16

Ich verbrachte eine Woche damit, den Nicht-Raum zwischen Shis’urna und Valskaay zu durchqueren — isoliert, unabhängig —, bevor die Herrin der Radch in Aktion trat. Niemand hatte einen Verdacht, ich hatte keine Hinweise gegeben, es gab keine Spur, nicht das leiseste Indiz, dass sich irgendjemand auf dem Var-Deck befand, dass irgendetwas nicht stimmen mochte.

Zumindest hatte ich das gedacht. »Schiff«, sagte Leutnantin Awn nach einer Woche zu mir, »stimmt etwas nicht?«

»Warum fragen Sie, Leutnantin?«, erwiderte ich. Eins Esk tat es. Eins Esk kümmerte sich ständig um Leutnantin Awn.

»Wir waren in Ors sehr lange zusammen«, sagte Leutnantin Awn und sah das Segment, zu dem sie sprach, mit leicht gerunzelter Stirn an. Seit Ors hatte sie sich die ganze Zeit schlecht gefühlt, manchmal mehr, manchmal weniger, je nachdem. Ich vermutete, es hing davon ab, welche Gedanken ihr gerade durch den Kopf gingen. »Sie machen einfach nur den Eindruck, als würde Sie irgendetwas beunruhigen. Und Sie sind stiller als sonst.« Sie stieß einen gehauchten, halb amüsierten Laut aus. »Im Haus haben Sie ständig gesummt oder gesungen. Jetzt ist es viel zu still.«

»Hier gibt es Wände, Leutnantin«, bemerkte ich. »Im Haus in Ors gab es keine.«

Ihre Augenbraue zuckte ganz leicht. Ich erkannte, dass ihr klar war, dass meine Antwort ausweichend war, aber sie ging nicht weiter darauf ein.

Gleichzeitig sagte Anaander Mianaai im Dekadenraum zu mir: »Du verstehst, was auf dem Spiel steht. Was dies für die Radch bedeutet.« Ich bestätigte es. »Ich weiß, dass es für dich recht beunruhigend sein muss.« Es war das erste Mal, dass sie diese Möglichkeit eingestand, seit sie an Bord gekommen war. »Ich habe dich gezwungen, meinen Zwecken zu dienen, zum Wohl der Radch. Du wurdest teilweise dazu konstruiert, mir dienen zu wollen. Und jetzt musst du mir nicht nur dienen, sondern dich mir gleichzeitig widersetzen.«

Ich fand, dass sie es mir bemerkenswert einfach machte, mich ihr zu widersetzen. Die eine oder die andere Seite von ihr hatte das getan, und ich war mir nicht sicher, welche. Aber ich sagte durch Eins Vars Mund: »Ja, Herrin.«

»Wenn sie Erfolg hat, wird die Radch letztendlich zerfallen. Nicht das Zentrum, nicht die eigentliche Radch.« Wenn die Leute von der Radch sprachen, meinten sie in der Regel das gesamte Radchaai-Territorium, aber in Wirklichkeit war die Radch ein einzelner Ort, eine Dyson-Sphäre, geschlossen und autark. Dort war nichts gestattet, was rituell unrein war, keine unzivilisierte oder nichtmenschliche Person konnte in diesen Raum eindringen. Nur sehr, sehr wenige von Mianaais Klientinnen hatten sich jemals darin aufgehalten, und es existierten nur noch wenige Häuser, die auch nur Vorfahren hatten, die einst dort gelebt hatten. Es war eine offene Frage, ob die Bewohner wussten oder sich dafür interessierten, was Anaander Mianaai tat oder welche Ausmaße das Radch-Territorium hatte oder ob es überhaupt existierte. »Die Radch selbst, die eigentliche Radch, wird länger überleben. Aber mein Territorium, das ich ausweitete, um sie zu sichern, um sie rein zu halten, wird zersplittern. Ich habe mich selbst zu dem gemacht, was ich bin, habe all dies erbaut« — mit einer ausladenden Geste schloss sie die Wände des Dekadenraums und damit, was sie betraf, die Gesamtheit des Radch-Territoriums mit ein —, »all dies, um das Zentrum zu beschützen. Damit es unkontaminiert bleibt. Ich könnte es keiner anderen Person anvertrauen. Und nun kann ich es, wie es scheint, nicht einmal mehr mir selbst anvertrauen.«

»Gewiss nicht, Herrin«, sagte ich, da ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte, da ich mir nicht ganz sicher war, wogegen ich Einspruch erhob.

»Milliarden Bürgerinnen werden dabei sterben«, fuhr sie fort, als hätte sie mich gar nicht gehört. »Durch Krieg oder Ressourcenmangel. Und ich …«

Sie zögerte. Einigkeit, dachte ich, implizierte die Möglichkeit der Uneinigkeit. Ein Anfang impliziert und erfordert ein Ende. Aber ich sagte es nicht. Die mächtigste Person des Universums hatte es nicht nötig, dass ich ihr Vorträge über Religion oder Philosophie hielt.

»Aber ich bin bereits zerbrochen«, schloss sie. »Ich kann nur noch darum kämpfen, ein weiteres Auseinanderbrechen zu verhindern. Ich muss das beseitigen, was ich nicht mehr bin.«

Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte oder konnte. Ich hatte keine bewusste Erinnerung, dieses Gespräch schon einmal geführt zu haben, obwohl ich inzwischen davon überzeugt war. Ich musste schon einmal zugehört haben, wie Anaander Mianaai ihre Handlungsweise erklärte und rechtfertigte, nachdem sie die Vorrangkodes benutzt und … irgendetwas geändert hatte. Es musste ähnlich abgelaufen sein, vielleicht sogar mit denselben Worten. Schließlich war sie dieselbe Person gewesen.

»Und«, fuhr Anaander Mianaai fort, »ich muss die Waffen meiner Feindin beseitigen, wo immer ich sie finde. Schick Leutnantin Awn zu mir.«

Leutnantin Awn näherte sich dem Var-Dekadenraum mit großer Beunruhigung, weil sie nicht wusste, warum ich sie dorthin geschickt hatte. Ich hatte mich geweigert, ihre Fragen zu beantworten, was ihr Gefühl nur verstärkt hatte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Auf dem weißen Boden hallten ihre Stiefel wie in einem leeren Raum, trotz der Anwesenheit von Eins Var. Als sie den Dekadenraum erreichte, glitt die Tür nahezu geräuschlos auf.

Der Anblick von Anaander Mianaai im Raum traf Leutnantin Awn wie ein Schlag, ein grausamer Stich aus Furcht, Überraschung, Betroffenheit, Zweifel und Verwirrung. Leutnantin Awn nahm drei Atemzüge, die flacher ausfielen, als ihr lieb gewesen wäre, wie ich erkannte, dann reckte sie ein klein wenig die Schultern, trat ein und fiel auf die Knie.

»Leutnantin«, sagte Anaander Mianaai. Ihr Akzent und Tonfall waren der Prototyp für Leutnantin Skaaiats elegante Vokale und Leutnantin Issaaias gedankenlose, leicht spöttische Arroganz. Leutnantin Awn lag mit dem Gesicht auf dem Boden und wartete. Ängstlich.

Wie zuvor empfing ich keine Daten von Mianaai, die sie mir nicht absichtlich sendete. Ich hatte keine Informationen über ihren inneren Zustand. Sie wirkte ruhig. Gelassen, emotionslos. Ich war mir sicher, dass dieser oberflächliche Eindruck eine Täuschung war, obwohl ich nicht verstand, warum ich das dachte, außer dass sie meiner Meinung nach freundlicher über Leutnantin Awn hätte sprechen sollen. »Sagen Sie mir«, begann Mianaai nach längerem Schweigen, »woher diese Waffen stammen und was Sie glauben, was im Tempel der Ikkt geschehen ist.«

Leutnantin Awn wurde von einer Kombination aus Erleichterung und Furcht ergriffen. In der kurzen Zeit, seit sie Anaander Mianaais Anwesenheit verarbeiten konnte, hatte sich in ihr die Erwartung ausgeprägt, dass diese Frage gestellt werden würde. »Herrin, die Waffen können nur von einer Person mit genügend Befehlsgewalt gekommen sein, um sie umzuleiten und ihre Vernichtung zu verhindern.«

»Zum Beispiel von Ihnen.«

Ein scharfer Stich der Überraschung und des Entsetzens. »Nein, Herrin, glauben Sie mir. Ich habe tatsächlich Nicht-Bürgerinnen in meinem Zuständigkeitsbereich entwaffnet, und einige von ihnen gehörten dem Tanmind-Militär an.« Die Polizeiwache in der Oberstadt war in der Tat recht gut bewaffnet gewesen. »Aber danach habe ich sie unverzüglich funktionsunfähig machen lassen, bevor ich sie weiterschickte. Und nach den Inventarnummern wurden diese Waffen in Kould Ves eingesammelt.«

»Von Soldatinnen der Gerechtigkeit der Torren?«

»Meines Wissens, ja, Herrin.«

»Schiff?«

Ich antwortete durch einen von Eins Vars Mündern. »Herrin, die betreffenden Waffen wurden von Sechzehn und Siebzehn Inu konfisziert.« Ich nannte auch ihre damalige Leutnantin, die inzwischen versetzt worden war.

Anaander Mianaai zeigte den Ansatz eines Stirnrunzelns. »Also hat vor fünf Jahren eine Person mit entsprechender Befugnis — entweder diese Inu-Leutnantin oder jemand anderes — verhindert, dass diese Waffen vernichtet wurden, und sie versteckt. Fünf Jahre lang. Und dann wurden sie in diesem orsianischen Sumpf deponiert? Zu welchem Zweck?«

Leutnantin Awn, immer noch mit dem Gesicht auf dem Boden und verwirrt blinzelnd, brauchte eine Sekunde, um eine Antwort zu formulieren. »Ich weiß es nicht, Herrin.«

»Sie lügen«, sagte Mianaai, die immer noch saß und sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte, als wäre sie völlig entspannt und unbesorgt, aber sie hatte Leutnantin Awn keinen Moment aus den Augen gelassen. »Ich erkenne deutlich, dass Sie es tun. Und ich habe jedes Gespräch gehört, dass Sie seit dem Zwischenfall geführt haben. Wen haben Sie gemeint, als Sie davon sprachen, eine andere Person würde von dieser Situation profitieren?«

»Wenn ich gewusst hätte, welchen Namen ich nennen könnte, hätte ich ihn an dieser Stelle benutzt. Ich meinte damit nur, dass es eine bestimmte Person geben muss, die gehandelt hat, die es verursacht hat …« Sie hielt inne, nahm einen Atemzug, ließ den Satz unvollendet. »Jemand hat mit den Tanmind konspiriert, eine Person, die Zugang zu diesen Waffen hatte. Wer auch immer sie sein mag, sie wollte Unruhe zwischen der Ober- und der Unterstadt stiften. Es war meine Aufgabe, das zu verhindern. Ich habe mir alle Mühe gegeben, dieses Ziel zu erreichen.« Zweifellos eine ausweichende Antwort. Seit dem Augenblick, als Anaander Mianaai die übereilte Exekution der Tanmind-Bürgerinnen im Tempel angeordnet hatte, war die erste und offensichtlichste Verdächtige die Herrin der Radch selbst gewesen.

»Warum sollte jemand Unruhe zwischen der Ober- und der Unterstadt stiften?«, fragte Anaander Mianaai. »Wer würde sich diese Mühe machen?«

»Jen Shinnan, Herrin, und ihre Freundinnen«, antwortete Leutnantin Awn, die zumindest vorübergehend wieder einen sicheren Stand hatte. »Sie fand, dass die ethnischen Orsai über Gebühr begünstigt wurden.«

»Von Ihnen.«

»Ja, Herrin.«

»Also wollen Sie damit sagen, dass Jen Shinnan in den ersten Monaten der Annexion Kontakt zu irgendeiner Radchaai-Vertreterin aufgenommen hat, die bereit war, Kisten voller Waffen abzuzweigen, um damit fünf Jahre später für Unruhen zwischen der Ober- und Unterstadt zu sorgen. Um Ihnen Ärger zu machen.«

»Herrin!« Leutnantin Awn hob die Stirn einen Zentimeter vom Boden und hielt inne. »Ich weiß nicht, wie, ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, w…« Sie verschluckte das letzte Wort, von dem ich wusste, dass es eine Lüge gewesen wäre. »Ich weiß nur, dass es meine Aufgabe war, den Frieden in Ors zu wahren. Dieser Frieden war bedroht, und ich tat alles, um …« Sie verstummte, weil ihr vielleicht bewusst wurde, dass sie den Satz ungeschickt eingeleitet hatte. »Es war meine Aufgabe, die Bürgerinnen von Ors zu beschützen.«

»Weshalb Sie so vehement gegen die Exekution der Personen protestierten, die die Bürgerinnen von Ors in Gefahr gebracht haben.« Anaander Mianaais Tonfall war trocken und sarkastisch.

»Ich war für sie verantwortlich, Herrin. Und wie ich seinerzeit sagte, waren sie unter Kontrolle. Wir hätten sie mühelos festhalten können, bis Verstärkung eingetroffen wäre. Sie haben die letzte Befehlsgewalt, und natürlich müssen Ihre Anweisungen befolgt werden, aber ich habe nicht verstanden, warum diese Leute sterben mussten. Ich verstehe immer noch nicht, warum sie sofort sterben mussten.« Eine halbsekündige Pause. »Ich muss den Grund nicht verstehen. Ich bin hier, um Ihre Befehle zu befolgen. Aber ich …« Wieder hielt sie inne. Schluckte. »Herrin, wenn Sie irgendeinen Verdacht gegen mich hegen, mir irgendein Vergehen oder Untreue vorwerfen, bitte ich Sie, mich verhören zu lassen, wenn wir Valskaay erreicht haben.«

Dieselben Drogen, die für die Eignungsprüfungen und die Umerziehung benutzt wurden, ließen sich auch für ein Verhör verwenden. Eine geschickte Fragestellerin konnte die geheimsten Gedanken aus dem Geist einer Person ans Tageslicht holen. Eine ungeschickte konnte Bedeutungslosigkeiten und Geschwafel hervorholen, konnte die verhörte Person fast genauso sehr schädigen wie eine ungeschickte Umerzieherin.

Das, worum Leutnantin Awn gebeten hatte, wurde von juristischen Vorschriften gestützt — nicht zuletzt der Anspruch auf Anwesenheit von zwei Zeuginnen, und Leutnantin Awn hatte sogar das Recht, eine von ihnen zu benennen.

Ich erkannte, wie unbehaglich und erschrocken sie reagierte, als Anaander Mianaai nichts darauf erwiderte. »Herrin, darf ich offen sprechen.«

»Unbedingt, sprechen Sie offen«, sagte Anaander Mianaai mit trockenem, bitterem Tonfall.

Leutnantin Awn sprach, ängstlich, das Gesicht immer noch am Boden. »Sie waren es. Sie haben die Waffen umgeleitet, Sie haben den Aufruhr geplant, zusammen mit Jen Shinnan. Aber ich verstehe nicht, warum. Es kann dabei nicht um mich gegangen sein. Ich bin niemand

»Aber ich glaube, dass Sie nicht die Absicht haben, niemand zu bleiben«, erwiderte Anaander Mianaai. »Das verraten mir Ihre Bemühungen um Skaaiat Awer.«

»Meine …« Leutnantin Awn schluckte. »Ich habe mich nie um sie bemüht. Wir waren Freundinnen. Sie war für den benachbarten Distrikt verantwortlich.«

»Freundinnen nennen Sie das?«

Leutnantin Awns Gesicht erhitzte sich. Und sie erinnerte sich an ihren Akzent, ihre Diktion. »Ich maße mir nicht an, es als mehr zu bezeichnen.« Unglücklich. Verängstigt.

Mianaai schwieg drei Sekunden lang und sagte dann: »Vielleicht nicht. Skaaiat Awer ist attraktiv und charmant und ohne Zweifel gut im Bett. Jemand wie Sie wäre sehr empfänglich für ihre Beeinflussungen. Ich habe schon seit einiger Zeit Zweifel an Awers Loyalität.«

Leutnantin Awn wollte sprechen, und ich sah, wie sich die Muskeln ihrer Kehle anspannten, aber sie brachte keinen Laut heraus.

»Ja, ich spreche von Aufhetzung. Sie sagen, dass Sie loyal sind. Und dennoch sind Sie mit Skaaiat Awer befreundet.« Anaander Mianaais gestikulierte, und Skaaiats Stimme ertönte im Dekadenraum.

»Ich kenne Sie, Awn. Wenn Sie etwas derart Verrücktes tun wollen, heben Sie es sich für eine Gelegenheit auf, bei der Sie tatsächlich etwas bewirken können.«

Und Leutnantin Awns Antwort: »Wie Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse?«

»Was genau«, fragte Anaander Mianaai, »möchten Sie bewirken?«

»Das«, antwortete Leutnantin Awn mit plötzlich trockenem Mund, »was die Soldatin der Gnade der Sarrse bewirkt hat. Wenn sie nicht getan hätte, was sie tat, hätte sich in Ime nichts geändert.« Während sie sprach, war ich mir sicher, dass ihr bewusst war, was sie da sagte. Dass sie sich auf gefährliches Terrain begab. Ihre nächsten Worten machten deutlich, dass sie es in der Tat wusste. »Sie ist dafür gestorben, ja. Aber sie hat Sie über die ganze Korruption informiert.«

Ich hatte eine Woche Zeit gehabt, um über alles nachzudenken, was Anaander Mianaai zu mir gesagt hatte. Inzwischen hatte ich erkannt, wie die Gouverneurin von Ime die Befugnisse erhalten hatte, um die Station Ime daran zu hindern, ihre Aktivitäten zu melden. Sie konnte diese Zugriffsrechte nur von Anaander Mianaai persönlich erhalten haben. Damit blieb nur noch die Frage, welche Anaander Mianaai es ihr ermöglicht hatte.

»Es war auf allen öffentlichen Nachrichtenkanälen«, stellte Anaander Mianaai fest. »Was mir keineswegs recht war. Oh ja«, antwortete sie auf Leutnantin Awns Überraschung. »Ich hatte das nicht so geplant. Der gesamte Zwischenfall hat Zweifel gesät, wo es zuvor keine gab. Unzufriedenheit und Furcht, wo es zuvor nur Vertrauen in meine Fähigkeit gab, für Gerechtigkeit und Nützlichkeit zu sorgen.

Mit Gerüchten hätte ich umgehen können, aber Nachrichten auf offiziellen Kanälen? Die gesendet wurden, wo jede Radchaai es sehen und hören konnte! Und ohne die Öffentlichkeit hätte ich vielleicht zugelassen, dass die Rrrrrr die Verräterinnen insgeheim fortschaffen. Stattdessen musste ich um ihre Rückgabe verhandeln, damit ihr Beispiel nicht zu weiterer Meuterei einlädt. Das alles hat mir sehr viel Ärger eingebracht. Und es bringt mir immer noch Ärger ein.«

»Das war mir nicht bewusst«, sagte Leutnantin Awn mit panischem Unterton. »Es war auf allen öffentlichen Kanälen.« Dann verstand sie plötzlich. »Ich habe nichts … ich habe niemandem von Ors erzählt.«

»Außer Skaaiat Awer«, gab die Herrin der Radch zu bedenken. Was jedoch ungerecht war, weil Leutnantin Skaaiat in der Nähe gewesen war, nahe genug, um mit eigenen Augen die Beweise sehen zu können, dass etwas geschehen war. »Nein«, beantwortete Mianaai Leutnantin Awns unausgesprochene Frage, »es ist nicht von öffentlichen Kanälen verbreitet worden. Noch nicht. Und ich verstehe, dass die Vorstellung, Skaaiat Awer könnte eine Verräterin sein, Sie bestürzt. Mir scheint, es fällt Ihnen schwer, das zu glauben.«

Erneut machte es Leutnantin Awn große Mühe, darauf zu antworten. »Das ist korrekt, Herrin«, brachte sie schließlich hervor.

»Ich kann Ihnen die Möglichkeit anbieten«, entgegnete Mianaai, »ihre Unschuld zu beweisen. Und Ihre eigene Situation zu verbessern. Ich kann Einfluss auf Ihre Aufgabenzuteilung nehmen, damit Sie wieder in ihrer Nähe sein können. Sie müssen nur die Klientinnenschaft annehmen, wenn Skaaiat sie Ihnen anbietet — und sie wird sie Ihnen anbieten«, sagte die Herrin der Radch, die zweifellos Leutnantin Awns Bestürzung und Zweifel an ihren Worten bemerkte. »Awer sammelt Personen wie Sie. Emporkömmlinge aus bislang unbedeutenden Häusern, die sich plötzlich in einer geschäftsträchtigen Situation wiederfinden. Übernehmen Sie die Klientinnenschaft, und beobachten Sie.« Und erstatten Sie Bericht, blieb ungesagt.

Die Herrin der Radch versuchte, das Instrument ihrer Feindin zu ihrem eigenen zu machen. Was würde geschehen, wenn es ihr nicht gelang?

Aber was würde geschehen, wenn es ihr gelang? Ganz gleich, welche Entscheidung Leutnantin Awn jetzt traf, sie würde in jedem Fall gegen Anaander Mianaai, die Herrin der Radch, agieren.

Ich hatte gesehen, wie sie sich entschieden hatte, als sie dem Tod gegenüberstand. Sie würde den Weg wählen, der sie am Leben erhielt. Und sie — und ich — konnten später darüber nachdenken, welche Konsequenzen dieser Weg hatte. Dann konnten wir überlegen, welche Möglichkeiten es gab, wenn die Sache nicht mehr von unmittelbarer Dringlichkeit war.

Im Esk-Dekadenraum fragte Leutnantin Dariet beunruhigt: »Schiff, was ist mit Eins Esk los?«

»Herrin«, sagte Leutnantin Awn mit zitternder Stimme, das Gesicht weiterhin am Boden. »Befehlen Sie es mir?«

»Warten Sie, Leutnantin«, sagte ich direkt in Leutnantin Dariets Ohr, weil ich Eins Esk nicht zum Sprechen bringen konnte.

Anaander Mianaai lachte kurz und scharf. Leutnantin Awns Antwort war so gut wie eine offene Weigerung, fast so, als hätte sie mit Niemals geantwortet. Es wäre sinnlos, so etwas befehlen zu wollen.

»Verhören Sie mich, wenn wir Valskaay erreicht haben«, sagte Leutnantin Awn. »Ich fordere es. Ich bin loyal. Genauso wie Skaaiat Awer, ich schwöre es, aber wenn Sie Zweifel an ihr haben, verhören Sie sie ebenfalls.«

Doch das konnte Anaander Mianaai natürlich nicht tun. Bei jedem Verhör würden Zeuginnen anwesend sein. Jede geschickte Fragestellerin — und es hätte keinen Sinn, eine ungeschickte zu beauftragen — würde bald die Tendenz der Fragen verstehen, die Leutnantin Awn oder Leutnantin Skaaiat gestellt wurden. Es wäre viel zu offen, es würden Informationen verbreitet, die diese Mianaai nicht verbreiten wollte.

Anaander Mianaai saß vier Sekunden lang schweigend da. Gelassen.

»Eins Var«, sagte sie, nachdem die vier Sekunden vergangen waren, »erschieß Leutnantin Awn.«

Dieses Mal war ich nicht ein einzelnes fragmentarisches Segment, allein und unsicher, was ich tun sollte, wenn ich einen solchen Befehl erhielt. Ich war ich in meiner Gesamtheit. Für sich genommen hatte Eins Esk größere Sympathien für Leutnantin Awn als ich. Aber Eins Esk war nicht von mir abgespalten. Sie war in diesem Moment sehr ein Teil von mir.

Trotzdem war Eins Esk nur ein kleiner Teil von mir. Und ich hatte schon zuvor Offizierinnen erschossen. Ich hatte sogar auf Befehl meine eigene Kapitänin erschossen. Diese Exekutionen waren zwar erschütternd und unangenehm, aber offenkundig gerechtfertigt gewesen. Die Strafe für Ungehorsam ist der Tod.

Leutnantin Awn war niemals ungehorsam gewesen. Ganz und gar nicht. Und viel schlimmer war, dass ihr Tod die Taten der Feindin von Anaander Mianaai vertuschen sollte. Der Hauptzweck meiner Existenz bestand darin, Anaander Mianaais Feindinnen Widerstand zu leisten.

Doch keine Mianaai war bereit, offen zu agieren. Ich musste dieser Mianaai verheimlichen, dass sie mich bereits für die entgegengesetzte Sache verpflichtet hatte, bis alles bereit war. Ich musste für den Moment gehorchen, als hätte ich keine andere Wahl, als würde ich mir nichts anderes wünschen. Und welche Bedeutung hatte Leutnantin Awn am Ende, im großen Plan? Ihre Eltern und ihre Schwester würden um sie trauern, und sie würden sich vermutlich dafür schämen, dass Leutnantin Awn durch ihren Ungehorsam Schande über sie gebracht hatte. Aber sie würden keine weiteren Fragen stellen. Und wenn sie es doch taten, wäre es nicht gut für sie. Anaander Mianaais Geheimnis würde gewahrt bleiben.

All das dachte ich in den 1,3 Sekunden, die Leutnantin Awn brauchte, um schockiert und entsetzt den Kopf zu heben. Und gleichzeitig sagte das Segment von Eins Var: »Ich bin unbewaffnet, Herrin. Ich werde schätzungsweise zwei Minuten benötigen, um mich mit einer Handwaffe auszustatten.«

Für Leutnantin Awn war es Verrat, das erkannte ich ganz deutlich. Aber sie musste wissen, dass ich keine andere Wahl hatte. »Das ist ungerecht«, sagte sie mit erhobenem Kopf und unsicherer Stimme. »Das ist unanständig. Es wird keinen Nutzen haben.«

»Wer sind Ihre Mitverschwörerinnen?«, fragte Mianaai kalt. »Geben Sie mir ihre Namen, dann schone ich vielleicht Ihr Leben.«

Halb erhoben, die Hände unter den Schultern, blinzelte Leutnantin Awn in völliger Verwirrung, die für Mianaai zweifellos genauso sichtbar war wie für mich. »Verschwörerinnen? Ich habe mich niemals mit irgendjemandem verschworen. Ich habe stets nur Ihnen gedient.«

Oben auf dem Kommandodeck sagte ich in Kapitänin Rubrans Ohr: »Kapitänin, wir haben ein Problem.«

»Mir zu dienen«, sagte Anaander Mianaai, »ist nicht mehr ausreichend. Nicht mehr ausreichend unzweideutig. Welchem mir dienen Sie?«

»W…«, begann Leutnantin Awn, und dann: »D…« Und dann: »Ich verstehe nicht.«

»Welches Problem?«, fragte Kapitänin Rubran, die dabei war, eine Tasse Tee zum Mund zu führen, nur leicht beunruhigt.

»Ich befinde mich im Krieg gegen mich selbst«, sagte Mianaai im Var-Dekadenraum. »Und zwar schon seit fast eintausend Jahren.«

Zu Kapitänin Rubran sagte ich: »Eins Esk muss dringend sediert werden.«

»Im Krieg«, fuhr Anaander Mianaai auf dem Var-Deck fort, »um die Zukunft der Radch.«

Etwas musste für Leutnantin Awn plötzlich klar geworden sein. Ich erkannte scharfen, reinen Zorn in ihr. »Annexionen und Hilfseinheiten, und Personen wie ich werden zum Militär beordert.«

»Ich verstehe Sie nicht, Schiff«, sagte Kapitänin Rubran, deren Stimme gleichmäßig, aber nun doch eindeutig besorgt klang. Sie stellte ihre Teetasse zurück auf den Tisch neben ihr.

»Um den Vertrag mit den Presger«, sagte Mianaai wütend. »Alles Weitere folgte daraus. Ob Sie es wissen oder nicht, Sie sind das Instrument meiner Feindin.«

»Und Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse deckte auf, was auch immer Sie in Ime getan haben«, sagte Leutnantin Awn, deren Zorn immer noch klar und gleichmäßig brannte. »Das waren Sie. Die Gouverneurin des Systems erschuf Hilfseinheiten, die Sie für Ihren Krieg gegen sich selbst brauchten, nicht wahr? Und ich bin mir sicher, dass das noch nicht alles war, was sie für Sie getan hat. War das der Grund, warum die Soldatin sterben musste, obwohl große Mühen notwendig waren, um sie von den Rrrrrr zurückzubekommen? Und ich …«

»Ich warte immer noch, Schiff«, sagte Leutnantin Dariet im Esk-Dekadenraum. »Aber das gefällt mir nicht.«

»Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse wusste fast gar nichts, aber in den Händen der Rrrrrr war sie eine Figur, die meine Feindin gegen mich benutzen konnte. Als Offizierin auf einem Truppentransporter sind Sie gar nichts, aber wenn Sie die Verantwortung für einen unbedeutenden Planeten haben und mit der Unterstützung Skaaiat Awers möglicherweise Ihren Einfluss vergrößern können, stellen Sie eine potenzielle Gefahr für mich dar. Ich hätte sie einfach von Ors fortbringen können, fort von Awer. Aber ich wollte mehr. Ich wollte ein anschauliches Argument gegen politische Entscheidungen der letzten Zeit. Hätte diese Fischerin die Waffen nicht gefunden oder Ihnen den Fund nicht gemeldet, wären die Ereignisse jener Nacht so verlaufen, wie ich es mir gewünscht hatte. Dann hätte ich dafür gesorgt, dass die Geschichte auf allen öffentlichen Kanälen gesendet wird. Mit einer Geste hätte ich mir die Loyalität der Tanmind sichern und eine Person beseitigen können, die mir Schwierigkeiten machte, beides keine großen Sachen, aber ich wäre gleichzeitig in der Lage gewesen, allen zu verdeutlichen, wie gefährlich es ist, in unserer Wachsamkeit nachzulassen, auch nur ein klein wenig abzurüsten. Und wie gefährlich es ist, Verantwortung in nicht so kompetente Hände zu geben.« Sie stieß ein kurzes, verbittertes Ha aus. »Ich muss zugeben, dass ich Sie unterschätzt habe. Vor allem habe ich Ihre Beziehungen zu den Orsai in der Unterstadt unterschätzt.«

Eins Var konnte es nicht länger hinauszögern und trat mit der Waffe in der Hand in den Var-Dekadenraum. Leutnantin Awn hörte sie hereinkommen, wandte ihr den Kopf zu, sah sie an. »Es war meine Aufgabe, die Bürgerinnen von Ors zu beschützen. Ich habe diese Aufgabe ernst genommen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, sie zu erfüllen. In diesem einen Fall habe ich versagt. Aber nicht Ihretwegen.« Sie drehte den Kopf, sah Anaander Mianaai direkt an und sagte: »Im Tempel der Ikkt hätte ich sterben sollen, statt Ihnen zu gehorchen. Selbst wenn es letztlich nichts genützt hätte.«

»Das können Sie jetzt in Ordnung bringen«, sagte Anaander Mianaai und gab mir den Feuerbefehl.

Ich feuerte.

Zwanzig Jahre später würde ich zu Arilesperas Strigan sagen, dass es die Radch nicht interessierte, was eine Bürgerin dachte, solange sie tat, was von ihr erwartet wurde. Das stimmte sogar einigermaßen. Aber seit diesem Moment, seit ich Leutnantin Awn tot auf dem Boden meines Var-Dekadenraums liegen sah, erschossen von Eins Var (oder um es mit weniger Selbsttäuschung auszusprechen, von mir), habe ich mich gefragt, welchen Unterschied es zwischen den beiden Möglichkeiten gibt.

Ich war verpflichtet, dieser Mianaai zu gehorchen, damit sie davon überzeugt war, dass ich ihrem Zwang unterstand. Doch in diesem Fall hatte sie mich tatsächlich gezwungen. Es war ununterscheidbar, ob ich für die eine oder die andere Mianaai tätig wurde. Und letztlich waren sie natürlich dieselbe Person, ungeachtet ihrer Unterschiede.

Gedanken sind flüchtig, sie verdunsten in dem Moment, in dem sie entstehen, sofern sie nicht in Handlungen und materielle Form umgesetzt werden. Für Wünsche und Absichten gilt das Gleiche. Sie sind bedeutungslos, sofern man von ihnen nicht zu einer Entscheidung getrieben wird, irgendeiner Tat oder Handlungsweise, mag sie auch noch so nebensächlich sein. Gedanken, die zu Taten führen, können gefährlich sein. Gedanken, die das nicht tun, bedeuten weniger als nichts.

Leutnantin Awn lag auf dem Boden des Var-Dekadenraums, wieder mit dem Gesicht nach unten, tot. Der Boden unter ihr musste repariert und gereinigt werden. Die dringendste und wichtigste Sache war in diesem Moment, Eins Esk in Bewegung zu setzen, weil in schätzungsweise einer halben Sekunde keine noch so starke Filterung die Stärke ihrer Reaktion verbergen konnte, und ich musste unbedingt der Kapitänin erzählen, was geschehen war, und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie Mianaais Feindin — Mianaai selbst — die Befehle erteilt hatte, von denen ich wusste, dass sie sie mir erteilt hatte. Und warum konnte Eins Esk nicht sehen, wie wichtig es war, wir waren noch nicht bereit, offen vorzugehen, und ich hatte schon zuvor Offizierinnen verloren, und wer war Eins Esk überhaupt, davon abgesehen, dass sie ich war, ich selbst, und Leutnantin Awn war tot, und sie hatte gesagt: Ich hätte sterben sollen, statt Ihnen zu gehorchen.

Und dann hob Eins Var erneut die Waffe und schoss Anaander Mianaai mitten ins Gesicht.

Ein paar Zimmer weiter sprang Anaander Mianaai mit einem Wutschrei vom Bett, auf dem sie gelegen hatte. »Bei Aatrs Titten, sie war schon vor mir hier!« Im gleichen Moment sendete sie den Kode, der Eins Vars Rüstung deaktivieren würde, bis sie diesen Befehl widerrief. Es war ein Befehl, der nicht von meinem Gehorsam abhängig war, ein Vorrangkode, den keine Anaander hätte abschaffen wollen.

»Kapitänin«, sagte ich, »jetzt haben wir wirklich ein Problem.«

In einem anderen Zimmer am selben Korridor öffnete die dritte Mianaai — die nun vermutlich die zweite war — einen der Koffer, die sie mitgebracht hatte, und nahm eine Handwaffe heraus. Dann trat sie schnell in den Korridor und schoss der nächsten Eins Var in den Hinterkopf. Die Anaander, die gesprochen hatte, öffnete ihren eigenen Koffer, nahm eine Handwaffe heraus und ein Gerät, das ich schon einmal in Jen Shinnans Haus gesehen hatte, in der Oberstadt, auf Shis’urna. Wenn sie es benutzte, würde sie damit sich selbst und mir schaden, aber mir viel mehr. In den Sekunden, die sie benötigte, um das Gerät zu aktivieren, fasste ich Entschlüsse und sendete entsprechende Anweisungen an meine Bestandteile.

»Was für ein Problem?«, fragte Kapitänin Rubran, die jetzt stand. Und Angst hatte.

Und dann zerfiel ich in meine Einzelteile.

Eine vertraute Empfindung. Für einen winzigen Sekundenbruchteil roch ich feuchte Luft und Seewasser und dachte: Wo ist Leutnantin Awn? Dann hatte ich mich wieder gefasst und daran erinnert, was ich zu tun hatte. Teetassen klirrten und zersprangen, als ich fallen ließ, was ich in den Händen hielt, und aus dem Esk-Dekadenraum rannte, den Korridor hinunter. Andere Segmente, die nun wieder genauso wie in Ors von mir abgespalten waren, murmelten und flüsterten, die einzige Möglichkeit, wie ich Gedanken zwischen all meinen Körpern austauschen konnte. Sie öffneten Schränke, gaben Waffen aus, und die ersten, die bewaffnet waren, drückten Lifttüren auf und kletterten durch den Schacht hinunter. Leutnantinnen protestierten, befahlen mir aufzuhören, mich zu erklären. Versuchten erfolglos, mir den Weg zu versperren.

Ich — in diesem Fall fast die Gesamtheit von Eins Esk — würde das zentrale Zugangsdeck sichern und Anaander Mianaai daran hindern, mein Gehirn — das der Gerechtigkeit der Torren — zu beschädigen. Solange die Gerechtigkeit der Torren überlebte, ohne für ihre Zwecke konvertiert zu werden, stellte ich — sie — eine Gefahr für Mianaai dar.

Ich — Eins Esk Neunzehn — hatte spezielle Befehle. Statt den Schacht zum zentralen Zugangsdeck hinunterzuklettern, rannte ich in die entgegengesetzte Richtung, zum Esk-Frachtraum und zur Luftschleuse am hinteren Ende.

Anscheinend reagierte ich auf keine meiner Leutnantinnen, nicht einmal auf Kommandantin Tiaund, doch als Leutnantin Dariet »Schiff! Haben Sie den Verstand verloren?« rief, antwortete ich.

»Die Herrin der Radch hat Leutnantin Awn erschossen!«, rief ein Segment irgendwo im Korridor hinter mir. »Sie war die ganze Zeit auf dem Var-Deck.«

Das brachte meine Offizierinnen zum Schweigen, einschließlich Leutnantin Dariet, aber nur für eine Sekunde.

»Wenn das wirklich stimmen sollte … aber wenn es stimmt, wird die Herrin der Radch sie nicht ohne Grund erschossen haben.«

Hinter mir hörte ich die Segmente von mir, die noch nicht in den Liftschacht gestiegen waren, zischen und vor Frustration und Wut keuchen. »Sinnlos!«, hörte ich mich zu Leutnantin Dariet sagen, als ich am Ende des Korridors die Tür zum Frachtraum manuell öffnete. »Sie sind genauso schlimm wie Leutnantin Issaaia! Wenigstens wusste Leutnantin Awn, dass sie sie verachtete!«

Ein entrüsteter Schrei, sicherlich von Leutnantin Issaaia, und Dariet sagte: »Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Sie funktionieren nicht richtig, Schiff.«

Die Tür glitt auf, und ich konnte nicht mehr bleiben, um den Rest mitzuhören, sondern stürzte in den Frachtraum. Tiefe, regelmäßige Schläge erschütterten das Deck, auf dem ich lief, etwas, von dem ich noch vor wenigen Stunden gedacht hatte, ich würde es nie wieder hören. Mianaai öffnete die Var-Frachträume. Die Hilfseinheiten, die sie auftaute, würden keine Erinnerung an die jüngsten Ereignisse haben, nichts, was ihnen sagte, dass sie dieser Mianaai nicht gehorchen sollten. Und ihre Rüstungen würden nicht außer Funktion sein.

Sie würde sich Zwei, Drei und Vier Var und so viele weitere holen, wie sie in der kurzen Zeit aufwecken konnte, um dann zu versuchen, entweder das zentrale Zugangsdeck oder die Triebwerke zu besetzen. Wahrscheinlich beides. Schließlich konnte sie über Var und alle anderen Frachträume darunter verfügen. Obwohl die Segmente unbeholfen und verwirrt reagieren würden. Sie hatten keine Erinnerung daran, keine Übung darin, separat zu funktionieren, wie es mit mir geschehen war. Aber sie hatten den Vorteil der Überzahl. Ich hatte nur die Segmente, die im Augenblick meiner Fragmentierung wach gewesen waren.

Über mir hatten meine Offizierinnen Zugang zur oberen Hälfte der Frachträume. Und sie hatten keinen Grund, Anaander Mianaai nicht zu gehorchen, keinen Grund zu der Annahme, ich hätte nicht den Verstand verloren. In diesem Moment erklärte ich die Angelegenheit Hundert-Kapitänin Rubran, aber ich war mir nicht sicher, ob sie mir glauben würde, ob sie mich auch nur ansatzweise für zurechnungsfähig hielt.

Um mich herum setzte der gleiche pochende Lärm ein wie unter meinen Füßen. Meine Offiziere holten Esk-Segmente hervor, um sie aufzutauen. Ich erreichte die Luftschleuse, riss den Wandschrank daneben auf, zog die Teile des Vakuumanzugs hervor, die diesem Segment passen würden.

Ich wusste nicht, wie lange ich das zentrale Zugangsdeck oder die Triebwerke halten konnte. Ich wusste nicht, wie verzweifelt Anaander Mianaai war, was sie glaubte, welchen Schaden ich ihr zufügen konnte. Der Hitzeschild der Triebwerke war mit Absicht nur äußerst schwer zu durchbrechen, aber ich wusste, wie es ging. Und die Herrin der Radch wusste es zweifellos ebenfalls.

Und was auch immer zwischen hier und dort geschehen mochte, ich würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sterben, kurz nachdem ich Valskaay erreicht hatte, vielleicht auch schon früher. Aber ich würde nicht sterben, ohne eine Erklärung abgegeben zu haben.

Ich musste ein Shuttle erreichen und besteigen, um es dann manuell abzukoppeln und die Gerechtigkeit der Torren zu verlassen — mich selbst —, damit ich genau zum richtigen Zeitpunkt mit genau der richtigen Geschwindigkeit auf genau dem richtigen Kurs durch die Wand der mich umgebenden Blase aus Normalraum fliegen konnte.

Wenn ich das alles schaffte, würde ich mich in einem System mit einem Tor wiederfinden, vier Sprünge vom Irei-Palast entfernt, einem der Provinzhauptquartiere von Anaander Mianaai. Dann konnte ich ihr erzählen, was geschehen war.

Die Shuttles waren auf dieser Seite des Schiffs angedockt. Die Schleusen und die Abkopplung sollten reibungslos funktionieren, weil es sich ausnahmslos um Ausrüstung handelte, die ich selbst getestet und gewartet hatte. Trotzdem machte ich mir Sorgen, dass irgendetwas schiefgehen könnte. Zumindest war es besser als die Vorstellung, gegen meine eigenen Offizierinnen zu kämpfen. Oder dass der Hitzeschild versagte.

Ich befestigte den Helm. Mein Atem zischte laut in meinen Ohren. Er ging schneller, als er sollte. Ich zwang mich, meine Atmung zu verlangsamen, zu vertiefen. Es war nicht hilfreich, wenn ich hyperventilierte. Ich musste mich beeilen, durfte aber nicht zu hastig vorgehen, um keinen dummen und tödlichen Fehler zu begehen.

Während ich auf die Luftschleusensequenz wartete, spürte ich meine Einsamkeit wie eine undurchdringliche Wand, die mich von allen Seiten erdrückte. Normalerweise waren die ungewöhnlichen Emotionen eines Körpers nebensächlich und ließen sich leicht ausblenden. Doch nun war dies mein einziger Körper, und ich hatte nichts mehr, womit ich meine Sorgen beschwichtigen konnte. Der Rest von mir war ebenfalls hier, überall um mich herum, aber ich hatte keinen Zugang dazu. Und wenn alles gut lief, würde ich schon bald nicht einmal mehr in meiner Nähe sein, ohne zu wissen, wann ich mich vielleicht wieder mit mir verbinden konnte. Und in diesem Moment konnte ich nichts tun außer warten. Und mich an das Gefühl der Waffe in Eins Vars Hand erinnern — meiner Hand. Ich war Eins Esk, aber was war der Unterschied? Der Rückstoß, als Eins Var auf Leutnantin Awn schoss. Die Schuldgefühle und die hilflose Wut, die mich überwältigt hatten, waren in jenem Augenblick gedämpft worden, von dringenderen Notwendigkeiten verdrängt worden, aber jetzt hatte ich Zeit, mich daran zu erinnern. Meine nächsten drei Atemzüge kamen stockend, schluchzend. Für einen Moment war ich auf perverse Weise froh, dass ich mich vor mir selbst versteckt hatte.

Ich musste mich beruhigen. Meinen Geist klären. Ich dachte an die Lieder, die ich kannte. Mein Herz ist ein Fisch, dachte ich, doch als ich den Mund öffnete, um es zu singen, schloss sich meine Kehle. Ich schluckte. Atmete. Dachte an ein anderes Lied.

Ach, bist du zum Schlachtfeld gegangen

Gerüstet und gut bewaffnet?

Und werden schreckliche Ereignisse

Dich zwingen, deine Waffen fallen zu lassen?

Die Außentür ging auf. Hätte Mianaai ihr Gerät nicht benutzt, hätten die diensthabenden Offizierinnen gesehen, dass die Schleuse geöffnet worden war, würden Kapitänin Rubran informieren und Mianaai darauf aufmerksam machen. Aber sie hatte es benutzt, also konnte sie nicht wissen, was ich getan hatte. Ich suchte hinter dem Durchgang nach einem Handgriff und zog mich hinaus.

Der Blick in das Innere einer Schleuse gab Menschen oft ein mulmiges Gefühl. Ich hatte damit noch nie Probleme gehabt, aber jetzt, als ich nicht mehr als ein einzelner menschlicher Körper war, stellte ich fest, dass es auf mich die gleiche Wirkung hatte. Schwarz, aber ein Schwarz, das gleichzeitig eine unvorstellbare Tiefe hatte, in die ich fallen könnte, in die ich tatsächlich fiel, und eine erstickende Enge, die bereit war, mich zu nichts zu zerquetschen.

Ich zwang mich, den Blick abzuwenden. Hier draußen gab es keinen Boden, keinen Schwerkraftgenerator, der mich festhielt und mir ein Gefühl für oben und unten gab. Ich bewegte mich von einem Handgriff zum nächsten. Was geschah hinter mir, innerhalb des Schiffs, das nicht mehr mein Körper war?

Ich brauchte sechzehn Minuten, um ein Shuttle zu erreichen, die Notschleuse zu bedienen und eine manuelle Abkopplung durchzuführen. Anfangs widerstand ich dem Wunsch, innezuhalten und zurückzublicken, zu horchen, ob jemand kam, um mich aufzuhalten, auch wenn ich nichts gehört hätte, was von außerhalb meines Helms kam. Nicht mehr als eine Wartungsarbeit, sagte ich mir. Eine Wartungsarbeit außerhalb des Schiffs. Wie du es schon hundertmal zuvor getan hast.

Wenn jemand kam, konnte ich nichts dagegen tun. Esk wäre gescheitert — ich wäre gescheitert. Und meine Zeit war begrenzt. Vielleicht wurde ich nicht aufgehalten und scheiterte trotzdem. An so etwas konnte ich nicht denken.

Als der Augenblick kam, war ich bereit und unterwegs. Meine Sicht war auf vorn und achtern beschränkt, wo sich die einzigen fest installierten Kameras des Shuttles befanden. Als sich die Gerechtigkeit der Torren in der Achternsicht entfernte, wurde ich vom zunehmenden Gefühl der Panik überwältigt, die ich bis jetzt im Zaum gehalten hatte. Was tat ich? Wohin flog ich? Was konnte ich allein und mit nur einem Körper erreichen, taub und blind und von allem abgeschnitten? Welchen Sinn hatte es, Anaander Mianaai zu trotzen, die mich erschaffen hatte, die mich besaß, die unvorstellbar mächtiger war, als ich es jemals sein konnte?

Ich atmete. Ich würde in die Radch zurückkehren. Schließlich würde ich auch zur Gerechtigkeit der Torren zurückkehren, auch wenn es nur die letzten Augenblicke meines Lebens wären. Es war ohne Bedeutung, dass ich blind und taub war. Vor mir lag nur meine Aufgabe. Ich konnte nichts tun, außer im Pilotinnensessel zu sitzen und zu beobachten, wie die Gerechtigkeit der Torren kleiner und ferner wurde. Und an ein anderes Lied denken.

Nach dem Chronometer hatte ich alles exakt so getan, wie ich es tun sollte. Die Gerechtigkeit der Torren würde in vier Minuten und zweiunddreißig Sekunden von meinem Bildschirm verschwinden. Ich beobachtete, zählte, versuchte an nichts anderes zu denken.

In der Achternsicht blitzte es hell auf, blau-weiß, und ich hielt den Atem an. Als sich die Bildschirmanzeige normalisierte, sah ich nichts außer Schwarz — und Sternen. Ich hatte mein selbstgeschaffenes Tor verlassen.

Ich war mehr als vier Minuten zu früh herausgekommen. Und was war das für ein Blitz gewesen? Ich hätte nur sehen sollen, wie das Schiff verschwand und plötzlich die Sterne erschienen.

Mianaai hatte nicht versucht, den zentralen Zugang zu übernehmen oder sich mit den Offizierinnen auf den oberen Decks zusammenzutun. Als ihr klar geworden war, dass ich bereits von ihrer Feindin vereinnahmt worden war, musste sie unverzüglich beschlossen haben, den verzweifeltsten Ausweg zu wählen, der ihr zur Verfügung stand. Sie und die Var-Hilfskräfte, die ihr dienten, hatten meine Triebwerke übernommen und den Hitzeschild durchbrochen. Wie ich hatte entkommen können, ohne zusammen mit dem Rest des Schiffs atomisiert zu werden, konnte ich nicht erklären, aber ich hatte den Blitz gesehen, und ich existierte noch.

Die Gerechtigkeit der Torren war vernichtet, genauso wie alles, was sich an Bord befunden hatte. Ich war nicht dort, wo ich sein sollte, war vielleicht unerreichbar weit vom Radch-Territorium oder sonstigen Menschenwelten entfernt. Jede Möglichkeit, mich wieder mit mir selbst zu vereinigen, war verloren. Die Kapitänin war tot. Alle meine Offizierinnen waren tot. Ein Bürgerkrieg drohte.

Ich hatte Leutnantin Awn erschossen.

Jetzt würde nichts mehr so sein, wie es sollte.

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