sterben.
Ich wusste fast gar nichts über sie. Vermutlich war das Absicht. Aber selbst das wenige, das ich gewusst hatte, das wenige, das Leutnantin Awn gewusst hatte, war entscheidend gewesen. »Hat Ihnen irgendjemand erzählt, was in der Station Ime geschehen ist?«
Seivarden runzelte die Stirn. »Nein. Erzählen Sie es mir.«
Ich erzählte es ihr. Von der korrupten Gouverneurin, wie sie die Station Ime sowie alle anderen Schiffe daran hinderte, ihre Taten zu melden, so weit von allem anderen im Radch-Territorium entfernt. Über das Schiff, das eines Tages eingetroffen war — man hatte vermutet, dass es menschlich war, weil niemand etwas von Aliens irgendwo in der Nähe wusste, und es war offensichtlich nicht aus der Radch, womit es Freiwild war. Ich erzählte Seivarden so viel, wie ich über die Soldatinnen von der Gnade der Sarrse wusste, die das unbekannte Schiff enterten und den Befehl hatten, es zu übernehmen und alle an Bord zu töten, die Widerstand leisteten oder erkennbar nicht als Hilfseinheiten geeignet waren. Ich wusste nicht viel — nur dass unmittelbar, nachdem die Einheit Eins Amaat das fremde Schiff geentert hatte, ihre Eins sich geweigert hatte, weiterhin ihren Befehlen zu folgen. Sie hatte den Rest von Eins Amaat von ihrem Standpunkt überzeugt, dann waren sie zu den Rrrrrr übergelaufen und hatten das Schiff außer Reichweite gebracht.
Seivardens Stirnfalten wurden nur umso tiefer, und als ich fertig war, sagte sie: »Also erzählen Sie mir, dass die Gouverneurin von Ime absolut korrupt war. Und dass sie irgendwie über die nötigen Zugriffsrechte verfügte, um die Station Ime daran zu hindern, sie zu melden? Wie konnte das geschehen?« Ich antwortete nicht. Entweder kam sie von selbst auf die offensichtliche Schlussfolgerung, oder sie war einfach nicht in der Lage, sie zu erkennen. »Und wie konnte sie nach der Eignungsprüfung eine solche Position erlangen, wenn sie zu solchen Dingen fähig war? Das ist unmöglich.«
Seivarden fuhr fort: »Natürlich folgt daraus alles Weitere, nicht wahr? Eine korrupte Gouverneurin ernennt korrupte Beamtinnen, ungeachtet ihrer Eignung. Aber die Kapitäninnen, die dort stationiert waren … nein, das ist unmöglich.«
Sie war nicht in der Lage, es zu erkennen. Ich hätte überhaupt nichts sagen sollen. »Als diese Soldatin sich weigerte, die Rrrrrr zu töten, die in das System gekommen waren, als sie den Rest ihrer Einheit überzeugte, dasselbe zu tun, erzeugte sie eine Situation, die sich nicht allzu lange verheimlichen ließ. Die Rrrrrr konnten ihr eigenes Tor generieren, also konnte die Gouverneurin sie nicht daran hindern, das System zu verlassen. Sie mussten nur einen einzigen Sprung in das nächste bewohnte System machen und ihre Geschichte erzählen. Und genau das taten sie.«
»Warum lag ihnen denn überhaupt so viel an den Rrrrrr?« Seivardens Kehle konnte sich nicht ganz an den Laut gewöhnen. »Ernsthaft? So werden sie genannt?«
»So nennen sie sich selbst«, erklärte ich in meinem geduldigsten Tonfall. Wenn eine Rrrrrr oder eine ihrer menschlichen Übersetzerinnen es sagte, klang es wie ein anhaltendes Knurren, das sich jedoch nicht sehr von anderen Äußerungen der Rrrrrr unterschied. »Es ist wirklich sehr schwer auszusprechen. Die meisten Leute, die ich gehört habe, rollen einfach nur ein langgezogenes r.«
»Rrrrrr«, probierte Seivarden. »Klingt immer noch komisch. Also warum lag den Leuten so viel an den Rrrrrr?«
»Weil die Presger den Vertrag mit uns auf der Grundlage ihrer Entscheidung schlossen, dass wir signifikant sind. Insignifikante zu töten hat für die Presger keine Bedeutung, und Gewalt zwischen den Angehörigen derselben Spezies bedeutet ihnen ebenfalls nichts, aber willkürliche Gewalt gegen andere signifikante Spezies ist inakzeptabel.« Was nicht heißt, dass gar keine Gewalt erlaubt ist, aber nur unter gewissen Bedingungen, von denen keine für die meisten Menschen irgendeinen Sinn ergibt. Also war es am sichersten, sie ganz zu vermeiden.
Seivarden hauchte ein Hhh, als ihr langsam die Zusammenhänge klar wurden.
»Also war nun«, fuhr ich fort, »die gesamte Einheit Eins Amaat der Gnade der Sarrse zu den Rrrrrr übergelaufen. Sie waren außer Reichweite, standen unter dem Schutz der Aliens, aber für die Radchaai hatten sie sich des Hochverrats schuldig gemacht. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie zu lassen, wo sie waren, aber stattdessen forderte die Radch sie zurück, damit sie exekutiert werden konnten. Was die Rrrrrr natürlich nicht tun wollten. Die Einheit Eins Amaat hatte ihnen das Leben gerettet. Einige Jahre lang war die Situation angespannt, aber irgendwann wurde ein Kompromiss geschlossen. Die Rrrrrr übergaben die Anführerin der Einheit, die die Meuterei angezettelt hatte, im Austausch gegen Immunität für alle anderen.«
»Aber …« Seivarden hielt inne.
Nach sieben Sekunden Schweigen sagte ich: »Sie denken, dass sie natürlich sterben musste, weil Ungehorsam niemals geduldet werden kann, aus sehr guten Gründen. Aber gleichzeitig wurde durch ihren Verrat die Korruption der Gouverneurin von Ime aufgedeckt, die andernfalls ungebrochen weitergegangen wäre. Also tat sie der Radch letztlich einen Gefallen. Sie denken, jede Närrin wüsste es besser, als den Mund aufzumachen und eine Regierungsbeamtin aus welchem Grund auch immer zu kritisieren. Und Sie denken daran, dass es schlecht für eine Zivilisation ist, wenn eine Person, die den Mund aufmacht und etwas offenkundig Böses kritisiert, bestraft wird, einfach nur für die Kritik. Keine wird dann den Mund aufmachen, wenn sie nicht bereit ist, für ihre Kritik zu sterben, und …« Ich zögerte. Schluckte. »Es gibt nicht viele, die dazu bereit sind. Sie glauben wahrscheinlich, dass sich die Herrin der Radch in einer schwierigen Situation befand, als sie entscheiden musste, wie sie damit umgeht. Und auch, dass diese besonderen Umstände außergewöhnlich waren und dass Anaander Mianaai die letzte Befehlsgewalt hat und sie hätte begnadigen können, wenn sie es gewünscht hätte.«
»Ich denke darüber nach«, sagte Seivarden, »dass die Herrin der Radch sich einfach damit hätte begnügen können, sie bei den Rrrrrr zu lassen — so hätte sie sich des Problems entledigt.«
»Das hätte sie tun können«, stimmte ich zu.
»Außerdem denke ich, dass ich, wenn ich an der Stelle der Herrin der Radch gewesen wäre, niemals zugelassen hätte, dass diese Nachricht weiter als bis nach Ime gelangt.«
»Mithilfe Ihres direkten Zugriffs könnten Sie Schiffe und Stationen daran hindern, darüber zu sprechen. Sie könnten allen Bürgerinnen, die etwas wussten, befehlen, nichts zu sagen.«
»Ja. Das würde ich tun.«
»Aber es würde sich trotzdem in Form von Gerüchten ausbreiten.« Auch wenn sich diese Gerüchte zwangsläufig langsam bewegten und vage blieben. »Und Sie würden die Möglichkeit eines sehr lehrreichen Exempels verlieren, indem Sie in aller Öffentlichkeit fast die gesamte Administration von Ime auf der Stationspromenade antreten lassen und den Leuten eine nach der anderen in den Kopf schießen.« Und Seivarden war natürlich eine Einzelperson, die glaubte, Anaander Mianaai wäre eine Einzelperson, die in einer solchen Situation unentschlossen sein konnte, um sich dann für eine einzelne Handlungsweise zu entscheiden, ohne sich selbst bei der Entscheidungsfindung aufzuspalten. Und es stand wesentlich mehr hinter Anaander Mianaais Dilemma, als Seivarden geistig erfasst hatte.
Seivarden schwieg vier Sekunden lang und sagte dann: »Jetzt werde ich Sie wieder sehr wütend machen.«
»Wirklich?«, fragte ich mit ironischem Tonfall. »Haben Sie nicht allmählich genug davon?«
»Ja.« Ganz einfach. Und ernsthaft.
»Die Gouverneurin von Ime war von guter Herkunft und hatte eine gute Erziehung«, sagte ich und nannte ihr Haus.
»Noch nie gehört«, sagte Seivarden. »So viel hat sich verändert. Und nun geschehen solche Dinge. Sie glauben doch nicht wirklich, dass es eine Verbindung gibt?«
Ich wandte den Kopf ab, ohne ihn anzuheben. Nicht wütend, sondern nur sehr, sehr müde. »Sie wollen damit sagen, dass all das nicht geschehen wäre, wenn Emporkömmlinge aus der Provinz nicht emporgekommen wären. Wenn die Gouverneurin von Ime einer Familie mit wirklich erwiesenen Qualitäten entstammen würde.«
Seivarden war klug genug, darauf keine Antwort zu geben.
»Kennen Sie tatsächlich keine Person von besserer Geburt, die auf einen Posten befördert wurde, der ihre Fähigkeiten übersteigt? Die unter Druck zusammenbricht? Die sich schlecht benimmt?«
»Nicht auf diese Weise.«
Wohl wahr. Aber sie hatte praktischerweise vergessen, dass Eins Amaat Eins von der Gnade der Sarrse — ein Mensch, keine Hilfseinheit — nach ihrer Definition ebenfalls ein »Emporkömmling« war, dass sie ein Teil der Veränderungen war, die Seivarden erwähnt hatte. »Emporkömmlinge aus der Provinz sind genauso wie die Ereignisse in Ime Resultate derselben Ereignisse. Das eine hat nicht das andere verursacht.«
Sie stellte die naheliegende Frage. »Wodurch wurde es also verursacht?«
Die Antwort war zu kompliziert. Wie weit würde ich zurückgehen müssen? Es begann auf Garsedd. Es begann, als die Herrin der Radch sich selbst vervielfachte und an die Eroberung des gesamten von Menschen besiedelten Weltraums machte. Es begann, als die Radch gegründet wurde. Und noch viel früher. »Ich bin müde«, sagte ich.
»Natürlich«, sagte Seivarden gelassener, als ich erwartet hatte. »Wir können später darüber reden.«