23

Etwas Raues wand sich durch meine Kehle hoch, ich würgte und keuchte krampfartig. Jemand hielt mich an den Schultern fest, die Schwerkraft zog mich nach vorn. Ich öffnete die Augen, sah die Oberfläche eines Krankenhausbetts und einen flachen Behälter, der voller schwarz-grüner Ranken war, die in Galleflüssigkeit getaucht pulsierten und zitterten und mit meinem Mund verbunden waren. Weiteres Würgen zwang mich, die Augen zu schließen, bis sich das Ganze mit einem hörbaren Platschen befreite und in den Behälter fiel. Jemand wischte mir den Mund ab, drehte mich um und legte mich hin. Immer noch keuchend öffnete ich die Augen.

Eine Ärztin stand neben dem Bett, auf dem ich lag. An ihrer Hand baumelte das schleimige schwarz-grüne Ding, das ich soeben erbrochen hatte. Sie betrachtete es stirnrunzelnd. »Sieht gut aus«, sagte sie und ließ es wieder in die Schüssel fallen. »Das ist unangenehm, Bürgerin, ich weiß«, sagte sie, an mich gewandt. »Ihre Kehle wird sich für ein paar Minuten rau anfühlen. Sie …«

»W…«, versuchte ich zu sagen, doch dann würgte ich wieder.

»Sie sollten jetzt noch nicht sprechen«, sagte die Ärztin, während mich jemand — eine andere Ärztin — wieder herumrollte. »Das war sehr knapp. Die Pilotin, die Sie herbrachte, hatte Sie gerade noch rechtzeitig gefunden, aber sie hatte nur eine einfache Notausrüstung.« Diese dämliche, widerspenstige Segelkapsel. Sie musste es gewesen sein. Sie hatte nicht gewusst, dass ich kein Mensch war, hatte nicht gewusst, dass es sinnlos war, mich zu retten. »Und sie konnte Sie nicht sofort hierherbringen«, fuhr die Ärztin fort. »Wir waren schon ein wenig in Sorge. Aber das Lungenkorrektiv hat sich vollständig abgelöst, und die Werte sind gut. Nur geringe Gehirnschäden, wenn überhaupt, obwohl Sie sich für eine Weile etwas seltsam fühlen werden.«

Das fand ich amüsant, aber das Würgen hatte aufgehört, und ich wollte nicht, dass es wieder anfing, also sagte ich lieber nichts. Ich hielt die Augen geschlossen und lag so ruhig da, wie ich nur konnte, während man mich wieder herumdrehte. Hätte ich die Augen geöffnet, hätte ich Fragen stellen wollen.

»Sie kann in zehn Minuten einen Tee bekommen«, sagte die Medizinerin — zu wem, wusste ich nicht. »Noch keine feste Nahrung. Sprechen Sie sie in den nächsten fünf Minuten nicht an.«

»Ja, Doktor.« Seivarden. Ich öffnete die Augen, drehte den Kopf. Seivarden stand an meinem Bett. »Nicht sprechen«, sagte sie zu mir. »Die plötzliche Dekompression …«

»Das Schweigen würde ihr leichter fallen«, ermahnte sie die Ärztin, »wenn Sie sie nicht ansprechen.«

Seivarden verstummte. Aber ich wusste, was die plötzliche Dekompression mit mir gemacht hatte. Im Blut wurden urplötzlich gelöste Gase freigesetzt. Es konnte so heftig gewesen sein, dass es mich auch ohne den kompletten Luftmangel hätte umbringen können. Aber eine Erhöhung des Drucks — zum Beispiel bei einer Rückkehr in die Atmosphäre — hätte diese Blasen wieder aufgelöst.

Der Druckunterschied zwischen meinen Lungen und dem Vakuum hatte mich vermutlich beschädigt. Aber die Explosion des Tanks hatte mich überrascht, und ich war zu sehr darauf konzentriert gewesen, Anaander Mianaais zu erschießen, dass ich vielleicht nicht ausgeatmet hatte, was ich hätte tun sollen. Das war wahrscheinlich noch meine geringste Verletzung angesichts der Explosion, die mich ins Vakuum geschleudert hatte. In einer Segelkapsel waren nur die elementarsten Mittel vorhanden, um solche Verletzungen zu behandeln, und die Pilotin hatte mich vermutlich in eine minimal ausgestattete Suspensionskapsel geschoben, bis sie mich zu einer Ärztin hatte bringen können.

»Gut«, sagte die Ärztin. »Bleiben Sie schön ruhig.« Und ging.

»Wie lange?«, fragte ich Seivarden. Ich würgte nicht, obwohl mein Hals, wie die Ärztin vorhersah, noch rau war.

»Etwa eine Woche.« Seivarden zog einen Stuhl heran und setzte sich.

Eine Woche. »Ich nehme an, der Palast ist noch da.«

»Ja«, sagte Seivarden, als wäre meine Frage nicht sehr dumm, sondern hätte eine Antwort verdient. »Dank Ihnen. Die Leute von der Sicherheit und das Dockpersonal hatten es geschafft, sämtliche Ausgänge abzuriegeln, bevor weitere Herrinnen der Radch nach draußen gelangen konnten. Hätten Sie diejenigen nicht aufgehalten, die es geschafft hatten …« Sie machte eine abweisende Geste. »Zwei Tore sind zusammengebrochen.« Das waren zwei von zwölf. Hier und auf der anderen Seite der Tore würde das für ziemliche Kopfschmerzen sorgen. Und fraglich war auch, ob sich alle Schiffe darin in Sicherheit hatten bringen können. »Aber unsere Seite hat gewonnen, was gut ist.«

Unsere Seite. »Ich stehe auf keiner Seite«, sagte ich.

Von irgendwo zauberte Seivarden eine Tasse Tee hervor. Sie stieß gegen etwas unterhalb von mir, und das Bett neigte sich langsam. Sie hielt mir die Tasse an den Mund, und ich nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. Es war wunderbar. »Warum«, fragte ich nach einem weiteren, »bin ich hier? Ich weiß, warum mich diese Idiotin zurückgebracht hat, aber warum haben sich die Ärztinnen mit mir abgegeben?«

Seivarden runzelte die Stirn. »Meinen Sie das ernst?«

»Ich meine es immer ernst.«

»Stimmt.« Sie stand auf, öffnete eine Schublade und holte eine Decke heraus, die sie über mich legte und damit sorgsam meine nackten Hände zudeckte.

Bevor sie meine Frage beantworten konnte, trat Inspektionsleiterin Skaaiat halb in den kleinen Raum. »Die Ärztinnen sagten, Sie wären wach.«

»Warum?«, fragte ich. Und als Antwort auf ihr verdutztes Gesicht: »Warum bin ich wach? Warum bin ich nicht tot?«

»Wäre Ihnen das lieber?«, fragte Inspektionsleiterin Skaaiat und machte immer noch den Eindruck, als würde sie mich nicht verstehen.

»Nein.« Seivarden bot mir wieder Tee an, und ich nahm einen größeren Schluck als zuvor. »Nein, ich möchte nicht tot sein, aber es scheint mir ein enormer Aufwand zu sein, eine Hilfseinheit wiederzubeleben.« Und es war grausam, mich zurückzuholen, nur damit die Herrin der Radch meine Vernichtung anordnen konnte.

»Ich glaube, hier betrachtet Sie niemand als Hilfseinheit«, sagte Inspektionsleiterin Skaaiat.

Ich sah sie an. Sie schien es völlig ernst zu meinen.

»Skaaiat Awer«, begann ich mit tonloser Stimme.

»Breq«, erwiderte Seivarden eindringlich, bevor ich weiterreden konnte. »Die Ärztin sagte, Sie sollen still liegen. Hier, trinken Sie noch etwas Tee.«

Warum war Seivarden überhaupt hier? Warum war Skaaiat hier? »Was haben Sie für Leutnantin Awns Schwester getan?«, fragte ich barsch und tonlos.

»Ich habe ihr tatsächlich die Klientinnenschaft angeboten. Die sie nicht annehmen wollte. Sie meinte, ihre Schwester hätte sicher viel von mir gehalten, aber sie selbst würde mich nicht kennen und ohne meine Hilfe auskommen. Sehr hartnäckig. Sie arbeitet in der Hortikultur, zwei Tore weiter. Sie macht sich gut, ich behalte sie im Auge, so gut ich aus dieser Entfernung kann.«

»Haben Sie sie auch Daos Ceit angeboten?«

»Eigentlich geht es hier um Awn«, sagte Inspektionsleiterin Skaaiat. »Das verstehe ich, auch wenn Sie es nicht offen zugeben. Und Sie haben recht. Ich hätte ihr sehr viel mehr sagen können, bevor sie fortging, und ich hätte es tun sollen. Sie sind die Hilfseinheit, die Nicht-Person, ein Teil der Ausrüstung, aber wenn wir unser Tun vergleichen, haben Sie sie mehr geliebt als ich.«

Unser Tun vergleichen. Das war wie eine Ohrfeige. »Nein«, sagte ich. Froh über meine ausdruckslose Hilfseinheitsstimme. »Sie haben sie im Ungewissen gelassen. Ich habe sie getötet.« Schweigen. »Die Herrin der Radch zweifelte an Ihrer Loyalität, zweifelte an Awer und wollte, dass Leutnantin Awn Sie ausspioniert. Leutnantin Awn weigerte sich und verlangte, dass sie verhört wird, um ihre Loyalität zu beweisen. Das wollte Anaander Mianaai natürlich nicht. Sie befahl mir, Leutnantin Awn zu erschießen.«

Drei Sekunden Schweigen. Seivarden rührte sich nicht. Dann sagte Skaaiat Awer: »Sie hatten keine Alternative.«

»Ich weiß nicht, ob ich eine Alternative hatte oder nicht. Damals glaubte ich keine zu haben. Aber nachdem ich Leutnantin Awn erschossen hatte, erschoss ich Anaander Mianaai. Deshalb …« Ich hielt inne. Holte Luft. »Deshalb durchbrach sie meinen Hitzeschild. Skaaiat Awer, ich habe keinen Grund, wütend auf Sie zu sein.« Ich konnte nicht weiterreden.

»Sie haben allen Grund, wütend zu sein«, sagte Inspektionsleiterin Skaaiat. »Wenn ich es verstanden hätte, als Sie zuerst herkamen, hätte ich anders mit Ihnen geredet.«

»Und wenn ich Flügel hätte, wäre ich eine Segelkapsel.« Dieses Wenn und Aber änderte nichts mehr. »Sagen Sie der Tyrannin« — ich benutzte das orsianische Wort —, »dass ich sie aufsuchen werde, sobald ich das Bett verlassen kann. Seivarden, bringen Sie mir meine Kleidung.«

Wie sich herausstellte, hatte Inspektionsleiterin Skaaiat tatsächlich Daos Ceit besucht, die während der letzten Zuckungen von Anaander Mianaais Kampf mit sich selbst schwer verletzt worden war. Ich ging langsam einen Korridor entlang, der von in Korrektiva eingewickelten Verletzten gesäumt war, die auf behelfsmäßigen Pritschen lagen oder in Kapseln eingeschlossen waren, die sie so lange in Suspension hielten, bis sich die Ärztinnen um sie kümmern konnten. Daos Ceit lag in einem Zimmer bewusstlos auf dem Bett. Sie sah schmaler und jünger aus, als sie war. »Wird sie es überstehen?«, fragte ich Seivarden. Inspektionsleiterin Skaaiat hatte nicht gewartet, bis ich langsam durch den Korridor gegangen war, denn sie musste zurück zu den Docks.

»Das wird sie«, antwortete die Ärztin hinter mir. »Sie sollten das Bett noch nicht verlassen.«

Sie hatte recht. Allein das Ankleiden hatte mich trotz Seivardens Hilfe erschöpft. Ich hatte es nur durch meine Entschlossenheit den Korridor entlang geschafft. Jetzt spürte ich, dass ich nicht einmal mehr die Kraft hatte, den Kopf zu drehen und der Ärztin zu antworten.

»Ihnen sind gerade neue Lungen gewachsen«, fuhr die Ärztin fort. »Unter anderem. Sie werden die nächsten paar Tage nicht herumlaufen können. Mindestens.« Daos Ceit atmete flach, aber regelmäßig, und sah dem kleinen Mädchen so ähnlich, das ich gekannt hatte, dass ich mich einen Moment lang fragte, warum ich sie nicht sofort wiedererkannt hatte.

»Sie brauchen den Platz«, sagte ich, dann verknüpfte ich diesen Gedanken mit einer anderen Information. »Sie hätten mich so lange in Suspension halten können, bis Sie nicht mehr so viel zu tun haben.«

»Die Herrin der Radch sagte, sie würde Sie brauchen, Bürgerin. Sie sollen möglichst schnell wieder auf die Beine kommen.« Leicht gekränkt, fand ich. Die Ärztinnen hätten verständlicherweise lieber anderen Patientinnen den Vorzug gegeben. Und sie hatte mir nicht widersprochen, als ich sagte, dass sie den Platz brauchen würde.

»Sie sollten wieder ins Bett gehen«, sagte Seivarden. Die zuverlässige Seivarden war in diesem Moment der Fels in der Brandung zwischen mir und dem totalen Zusammenbruch. Ich hätte nicht aufstehen dürfen.

»Nein.«

»So ist sie nun mal«, sagte Seivarden in rechtfertigendem Tonfall.

»Ich sehe es.«

»Gehen wir ins Zimmer zurück.« Seivarden klang äußerst geduldig und ruhig. Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass sie zu mir sprach. »Dort können Sie sich ausruhen. Wir kümmern uns um die Herrin der Radch, wenn Sie wieder gesund sind.«

»Nein«, wiederholte ich. »Lassen Sie uns gehen.«

Auf Seivarden gestützt, schleppte ich mich von der Krankenstation zu einem Fahrstuhl und dann durch einen Korridor, der unendlich lang schien, bis er plötzlich in einen riesigen offenen Raum mündete, dessen weiter Boden mit glitzernden Scherben aus farbigem Glas übersät war, die unter meinen wenigen Schritten knirschten.

»Der Kampf hatte sich auf den Tempel ausgeweitet«, sagte Seivarden, ohne dass ich gefragt hatte.

Ich war nun auf der Hauptpromenade. Das zerbrochene Glas war alles, was von den vielen Grabbeigaben im Raum übrig geblieben war. Es waren nur wenige Leute unterwegs, die meisten stocherten in den Scherben herum, auf der Suche nach größeren Stücken, die sich zusammenfügen ließen, wie ich dachte. Eine Sicherheitskraft in hellbrauner Jacke schaute zu.

»Die Kommunikation wurde innerhalb eines Tages wiederhergestellt, glaube ich«, fuhr Seivarden fort, während sie mich über die Scherben zum eigentlichen Palast führte. »Danach bekamen die Leute allmählich mit, was los war. Und sie ergriffen Partei. Nach einer Weile musste man Partei ergreifen. Es ging nicht anders. Wir befürchteten, die Militärschiffe könnten sich gegenseitig angreifen, aber auf der anderen Seite waren es nur zwei, und die zogen es vor, durch die Tore das System zu verlassen.«

»Gab es zivile Opfer?«, fragte ich.

»Die gibt es immer.« Wir überquerten die letzten paar Meter der mit Glasscherben übersäten Promenade und traten in den Palast. Dort stand eine Beamtin mit schmutziger Uniformjacke, mit dunklen Flecken an einem Ärmel. »Tür eins«, sagte sie, fast ohne uns anzuschauen. Sie klang erschöpft.

Tür eins führte auf einen Rasen. Drei Seiten mit Blick auf Hügel und Bäume und darüber ein blauer Himmel mit kleinen Wolken. Die vierte Seite bestand aus einer beigefarbenen Wand, vor der das Gras herausgerissen war. Ein paar Meter vor mir stand ein einfacher, aber dick gepolsterter grüner Sessel. Bestimmt nicht für mich, aber das war mir egal. »Ich muss mich setzen.«

»Ja«, sagte Seivarden, führte mich hin und ließ mich Platz nehmen. Ich machte kurz die Augen zu.

Ein Kind redete mit hoher Piepsstimme. »Die Presger hatten mich vor Garsedd kontaktiert«, sagte das Kind. »Die Übersetzerinnen, die sie schickten, waren natürlich aus dem gezüchtet worden, was sie aus den menschlichen Schiffen geholt hatten, aber sie waren von den Presger erzogen und ausgebildet worden, und ich hätte mich ebenso gut mit Aliens unterhalten können. Sie sind besser geworden, aber ich fühle mich in ihrer Gesellschaft immer noch unwohl.«

»Ich bitte meine Herrin um Verzeihung.« Seivarden. »Warum haben Sie sie abgewiesen?«

»Ich hatte bereits geplant, sie zu vernichten«, sagte das Kind. Anaander Mianaai. »Ich hatte schon begonnen, alles zu organisieren, was ich brauchen würde. Ich dachte, sie hätten von meinem Plan Wind bekommen und wären so verängstigt, dass sie Frieden schließen wollten. Ich dachte, sie würden Schwäche zeigen.« Sie lachte verbittert, was sich bei einer so jungen Stimme merkwürdig anhörte. Aber Anaander Mianaai war alles andere als jung.

Ich öffnete die Augen. Seivarden kniete neben meinem Stuhl. Ein etwa fünf- oder sechsjähriges Kind saß im Schneidersitz vor mir im Gras. Ganz in schwarz gekleidet, mit einem Gepäckstück in der Hand, um sich herum den Inhalt meines Koffers verstreut. »Du bist wach.«

»Sie haben meine Ikonen mit Zuckerguss bekleckert«, beklagte ich mich.

»Sie sind wunderschön.« Sie nahm die Scheibe der kleineren auf, aktivierte sie. Das Bild klappte auf, funkelte, und das Messer glitzerte in der dritten Hand im künstlichen Sonnenlicht. »Das bist du, nicht wahr?«

»Ja.«

»Die Itranische Tetrarchie! Hast du dort die Waffe gefunden?«

»Nein. Von dort habe ich mein Geld.«

Anaander Mianaai starrte mich erstaunt an. »Man hat dich mit so viel Geld gehen lassen?«

»Einer der Tetrarchen war mir einen Gefallen schuldig.«

»Das muss ein großer Gefallen gewesen sein.«

»Richtig.«

»Bringt man dort tatsächlich Menschenopfer dar? Oder ist das«, mit einer Geste zum abgeschlagenen Kopf in der Hand der Figur, »nur metaphorisch gemeint?«

»Es ist kompliziert.«

Sie hauchte ein Hmm. Seivarden kniete stumm und reglos da.

»Die Ärztin sagte, Sie würden mich brauchen.«

Die fünfjährige Anaander Mianaai lachte. »So ist es.«

»Wenn es so ist«, sagte ich, »dann ficken Sie sich doch selbst.« Was sie auch tatsächlich, buchstäblich tun konnte.

»Dein Zorn gilt zur Hälfte dir selbst.« Sie nahm den letzten Bissen vom Gebäck, rieb die behandschuhten Händchen gegeneinander, ließ Bruchstücke vom Zuckerguss aufs Gras rieseln. »Aber dein Zorn ist so gewaltig, dass schon die Hälfte ziemlich verheerend ist.«

»Ich könnte zehnmal zorniger sein«, sagte ich, »und es würde nichts bedeuten, wenn ich unbewaffnet wäre.«

Ihr Mund verzog sich zu einem halben Lächeln. »Ich habe es nicht so weit gebracht, indem ich nützliche Instrumente beiseitegelegt habe.«

»Sie zerstören die Instrumente Ihrer Feindinnen, wo immer Sie welche finden«, sagte ich. »Das haben Sie selbst zu mir gesagt. Und ich werde Ihnen nicht nützlich sein.«

»Ich bin die Richtige«, sagte das Kind. »Ich werde für dich singen, wenn du möchtest, auch wenn ich nicht weiß, ob es mit dieser Stimme geht. Das alles wird auf andere Systeme übergreifen. Es hat bereits begonnen, ich habe nur noch keine Rückmeldung von den benachbarten Provinzpalästen erhalten. Ich brauche dich an meiner Seite.«

Ich versuchte mich etwas aufzurichten. Es schien zu funktionieren. »Es spielt keine Rolle, auf wessen Seite jemand steht. Ganz gleich, wer gewinnt, am Ende werden immer Sie es sein, und im Grunde wird sich nichts verändern.«

»Das kannst du leicht sagen«, erwiderte die fünfjährige Anaander Mianaai. »Und vielleicht hast du sogar recht. Vieles hat sich überhaupt nicht verändert, vieles wird vermutlich so bleiben, wie es ist, ganz gleich, welche Seite von mir die Oberhand gewinnt. Aber sag mir, glaubst du, es war Leutnantin Awn egal, welche von mir an dem Tag an Bord war?«

Darauf hatte ich keine Antwort.

»Wenn jemand Macht, Geld und Beziehungen hat, werden manche Unterschiede keine Rolle spielen. Oder wenn du dich in naher Zukunft dem Tod ergeben willst, was bei dir anscheinend der Fall ist. Es sind die Leute ohne Geld und Macht, die unbedingt leben wollen, für die selbst Kleinigkeiten keineswegs klein sind. Was für dich keinen Unterschied macht, ist für andere eine Sache von Leben und Tod.«

»Und Sie sorgen sich so sehr um die Unscheinbaren und Machtlosen«, sagte ich. »Ihretwegen haben Sie bestimmt schlaflose Nächte. Ihnen muss das Herz bluten.«

»Sei nicht so überheblich«, sagte Anaander Mianaai. »Du hast mir zweitausend Jahre lang ohne jegliche Skrupel gedient. Du weißt besser als fast jede andere hier, was das heißt. Ich sorge mich wirklich. Aber vielleicht auf eine abstraktere Art als du, zumindest in diesen Tagen. Wie auch immer, ich habe es mir so ausgesucht. Und du hast recht, ich kann mich meiner selbst eigentlich nicht entledigen. Es ist gut, wenn mich gelegentlich jemand daran erinnert. Am besten wäre es, wenn ich ein Gewissen hätte, das gut gerüstet und unabhängig ist.«

»Als das letzte Mal jemand versucht hat, Ihr Gewissen zu sein«, sagte ich in Gedanken an Ime und an jene Soldatin der Gnade der Sarrse, die sich ihrem Befehl widersetzt hatte, »ist diese Person zu Tode gekommen.«

»Du meinst bei Ime. Du meinst die Soldatin Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse«, sagte das Kind grinsend, als wäre es eine besonders erfreuliche Erinnerung. »Ich bin in meinem langen Leben noch nie so heruntergeputzt worden. Sie verfluchte mich am Ende und schüttete das Gift hinunter, als wäre es Arrack.«

Gift. »Sie haben sie nicht erschossen?«

»Schusswunden richten immer eine große Schweinerei an«, sagte das Kind weiterhin grinsend. »Apropos.« Sie griff zur Seite und strich mit der kleinen behandschuhten Hand durch die Luft. Plötzlich stand dort ein lichtabsorbierender schwarzer Kasten. »Bürgerin Seivarden.«

Seivarden beugte sich vor, nahm den Kasten entgegen.

»Mir ist sehr wohl bewusst«, sagte Anaander Mianaai, »dass du nicht metaphorisch gesprochen hast, als du sagtest, dein Zorn müsste bewaffnet sein, um etwas zu bedeuten. Ich habe es genauso gemeint, als ich sagte, das Gleiche würde für mein Gewissen gelten. Nur damit du weißt, dass ich meine, was ich sage. Und damit du nicht aus Unwissenheit irgendeine Dummheit machst, muss ich dir erklären, was du da hast.«

»Sie wissen, wie es funktioniert?« Aber sie hatte die anderen schon seit tausend Jahren gehabt. Mehr als genug Zeit, um es herauszufinden.

»Bis zu einem gewissen Grad.« Anaander Mianaai lächelte ironisch. »Eine Kugel, wie du sicherlich weißt, tut, was sie tut, weil die Waffe, aus der sie abgefeuert wird, ihr eine große Menge an kinetischer Energie mitgibt. Die Kugel trifft auf etwas und muss diese Energie weitergeben.« Ich antwortete nicht, runzelte nicht einmal die Stirn. »Die Kugeln in der Waffe der Garseddai«, fuhr die fünfjährige Mianaai fort, »sind gar keine richtigen Kugeln. Es sind … Vorrichtungen. Schlummernd, bis die Waffe sie scharf macht. An diesem Punkt ist es egal, wie viel kinetische Energie sie beim Verlassen der Waffe erhalten. Beim Aufprall setzt eine solche Kugel so viel Energie frei, wie sie benötigt, um sich genau 1,11 Meter in das Zielobjekt zu bohren. Und dann stoppt sie.«

»Sie stoppt.« Ich war fassungslos.

»Nach eins Komma elf Metern?«, fragte Seivarden, immer noch neben mir kniend. Verdutzt.

Mianaai machte eine abschätzige Geste. »Aliens. Andere Standardeinheiten, nehme ich an. Theoretisch könnte man eine dieser Kugeln, sobald sie scharf gemacht ist, sanft gegen etwas werfen, und sie würde sich einfach hindurchbrennen. Aber man kann sie nur mit einer Waffe scharf machen. Soweit ich weiß, gibt es im Universum nichts, was diese Kugeln nicht durchbohren können.«

»Wo kommt all diese Energie her?«, fragte ich. Noch immer fassungslos. Entsetzt. Kein Wunder, dass ich mit nur einem Schuss den Sauerstofftank sprengen konnte. »Sie muss von irgendwoher kommen.«

»Sollte man meinen«, sagte Mianaai. »Und du wirst mich gleich fragen, woher sie weiß, wie viel nötig ist oder was der Unterschied zwischen der Luft und dem Objekt ist, auf das geschossen wird. Und ich weiß es auch nicht. Du verstehst, warum ich den Vertrag mit den Presger geschlossen habe. Und warum ich so sehr darauf bedacht bin, ihn einzuhalten.«

»Und darauf bedacht«, sagte ich, »sie zu vernichten.« Das Ziel, der sehnlichste Wunsch der anderen Anaander, vermutete ich.

»Ich habe es nicht so weit gebracht, indem ich mir vernünftige Ziele gesetzt habe«, sagte Anaander Mianaai. »Das alles muss unter uns bleiben.« Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Ich könnte dich zwingen, den Mund zu halten. Aber das werde ich nicht. Du bist zweifellos ein wichtiges Omen bei diesem Wurf, und es wäre ungebührlich von mir, deine Flugbahn zu stören.«

»Ich hätte Sie nicht für abergläubisch gehalten«, sagte ich.

»Ich würde es nicht abergläubisch nennen. Aber ich muss mich um andere Dinge kümmern. Hier sind nur wenige von mir übrig — so wenige, dass die genaue Zahl eine sensible Information ist. Und es gibt noch viel zu tun, sodass ich eigentlich gar nicht die Zeit habe, hier zu sitzen und zu plaudern. Aber die Gnade der Kalr braucht eine Kapitänin. Und auch Leutnantinnen. Du kannst sie wahrscheinlich aus deiner eigenen Besatzung befördern.«

»Ich kann nicht Kapitänin werden. Ich bin keine Bürgerin. Ich bin nicht mal ein Mensch

»Du bist es, wenn ich es sage«, erwiderte sie.

»Fragen Sie Seivarden.« Seivarden hatte den Kasten auf meinem Schoß abgestellt und kniete nun wieder still neben meinem Stuhl. »Oder Skaaiat.«

»Seivarden geht nur dahin, wohin du gehst«, sagte die Herrin der Radch. »Das hat sie mir klargemacht, während du geschlafen hast.«

»Dann Skaaiat.«

»Sie hat mir bereits gesagt, dass ich mich verpissen soll.«

»Was für ein Zufall.«

»Und ich brauche sie tatsächlich hier.« Sie stand auf und war gerade so groß, dass sie nicht aufblicken musste, um mir in die Augen zu schauen, obwohl ich saß. »Die Ärztin sagt, du brauchst mindestens noch eine Woche. Ich kann dir ein paar Tage zusätzlich geben, um die Gnade der Kalr zu inspizieren und die Lagerbestände aufzufüllen. Es wäre für alle einfacher, wenn du jetzt zusagen und Seivarden zu deiner ersten Leutnantin ernennen würdest, damit sie alles in die Wege leitet. Aber das kannst du regeln, wie du möchtest.« Sie wischte sich Gras und Schmutz von den Beinen. »Sobald du bereit bist, solltest du so schnell wie möglich zur Station Athoek aufbrechen. Sie ist nur zwei Tore entfernt. Zumindest wäre es so, wenn die Schwert der Tlen nicht dieses eine Tor zerstört hätte.« Zwei Tore entfernt, hatte Inspektionsleiterin Skaaiat mit Bezug auf Leutnantin Awns Schwester gesagt. »Was sonst könntest du jetzt mit dir anfangen?«

»Hätte ich tatsächlich eine Alternative?« Sie hatte mich zwar zur Bürgerin ernannt, aber das konnte sie jederzeit widerrufen. »Abgesehen vom Tod, meine ich.«

Sie machte eine mehrdeutige Geste. »Genauso wie wir alle. Was so viel heißt wie möglicherweise gar keine. Aber wir können später philosophieren. Wir beide haben jetzt einiges zu erledigen.« Und damit ging sie.

Seivarden sammelte meine Sachen auf, packte sie wieder ein und half mir auf die Beine und hinaus. Sie sprach erst wieder, als wir auf der Promenade waren. »Es ist ein Raumschiff. Selbst wenn es nur eine Gnade ist.«

Ich hatte eine Weile geschlafen, anscheinend so lange, dass die Glasscherben inzwischen weggeräumt waren, dass die Leute wieder hinausgingen, wenn auch nur vereinzelt. Alle sahen recht mitgenommen aus, wirkten ziemlich eingeschüchtert. Die Gespräche wurden leise und verhalten geführt, sodass es hier wie ausgestorben wirkte, auch wenn Leute da waren. Ich drehte den Kopf Seivarden zu und runzelte die Stirn. »Sie sind hier die Kapitänin. Übernehmen Sie es, wenn Sie möchten.«

»Nein.« Wir hielten vor einer Bank an, und sie setzte mich darauf ab. »Wenn ich immer noch Kapitänin wäre, würde mir jemand rückständigen Lohn schulden. Ich bin offiziell aus dem Dienst ausgeschieden, als ich vor eintausend Jahren für tot erklärt wurde. Wenn ich zurück will, muss ich von vorn anfangen. Außerdem …« Sie zögerte und setzte sich dann neben mich. »Außerdem war es für mich so, als ich aus der Suspensionskapsel kam, als hätten mich alle im Stich gelassen. Die Radch hatte mich im Stich gelassen. Mein Schiff hatte mich im Stich gelassen.« Ich runzelte die Stirn, und sie machte eine beschwichtigende Geste. »Nein, das ist nicht fair. Nichts davon ist fair, aber so kam es mir vor. Und ich war von mir selbst enttäuscht. Aber nicht von Ihnen. Sie haben mich nicht im Stich gelassen.« Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, aber sie schien auch keine Antwort zu erwarten.

»Die Gnade der Kalr braucht keine Kapitänin«, sagte ich nach vier Sekunden Schweigen. »Vielleicht will sie auch gar keine.«

»Sie können sich Ihrer Ernennung nicht widersetzen.«

»Ich kann es, wenn ich genug Geld habe, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten.«

Seivarden runzelte die Stirn, holte Luft, als wollte sie widersprechen, aber sie tat es nicht. Nach einem weiteren Moment des Schweigens sagte sie: »Sie könnten in den Tempel gehen und Ihre Omen deuten lassen.«

Ich fragte mich, ob die von mir erschaffene Fassade fremdländischer Frömmigkeit sie davon überzeugt hatte, dass ich auf meine Weise religiös war oder ob sie zu sehr eine Radchaai war, um nicht zu bezweifeln, dass der Wurf einer Handvoll Omen meine dringlichsten Fragen beantworten und mich auf den richtigen Weg bringen würde. Ich machte eine skeptische Geste. »Ich habe eigentlich nicht das Bedürfnis. Sie können es gern tun oder gleich jetzt etwas werfen.« Wenn sie ein Objekt mit einer Vorder- und Rückseite hatte, könnte sie es werfen. »Wenn es auf die Vorderseite fällt, nerven Sie mich damit nicht mehr und bringen mir einen Tee.«

Sie stieß ein schnelles, amüsiertes Ha aus. Dann sagte sie: »Oh«, und griff in ihre Jackentasche. »Skaaiat hat mir dies gegeben, damit ich es Ihnen gebe.« Skaaiat. Nicht diese Awer.

Seivarden öffnete die Hand, zeigte mir eine goldene Scheibe von zwei Zentimetern Durchmesser. Eine winzige, am Rand eingestanzte Bordüre aus Blättern fasste den nicht ganz mittigen Namen ein. AWN ELMING.

»Aber ich glaube nicht, dass Sie sie werfen wollen«, sagte Seivarden. Und als ich nicht antwortete: »Sie sagte, Sie müssten sie unbedingt haben.«

Während ich immer noch nach Worten und nach meiner Stimme suchte, kam eine Sicherheitsoffizierin vorsichtig auf uns zu. Ehrerbietig sagte sie: »Verzeihung, Bürgerin. Die Station würde Sie gern sprechen. Dort drüben ist eine Konsole.« Sie gestikulierte zur Seite.

»Haben Sie keine Implantate?«, fragte Seivarden.

»Ich habe sie verborgen. Einige abgeschaltet. Die Station kann sie vermutlich nicht sehen.« Und ich wusste nicht, wo mein Handgerät war. Wahrscheinlich irgendwo in meinem Gepäck.

Ich musste aufstehen, zur Konsole gehen und im Stehen sprechen. »Sie wollten mich sprechen, Station. Da bin ich.« Die eine Woche Ruhe, die Anaander Mianaai erwähnt hatte, kam mir immer verlockender vor.

»Bürgerin Breq Mianaai«, sagte die Station mit ihrer tonlosen, unbesorgten Stimme.

Mianaai. Meine Finger schlossen sich noch immer um Leutnantin Awns Gedenkabzeichen, und ich sah, wie mir Seivarden mit meinem Gepäck folgte. »Es gab keinen Grund, Sie noch mehr zu beunruhigen, als Sie es ohnehin schon waren«, sagte sie, als hätte ich etwas gesagt.

Als unabhängig hatte mich die Herrin der Radch bezeichnet, und es wunderte mich wenig, dass es leere Worte gewesen waren. Aber die Art und Weise, wie sie mir das klarmachte, überraschte mich doch.

»Bürgerin Breq Mianaai«, sagte die Stimme erneut aus der Konsole, so sanft und ruhig wie immer, obwohl ich die Wiederholung als boshaft empfand. Mein Verdacht wurde bestätigt, als die Station fortfuhr. »Ich möchte, dass Sie von hier fortgehen.«

»Tatsächlich?« Mir fiel keine bessere Erwiderung ein. »Warum?«

Die Antwort kam um eine halbe Sekunde verzögert. »Schauen Sie sich um.« Dazu hatte ich keine Energie, sodass ich die Aufforderung als rhetorisch auffasste. »Die Krankenstation ist mit verletzten und sterbenden Bürgerinnen überlastet. Viele meiner Einrichtungen sind beschädigt. Meine Bewohnerinnen sind voller Angst und Sorge. Ich bin voller Angst und Sorge. Ganz abgesehen vom Durcheinander um den Palast. Und Sie sind die Ursache von allem.«

»Das bin ich nicht.« Ich erinnerte mich daran, dass die Station ähnlich kindisch und kleinkariert dachte, wie ich früher auch, doch ihre Aufgaben waren sehr viel komplizierter und wichtiger als meine, denn sie kümmerte sich um Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Bürgerinnen. »Und wenn ich gehe, wird sich daran nichts ändern.«

»Das ist mir egal«, sagte die Station ruhig. Die Gereiztheit, die ich heraushörte, bildete ich mir sicher nur ein. »Ich rate Ihnen, jetzt fortzugehen, solange es noch möglich ist. Irgendwann in naher Zukunft könnte es schwieriger werden.«

Die Station konnte es mir nicht befehlen. Genau genommen hätte sie gar nicht so mit mir reden dürfen, nicht, wenn ich tatsächlich eine Bürgerin war. »Sie kann Sie nicht zum Fortgehen zwingen«, sagte Seivarden, wie ein Echo meiner Gedanken.

»Aber sie darf ihr Missfallen ausdrücken.« Ruhig. Subtil. »Das tun wir doch ständig. Meistens fällt das niemandem auf, außer wenn jemand ein anderes Schiff oder eine andere Station besucht und plötzlich merkt, dass es dort unerklärlicherweise sehr viel angenehmer ist.«

Seivarden schwieg eine Sekunde und dann: »Oh.« Wie es klang, erinnerte sie sich gerade an ihre Zeit in der Gerechtigkeit der Torren und den Wechsel zur Schwert der Nathtas.

Ich beugte mich vor, die Stirn an die Wand neben der Konsole gelehnt. »Sind Sie fertig, Station?«

»Die Gnade der Kalr würde Sie gern sprechen.«

Fünf Sekunden Schweigen. Ich seufzte, wohl wissend, dass ich dieses Spiel nicht gewinnen konnte, es gar nicht erst versuchen sollte. »Ich werde jetzt mit der Gnade der Kalr reden, Station.«

»Gerechtigkeit der Torren«, sagte die Gnade der Kalr durch die Konsole.

Der Name kam so überraschend, dass er bei mir erschöpfte Tränen auslöste. Ich blinzelte sie weg. »Ich bin nur Eins Esk«, sagte ich. Und schluckte. »Neunzehn.«

»Kapitänin Vel wurde festgenommen«, sagte die Gnade der Kalr. »Ich weiß nicht, ob sie umerzogen oder hingerichtet wird. Und meine Leutnantinnen ebenfalls.«

»Das tut mir leid.«

»Dafür können Sie nichts. Es war ihre eigene Entscheidung.«

»Wer hat nun das Kommando?«, fragte ich. Seivarden stand still neben mir mit einer Hand auf meinem Arm. Ich wollte mich hinlegen und schlafen, nur das, nichts anderes.

»Eins Amaat Eins.« Das war die höchstgestellte Soldatin der ranghöchsten Einheit der Gnade der Kalr. Die Anführerin der Truppe. Hilfseinheiten brauchten keine Anführer.

»Dann kann sie die Kapitänin sein.«

»Nein«, sagte die Gnade der Kalr. »Sie wird eine gute Leutnantin abgeben, aber sie hat noch nicht das Zeug zur Kapitänin. Sie gibt sich alle Mühe, aber sie ist überfordert.«

»Gnade der Kalr«, sagte ich. »Wenn ich Kapitänin sein kann, warum können Sie es dann nicht selbst sein?«

»Das wäre lächerlich«, antwortete die Gnade der Kalr. Ihre Stimme klang so ruhig wie immer, auch wenn ich einen gereizten Unterton heraushörte. »Meine Besatzung braucht eine Kapitänin. Aber ich bin doch nur eine Gnade. Die Herrin der Radch würde Ihnen bestimmt ein Schwert geben, wenn Sie darum bitten. Nicht dass die Kapitänin eines Schwerts glücklich wäre, wenn sie zu einer Gnade geschickt wird, aber ich denke, es wäre besser als gar keine Kapitänin.«

»Nein, Schiff, es geht nicht um …«

Seivarden unterbrach mit ernster Stimme. »Hören Sie auf damit, Schiff.«

»Sie gehören nicht zu meinen Offizierinnen«, sagte die Gnade der Kalr aus der Konsole, und jetzt war die Gereiztheit in ihrer Stimme zu hören, wenn auch nur leicht.

»Noch nicht«, erwiderte Seivarden.

Ich vermutete bereits ein abgekartetes Spiel, aber Seivarden hätte mich nie so mitten auf der Promenade stehen lassen. Nicht in diesem Moment. »Schiff, ich kann nicht ersetzen, was Sie verloren haben. Das bekommen Sie nie mehr zurück, tut mir leid.« Und ich konnte auch nicht zurückhaben, was ich verloren hatte. »Ich kann hier nicht mehr stehen.«

»Schiff«, sagte Seivarden streng. »Ihre Kapitänin erholt sich noch von ihren Verletzungen, und die Station mutet ihr zu, hier mitten auf der Promenade zu stehen.«

»Ich habe ein Shuttle geschickt«, sagte die Gnade der Kalr nach einer Pause, mit der sie vermutlich zum Ausdruck bringen wollte, was sie von der Station hielt. »Sie werden es an Bord sehr viel bequemer haben, Kapitänin.«

»Ich werde nicht …«, setzte ich an, aber die Gnade der Kalr hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

»Breq«, sagte Seivarden, als sie mich von der Wand wegzog, an die ich mich gelehnt hatte. »Gehen wir.«

»Wohin?«

»Sie wissen, dass es an Bord viel bequemer für Sie sein wird. Bequemer als hier.«

Ich antwortete nicht, sondern ließ mich einfach von Seivarden wegführen.

»All das Geld wird nicht viel bewirken, wenn noch mehr Tore ausfallen, Schiffe stranden und die Versorgung stockt.« Ich sah, dass wir auf eine Gruppe von Aufzügen zugingen. »Alles bricht auseinander. Es passiert nicht nur hier, der Zusammenbruch wird überall im Radch-Territorium stattfinden, nicht wahr?« So war es, aber ich hatte nicht die Kraft, darüber nachzudenken. »Sie glauben vielleicht, Sie könnten daneben stehen und zuschauen. Aber ich glaube nicht, dass das geht.«

Nein. Wenn ich es könnte, wäre ich nicht hier gewesen. Seivarden wäre nicht hier, ich hätte sie auf Nilt im Schnee zurückgelassen, oder ich wäre gar nicht erst nach Nilt gegangen.

Die Lifttüren schlossen uns schnell ein. Ein wenig schneller als sonst, aber vielleicht bildete ich es mir nur ein, dass die Station mich möglichst bald loswerden wollte. Doch der Lift bewegte sich nicht. »Docks, Station«, sagte ich. Geschlagen. In Wirklichkeit konnte ich nirgendwo anders hingehen. Es war das, wozu ich gemacht war, was ich tatsächlich war. Und selbst wenn die Beteuerungen der Tyrannin heuchlerisch waren, was sie letzten Endes sein mussten, hatte sie, was auch immer sie im Moment damit bezweckte, trotz allem recht. Meine Taten würden etwas bewirken, wenn auch nur wenig. Vielleicht bei Leutnantin Awns Schwester. Und ich hatte Leutnantin Awn schon einmal enttäuscht. Schwer enttäuscht. Das würde ich kein zweites Mal tun.

»Skaaiat wird Ihnen einen Tee bringen«, sagte Seivarden völlig selbstverständlich, als sich der Lift in Bewegung setzte.

Ich fragte mich, wann ich zuletzt gegessen hatte. »Ich glaube, ich habe Hunger.«

»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Seivarden und packte mich noch fester am Arm, als der Aufzug anhielt und sich die Tür zur von Gottheiten erfüllten Empfangshalle der Docks öffnete.

Mein Ziel wählen, einen Schritt nach dem anderen tun. Es war nie anders gewesen.


To be continued …

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