10

Ich hatte gedacht, dass die morgendlichen Tempeldienerinnen (verständlicherweise) beschließen würden, zu Hause zu bleiben, aber eine kleine Blumenträgerin, die vor den Erwachsenen in ihrem Haushalt aufgewacht war, traf mit einer Handvoll Kräutern mit rosafarbenen Blütenblättern ein und blieb vor dem Gebäude stehen, als sie zu ihrer Überraschung Anaander Mianaai vor unserer kleinen Amaat-Ikone knien sah.

Leutnantin Awn zog sich im Obergeschoss an. »Ich kann heute keinen Dienst tun«, sagte sie zu mir. Ihre Stimme war leidenschaftslos, völlig konträr zu ihren wahren Gefühlen. Der Morgen war bereits recht warm, und sie schwitzte.

»Sie haben keine der Leichen angerührt«, sagte ich mit Überzeugung, während ich ihren Jackenkragen zurechtrückte. Aber es war trotzdem falsch, das zu sagen.

Vier meiner Segmente, zwei am nördlichen Rand des Vortempelteichs und zwei hüfttief im lauwarmen Wasser und Schlamm watend, hoben die Leiche von Jen Taas Nichte auf die Kante und trugen sie dann zum Haus der Ärztin.

Im Erdgeschoss von Leutnantin Awns Haus sagte ich zur verängstigten, erstarrten Blumenträgerin: »Alles ist gut.« Von der Wasserträgerin war nichts zu sehen, und ich kam für eine solche Aufgabe nicht infrage.

»Sie werden wenigstens das Wasser bringen müssen, Leutnantin«, sagte ich oben zu Leutnantin Awn. »Die Blumenträgerin ist bereits da, aber nicht die Wasserträgerin.«

Eine Weile sagte Leutnantin Awn nichts, während ich ihr das Gesicht abwischte. »Richtig«, sagte sie und ging nach unten, um die Schale zu füllen und sie zur Blumenträgerin zu bringen, die immer noch verängstigt neben mir stand und die Handvoll rosafarbener Blumen umklammerte. Leutnantin Awn hielt ihr das Wasser hin, und sie legte die Blumen ab und wusch sich die Hände. Doch bevor sie die Blumen wieder aufheben konnte, hatte Anaander Mianaai sich zu ihr umgedreht, und das Kind starrte zurück und packte mit ihrer bloßen Hand meinen Handschuh. »Jetzt wirst du dir erneut die Hände waschen müssen, Bürgerin«, flüsterte ich, und mit noch etwas mehr Ermutigung tat sie es. Dann hob sie die Blumen auf und führte ihren Teil des morgendlichen Rituals nervös, aber korrekt durch. Sonst kam niemand, was mich nicht überraschte.

Die Ärztin, die zu sich selbst und nicht zu mir sprach, obwohl ich drei Meter von ihr entfernt stand, sagte: »Durchschnittene Kehle, ganz offensichtlich, aber sie wurde auch vergiftet.« Und dann voller Abscheu und Verachtung: »Ein Kind aus ihrem eigenen Haus. Diese Leute sind nicht zivilisiert.«

Unsere eine kleine Tempeldienerin ging, mit einem Geschenk von der Herrin der Radch in der Hand — eine Nadel in Form einer vierblättrigen Blume, jedes Blütenblatt mit dem emaillierten Bild einer der vier Emanationen. Anderswo würde jede Radchaai, die ein solches Geschenk empfing, es in Ehren halten und fast ständig tragen, ein Zeichen, dass sie mit der Herrin der Radch persönlich im Tempel gedient hatte. Doch dieses Kind würde die Nadel wahrscheinlich in eine Schachtel werfen und sie vergessen. Als sie außer Sichtweite war (der von Leutnantin Awn und der Herrin der Radch, aber nicht meiner), wandte Anaander Mianaai sich Leutnantin Awn zu und sagte: »Ist das nicht Unkraut?«

Leutnantin Awn stürzte diese Frage in tiefe Verlegenheit, in die sich kurz darauf Enttäuschung und eine heftige Wut mischte, die ich noch nie zuvor in ihr gesehen hatte. »Nicht für die Kinder, Herrin.« Sie schaffte es nicht, die Schärfe aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Anaander Mianaais Ausdruck änderte sich nicht. »Diese Ikone und dieser Satz Omen. Sie sind Ihr persönlicher Besitz, denke ich. Wo sind diejenigen, die zum Tempel gehören?«

»Ich bitte meine Herrin um Verzeihung«, sagte Leutnantin Awn, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt wusste, dass sie es keineswegs tun wollte, was ihrem Tonfall deutlich anzuhören war. »Ich habe ihren Erwerb aus der Kasse finanziert, um die Geschenke für die Tempeldienerinnen zum Ende ihrer Dienstzeit zu ergänzen.« Außerdem hatte sie ihr eigenes Geld zum selben Zweck benutzt, aber das sagte sie nicht.

»Ich schicke Sie zur Gerechtigkeit der Torren zurück«, sagte die Herrin der Radch. »Ihre Nachfolgerin wird morgen hier sein.«

Scham. Ein neues Aufflackern der Wut. Und der Verzweiflung. »Ja, Herrin.«

Es gab nicht viel einzupacken. Ich konnte in weniger als einer Stunde bereit sein. Ich verbrachte den Rest des Tages damit, unseren Tempeldienerinnen, die alle zu Hause waren, die Geschenke auszuliefern. Die Schule war abgesagt worden, und es wagte sich kaum jemand auf die Straßen. »Leutnantin Awn weiß nicht«, sagte ich jeder von ihnen, »ob die neue Leutnantin andere Vereinbarungen treffen wird oder ob sie Ihnen die Geschenke zum Ende Ihrer Dienstzeit geben wird, ohne dass Sie ein ganzes Jahr lang gedient haben. Sie sollten trotzdem zum Haus kommen, an ihrem ersten Morgen.« Die Erwachsenen in jedem Haus musterten mich schweigend, ohne mich zum Eintreten aufzufordern, und jedes Mal legte ich das Geschenk ab — nicht das übliche Paar Handschuhe, die sich hier bislang kaum durchgesetzt hatten, sondern ein farbenfrohes, gemustertes Kleid und eine kleine Schachtel mit Tamarindensamen. Auch frisches Obst war üblich, aber die Zeit hatte nicht gereicht, welches zu besorgen. Ich ließ jeden kleinen Geschenkehaufen auf der Straße liegen, vor dem Hauseingang, und niemand kam, um ihn zu holen oder mit mir zu sprechen.

Die Göttliche verbrachte ein oder zwei Stunden hinter dem Wandschirm in der Tempelresidenz, bis sie schließlich hervorkam und völlig unausgeruht wirkte. Sie ging in den Tempel, wo sie sich mit den Juniorpriesterinnen beriet. Die Leichen waren fortgeschafft worden. Ich hatte angeboten, den Boden vom Blut zu säubern, ohne zu wissen, ob eine solche Arbeit zulässig war, aber die Priesterinnen hatten meine Unterstützung abgelehnt. »Einige von uns«, sagte die Göttliche zu mir, immer noch auf den Teil des Bodens starrend, wo die Toten gelegen hatten, »hatten vergessen, was Sie sind. Jetzt wurden sie wieder daran erinnert.«

»Ich glaube nicht, dass Sie es vergessen hatten, Göttliche«, sagte ich.

»Nein.« Sie schwieg zwei Sekunden lang. »Wird die Leutnantin noch einmal zu mir kommen, bevor sie geht?«

»Wahrscheinlich nicht, Göttliche«, sagte ich. In diesem Moment tat ich, was ich konnte, um Leutnantin Awn zu überreden, sich etwas Schlaf zu gönnen, den sie dringend brauchte, aber nur unter Schwierigkeiten finden würde.

»Vermutlich wäre es besser, wenn sie es nicht tut«, sagte die Oberpriesterin bitter. Dann sah sie mich an. »Das ist unvernünftig von mir. Ich weiß es. Was hätte sie sonst tun können? Es ist einfach für mich zu sagen — und ich sage es —, dass sie eine andere Entscheidung hätte treffen können.«

»Sie hätte es tun können, Göttliche«, räumte ich ein.

»Was war es noch gleich, was Sie Radchaai immer sagen?« Ich war keine Radchaai, aber ich korrigierte sie nicht. »Gerechtigkeit, Anstand und Nützlichkeit, nicht wahr? Jede Tat soll gerecht, anständig und nützlich sein.«

»Ja, Göttliche.«

»War das gerecht?« Ihre Stimme zitterte für einen kurzen Moment, und ich konnte hören, dass sie den Tränen nahe war. »War es anständig?«

»Ich weiß es nicht, Göttliche.«

»Und vor allem, wer hatte einen Nutzen davon?«

»Niemand, Göttliche, soweit ich erkennen kann.«

»Niemand? Wirklich? Kommen Sie, Eins Esk, halten Sie mich nicht zur Närrin.« Dieser zutiefst enttäuschte Blick, den Jen Shinnan Anaander Mianaai zugeworfen hatte, war für jede Anwesende völlig offensichtlich gewesen.

Trotzdem verstand ich nicht, welchen Nutzen sich die Herrin der Radch von diesen Tötungen versprochen hatte. »Diese Leute hätten Sie getötet, Göttliche«, sagte ich. »Sie und alle anderen, die sich nicht verteidigen konnten. Leutnantin Awn hat vergangene Nacht getan, was sie konnte, um ein Blutvergießen zu vermeiden. Es war nicht ihre Schuld, dass es ihr misslungen ist.«

»Oh doch.« Sie kehrte mir immer noch den Rücken zu. »Die Gottheit möge es ihr vergeben. Die Gottheit möge verhindern, dass ich jemals vor eine solche Wahl gestellt werde.« Sie machte eine betende Geste. »Und Sie? Was hätten Sie getan, wenn sich die Leutnantin geweigert und die Herrin der Radch Ihnen befohlen hätte, Ihre Vorgesetzte zu erschießen? Hätten Sie es tun können? Ich dachte, diese Rüstung, die Sie alle tragen, wäre undurchdringlich.«

»Die Herrin der Radch kann unsere Rüstungen deaktivieren.« Aber der Kode, den Anaander Mianaai hätte senden müssen, um Leutnantin Awns Rüstung auszuschalten — oder meine oder die irgendeiner anderen Radchaai-Soldatin —, hätte über die Kommunikation übermittelt werden müssen, die zu diesem Zeitpunkt blockiert gewesen war. Trotzdem. »Es führt zu nichts, über solche Dinge zu spekulieren, Göttliche«, sagte ich. »Es ist nicht geschehen.«

Die Oberpriesterin drehte sich um und sah mich konzentriert an. »Sie haben die Frage nicht beantwortet.«

Es war auch keine leichte Frage für mich. Ich war zerstückelt gewesen, und in jenem Moment hatte nur ein Segment von mir überhaupt gewusst, was auf dem Spiel stand — dass Leutnantin Awns Leben in der Schwebe hing, dass dieser Augenblick darüber entschied. Ich war mir nicht ganz sicher, ob dieses Segment ihre Waffe nicht stattdessen auf Anaander Mianaai gerichtet hätte.

Wahrscheinlich nicht. »Göttliche, ich bin keine Person.« Wenn ich die Herrin der Radch erschossen hätte, hätte sich nichts geändert, dessen war ich mir sicher, nur dass Leutnantin Awn dann trotzdem tot gewesen wäre und ich zerstört. Zwei Esk hätte meinen Platz übernommen, oder eine neue Eins Esk wäre aus Segmenten aus den Frachträumen der Gerechtigkeit der Torren konstruiert worden. Die KI des Schiffs wäre vielleicht in einige Schwierigkeiten geraten, auch wenn meine Handlungsweise vermutlich darauf geschoben worden wäre, dass ich von allem abgeschnitten war. »Leute glauben oft, sie selbst hätten die ehrenhafteste Wahl getroffen, aber wenn sie sich tatsächlich in einer solchen Situation wiederfinden, stellen sie fest, dass die Sache gar nicht so einfach ist.«

»Wie gesagt, die Gottheit möge es verhindern. Ich werde mich mit der Illusion trösten, dass Sie zuerst die Mianaai-Bastardin erschossen hätten.«

»Göttliche!«, warnte ich. Alles, was sie in meiner Hörweite sagte, konnte irgendwann an die Ohren der Herrin der Radch dringen.

»Sie soll es hören. Sie können es ihr selbst sagen! Sie hat initiiert, was letzte Nacht geschah. Ob wir das Ziel waren oder die Tanmind oder Leutnantin Awn, kann ich nicht sagen. Ich habe meinen Verdacht. Ich bin keine Idiotin.«

»Göttliche«, sagte ich. »Wer auch immer die Ereignisse der vergangenen Nacht initiierte, ich glaube nicht, dass sich die Dinge wie gewünscht entwickelten. Ich glaube, man wollte einen offenen Krieg zwischen der Unter- und der Oberstadt, auch wenn ich nicht verstehe, warum. Und ich glaube, das wurde verhindert, als Denz Ay Leutnantin Awn von den Waffen erzählte.«

»Ich denke genauso wie Sie«, sagte die Oberpriesterin. »Und ich glaube, dass Jen Shinnan viel mehr wusste und dass sie aus diesem Grund sterben musste.«

»Es tut mir leid, dass Ihr Tempel entweiht wurde, Göttliche«, sagte ich. Es tat mir nicht besonders leid, dass Jen Shinnan tot war, aber ich sagte es nicht.

Die Göttliche wandte sich wieder von mir ab. »Ich bin mir sicher, dass Sie sehr viel zu tun haben, dass Sie sich auf den Aufbruch vorbereiten müssen. Leutnantin Awn muss sich nicht die Mühe machen, bei mir vorstellig zu werden. Sie können ihr meinen Abschiedsgruß übermitteln.« Sie entfernte sich von mir, ohne auf meine Bestätigung zu warten.

Leutnantin Skaaiat traf mit einer Flasche Arrack und zwei Sieben Issas zum Abendessen ein. »Ihre Ablösung wird Kould Ves auf keinen Fall vor Mittag erreichen«, sagte sie und brach das Siegel an der Flasche. Unterdessen standen die Sieben Issas steif und unbehaglich im Erdgeschoss. Sie waren eingetroffen, kurz bevor ich die Kommunikation wieder aktiviert hatte. Sie hatten die Toten im Tempel der Ikkt gesehen, hatten erraten, was geschehen war, ohne dass es ihnen erzählt worden war. Und sie hatten erst vor zwei Jahren die Frachträume verlassen. Die Annexion selbst hatten sie gar nicht miterlebt.

Überall in Ors, oben wie unten, war es ähnlich still, ähnlich angespannt. Wenn Leute ihre Häuser verließen, vermieden sie es, mich anzusehen oder anzusprechen. Sie gingen fast nur hinaus, um den Tempel zu besuchen, wo die Priesterinnen die Gebete für die Toten abhielten. Ein paar Tanmind kamen sogar von der Oberstadt herunter und standen schweigend am Rand der kleinen Menge. Ich hielt mich im Schatten, weil ich keine weitere Unruhe auslösen wollte.

»Sagen Sie mir, dass Sie sich nicht fast geweigert hätten«, sagte Leutnantin Skaaiat im Obergeschoss des Hauses, wo sie Leutnantin Awn gegenüber hinter einem Wandschirm auf pilzig riechenden Kissen saß. »Ich kenne Sie, Awn, ich schwöre, als ich hörte, was Sieben Issa sah, als sie alle zum Tempel kamen, befürchtete ich, als Nächstes würde ich hören, dass Sie tot sind. Sagen Sie mir, dass Sie es nicht getan haben.«

»Ich habe es nicht getan«, sagte Leutnantin Awn elend und schuldbewusst mit verbitterter Stimme. »Ihnen muss doch klar sein, dass ich es nicht getan habe.«

»Das ist mir nicht klar. Ganz und gar nicht.« Leutnantin Skaaiat goss einen kräftigen Schluck Schnaps in den Becher, den ich ihr hinhielt und dann an Leutnantin Awn weitergab. »Genauso wenig ist es Eins Esk klar, weil sie heute Abend sonst nicht so schweigsam wäre.« Sie betrachtete mein nächstes Segment. »Hat die Herrin der Radch Ihnen verboten zu singen?«

»Nein, Leutnantin.« Ich hatte Anaander Mianaai während ihres Aufenthalts nicht stören wollen, und ich hatte auch Leutnantin Awn nicht am Schlafen hindern wollen. Außerdem war mir gar nicht danach zumute gewesen.

Leutnantin Skaaiat stieß einen frustrierten Laut aus und wandte sich wieder Leutnantin Awn zu. »Hätten Sie sich geweigert, hätte sich nichts geändert, nur dass dann auch Sie tot gewesen wären. Sie taten, was Sie tun mussten, und diese Idioten … bei Hyrs Schwanz, diese Idioten! Sie hätten es besser wissen sollen.«

Leutnantin Awn starrte reglos auf den Becher in ihrer Hand.

»Ich kenne Sie, Awn. Wenn Sie etwas derart Verrücktes tun wollen, heben Sie es sich für eine Gelegenheit auf, bei der Sie tatsächlich etwas bewirken können.«

»Wie Eins Amaat Eins der Gnade der Sarrse?« Sie bezog sich auf Ereignisse in Ime, auf die Soldatin, die ihre Befehle verweigert und den Aufstand vor fünf Jahren angeführt hatte.

»Sie hat zumindest etwas bewirkt. Hören Sie, Awn, Sie und ich wussten, dass etwas im Busch war. Sie und ich wussten, dass die Ereignisse der vergangenen Nacht keinen Sinn ergeben, es sei denn …« Sie verstummte.

Leutnantin Awn stellte abrupt ihren Becher mit Arrack ab. Die Flüssigkeit schwappte über den Rand des Gefäßes. »Es sei denn was? Wie würde es Sinn ergeben?«

»Hier.« Leutnantin Skaaiat hob den Becher auf und drückte ihn Leutnantin Awn in die Hand. »Trinken Sie. Und ich werde es Ihnen erklären. Zumindest insofern, als es für mich Sinn ergibt.«

»Sie wissen, wie eine Annexion abläuft. Ich meine, ja, es handelt sich unbestreitbar um einen rein gewaltsamen Akt, aber anschließend. Nach den Exekutionen und den Deportationen und wenn auch die letzten Idioten, die glauben, dass sie Widerstand leisten können, ausgeschaltet sind. Sobald all das erledigt ist, fügen wir jene, die übrig geblieben sind, in die Radchaai-Gesellschaft ein — sie finden sich zu Häusern zusammen, übernehmen Klientinnen, und nach ein oder zwei Generationen sind sie genauso Radchaai wie alle anderen. Und das geschieht hauptsächlich deshalb, weil wir uns an die Spitze der lokalen Hierarchie wenden, die es fast immer gibt, und wir diesen Leute alle möglichen Vorteile verschaffen, wenn sie sich wie Bürgerinnen verhalten, wir Klientinnenverträge mit ihnen abschließen, die ihnen wiederum erlauben, jenen, die unter ihnen stehen, Verträge anzubieten. Und bevor man sich versieht, ist die ganze neue Welt fest in die Radchaai-Gesellschaft eingebunden, abgesehen von minimalen Störungen.«

Leutnantin Awn machte eine ungeduldige Geste. Das alles wusste sie bereits. »Was hat das mit dem zu tun, was …«

»Sie haben das alles vermasselt.«

»Ich …«

»Was Sie getan haben, hat funktioniert. Und die hiesigen Tanmind mussten es schlucken. Schön und gut. Wenn ich getan hätte, was Sie getan haben — direkt zur orsianischen Priesterin gehen, mich in der Unterstadt häuslich einrichten, statt die Polizeiwache und das Gefängnis zu benutzen, die es in der Oberstadt bereits gab, Allianzen mit Behörden der Unterstadt eingehen und einfach zu ignorieren …«

»Ich habe niemanden ignoriert!«, protestierte Leutnantin Awn.

Leutnantin Skaaiat tat ihren Einwand ab. »Und zu ignorieren, was jede andere als die natürliche einheimische Hierarchie erkannt hätte. Ihr Haus kann es sich nicht leisten, hier irgendwem eine Klientinnenschaft anzubieten. Noch nicht. Weder Sie noch ich können mit irgendwem Verträge abschließen. Vorläufig. Wir mussten uns von den Verträgen unserer Häuser befreien lassen und zu direkten Klientinnen von Anaander Mianaai werden, während wir dienen. Aber wir haben trotzdem noch unsere Familienverbindungen, und diese Familien können die Verbindungen nutzen, die wir jetzt knüpfen, auch wenn wir selbst nicht dazu imstande sind. Und wir selbst können das auch, wenn wir uns zur Ruhe setzen. Während einer Annexion irgendwo Fuß zu fassen ist eine sehr sichere Methode, den finanziellen und sozialen Status der eigenen Familie zu verbessern.

Was so lange in Ordnung ist, bis die falsche Person es tut. Wir sagen uns immer wieder, dass alles so läuft, wie Amaat es will, dass die Gottheit dafür sorgt, dass alles so ist, wie es sein soll. Wenn wir also wohlhabend und geachtet sind, ist es so, weil es so sein soll. Die Eignungsprüfungen beweisen, dass alles gerecht ist, dass alle das bekommen, was sie verdienen, und wenn die richtigen Leute für die richtigen Karrieren auserwählt werden, zeigt das einfach, wie richtig das alles ist.«

»Ich bin keine von den richtigen Personen.« Leutnantin Awn stellte ihren leeren Becher ab, den Leutnantin Skaaiat nachfüllte.

»Sie sind nur eine von Tausenden, aber für jemanden sind Sie eine bemerkenswerte Person. Und diese Annexion ist anders, sie war die letzte. Die letzte Chance, sich Eigentum zu schnappen und Verbindungen zu knüpfen, in dem Maßstab, den die oberen Häuser schon immer gewohnt waren. Sie mögen es nicht, wenn solche letzten Chancen von Häusern wie unseren ergriffen werden. Und um es noch schlimmer zu machen, wurde durch Ihre Untergrabung der lokalen Hierarchie …«

»Ich habe die lokale Hierarchie benutzt!«

»Leutnantinnen«, warnte ich. Leutnantin Awns Ausbruch war laut genug gewesen, um ihn auf der Straße hören zu können, falls sich an diesem Abend jemand auf der Straße aufgehalten hätte.

»Wenn die Tanmind hier das Sagen hatten, muss es genau das gewesen sein, was Amaat gewollt hat. Richtig?«

»Aber sie …« Leutnantin Awn verstummte. Ich war mir nicht sicher, was sie hatte sagen wollen. Vielleicht, dass sie ihre Herrschaft über Ors erst vor relativ kurzer Zeit etabliert hatten. Vielleicht, dass sie in Ors zahlenmäßig in der Minderheit waren, während Leutnantin Awn das Ziel verfolgt hatte, die größtmögliche Anzahl von Leuten zu erreichen.

»Vorsicht«, warnte Leutnantin Skaaiat, obwohl Leutnantin Awn diese Warnung gar nicht gebraucht hätte. Jede Radchaai-Soldatin wusste, dass sie nicht sprechen sollte, ohne vorher nachzudenken. »Wenn Sie diese Waffen nicht gefunden hätten, hätte das nicht nur einen Vorwand geliefert, Sie aus Ors rauszuwerfen, sondern auch die Orsai kräftig zusammenzustauchen und die Oberstadt zu favorisieren. Um die angemessene Ordnung des Universums wiederherzustellen. Und dann hätte der Zwischenfall natürlich als Beweis dafür gedient, wie weich wir geworden sind. Wenn wir nur an den sogenannten unvoreingenommenen Eignungsprüfungen festgehalten hätten, wenn wir noch mehr Personen exekutiert hätten, wenn wir weiterhin Hilfseinheiten produziert hätten …«

»Ich habe Hilfseinheiten«, betonte Leutnantin Awn.

Leutnantin Skaaiat zuckte mit den Schultern. »Das hätten sie ignorieren können, alles andere hätte schließlich gepasst. Sie werden alles ignorieren, was ihnen nicht das einbringt, was sie haben wollen. Und was sie wollen, ist alles, was sie sich schnappen können.« Sie wirkte so ruhig. Fast entspannt. Ich war es gewohnt, keine Daten von Leutnantin Skaaiat zu sehen, aber dieser Widerspruch zwischen ihrem Auftreten und der Ernsthaftigkeit der Situation — Leutnantin Awns anhaltende Bestürzung und, wenn ich ehrlich war, auch mein eigenes Unbehagen angesichts der Ereignisse — ließ sie in meinen Augen seltsam flach und unwirklich erscheinen.

»Ich verstehe Jen Shinnans Anteil daran«, sagte Leutnantin Awn. »Das ist mir klar. Aber ich verstehe nicht, wie … wie eine andere Person davon profitieren soll.« Die Frage, die sie nicht direkt stellen konnte, war natürlich, warum Anaander Mianaai darin involviert war oder warum sie zu einer vorigen, angemessenen Ordnung zurückkehren wollte, nachdem sie selbst einige Änderungen gutgeheißen hatte. Und warum, wenn sie tatsächlich so etwas wollte, gab sie nicht einfach den Befehl dazu? Hätte man sie danach gefragt, hätten beide Leutnantinnen wahrscheinlich gesagt, dass sie gar nicht von der Herrin der Radch sprachen, sondern von irgendeiner unbekannten Person, die in die Angelegenheit verwickelt sein musste. Aber ich war mir sicher, dass sie eine solche Behauptung bei einer Befragung unter Drogen nicht aufrechterhalten konnten. Zum Glück war ein solches Ereignis unwahrscheinlich. »Ich verstehe nicht, warum irgendjemand mit solchen Möglichkeiten nicht einfach den Befehl geben konnte, mich abzulösen und jemand anderes auf meinen Posten zu setzen, wenn es nur darum gegangen wäre.«

»Vielleicht war das nicht alles, was man erreichen wollte«, erwiderte Leutnantin Skaaiat. »Aber ganz offensichtlich wollte jemand zumindest genau das erreichen und versprach sich einen Nutzen davon, es auf diese Weise zu tun. Und Sie haben alles getan, um zu vermeiden, dass Leute getötet werden. Alles andere hätte keinen Unterschied gemacht.« Sie leerte ihren Becher. »Sie werden in Verbindung mit mir bleiben«, sagte sie. Es war keine Frage und auch keine Aufforderung. Und dann etwas sanfter: »Sie werden mir fehlen.«

Für einen kurzen Moment dachte ich, Leutnantin Awn würde wieder weinen. »Wer ist meine Nachfolgerin?«

Leutnantin Skaaiat nannte eine Offizierin und ein Schiff.

»Also eine menschliche Soldatin.« Leutnantin Awn war kurz beunruhigt, doch dann seufzte sie frustriert. Vermutlich erinnerte sie sich daran, dass Ors nun nicht mehr ihr Problem war.

»Ich weiß«, sagte Leutnantin Skaaiat. »Ich werde mit ihr reden. Und Sie passen gut auf sich auf. Annexionen gehören jetzt der Vergangenheit an, in den Truppentransportern mit Hilfseinheiten drängen sich nun die nutzlosen Töchter namhafter Häuser, die auf keinen geringeren Posten abgeschoben werden können.« Leutnantin Awn runzelte die Stirn, wollte offenbar widersprechen, dachte vielleicht an ihre Kameradinnen, die anderen Esk-Leutnantinnen. Oder an sich selbst. Leutnantin Skaaiat bemerkte ihren Gesichtsausdruck und lächelte reumütig. »Dariet ist in Ordnung. Es sind die anderen, vor denen Sie sich in Acht nehmen sollten. Die eine sehr hohe Meinung von sich selbst haben, aber nur wenig, womit sie es rechtfertigen können.« Skaaiat hatte einige von ihnen während der Annexion kennengelernt, hatte sich ihnen gegenüber stets absolut korrekt und höflich verhalten.

»Das müssen Sie mir nicht erklären«, sagte Leutnantin Awn.

Leutnantin Skaaiat goss Arrack nach, und für den Rest des Abends drehte sich ihr Gespräch um Dinge, die nicht berichtet werden müssen.

Dann konnte Leutnantin Awn endlich schlafen, und als sie aufwachte, hatte ich Boote gemietet, die uns zur Flussmündung bringen sollten, in die Nähe von Kould Ves, beladen mit unserem spärlichen Gepäck und meinem toten Segment. In Kould Ves würde man den Mechanismus, der die Rüstung steuerte, und ein paar andere technische Elemente entfernen, um sie weiterverwerten zu können.

Wenn Sie etwas derart Verrücktes tun wollen, heben Sie es sich für eine Gelegenheit auf, bei der Sie tatsächlich etwas bewirken können, hatte Leutnantin Skaaiat gesagt, und ich hatte ihr zugestimmt. Daran hatte sich nichts geändert.

Das Problem liegt darin zu wissen, ob man mit dem, was man tun möchte, etwas bewirken kann. Damit meine ich nicht nur die kleinen Aktionen, die in der Häufung und mit der Zeit oder in großer Anzahl den Ablauf der Ereignisse beeinflussen, auf eine Art und Weise, die viel zu chaotisch oder subtil ist, um sie nachverfolgen zu können. Das eine Wort, das über das Schicksal einer Person und letztlich auch über das Schicksal jener, mit denen sie in Kontakt kommt, entscheidet, ist natürlich ein beliebtes Thema in Unterhaltungsprogrammen und erbaulichen Geschichten, aber wenn jede alle möglichen Konsequenzen aller möglichen Entscheidungen berücksichtigen könnte, würde sich niemand mehr auch nur um einen Millimeter bewegen oder vielleicht sogar das Atmen einstellen, aus Angst vor den letztendlichen Folgen.

Ich meine, in einem größeren und offensichtlicheren Maßstab. Wie Anaander Mianaai persönlich das Schicksal ganzer Völker bestimmt. Oder wie meine eigenen Handlungen Leben oder Tod für Tausende bedeuten können. Oder nur für dreiundachtzig, die sich umzingelt im Tempel der Ikkt zusammendrängen. Ich frage mich — wie sich auch Leutnantin Awn zweifellos gefragt hat —, wie die Konsequenzen einer Verweigerung des Feuerbefehls ausgesehen hätten. Die direkte Konsequenz wäre natürlich ihr Tod gewesen. Und unmittelbar danach wären diese dreiundachtzig Personen gestorben, weil ich sie auf Anaander Mianaais direkten Befehl hin erschossen hätte.

Kein Unterschied, außer das Leutnantin Awn dann tot wäre. Die Omen waren gefallen, und ihre Richtungen waren klar, berechenbar und geradlinig.

Doch weder Leutnantin Awn noch die Herrin der Radch wusste, dass in diesem Moment, hätte sich auch nur eine Scheibe um ein winziges Stück verschoben, das gesamte Muster vielleicht völlig anders ausgefallen wäre. Wenn Omen geworfen werden, kann es geschehen, dass eins irgendwohin fliegt oder rollt, womit man nicht rechnet, und das gesamte Muster durcheinanderbringt. Hätte sich Leutnantin Awn anders entschieden, hätte dieses eine Segment, abgeschnitten und desorientiert, und ja, entsetzt über die Vorstellung, Leutnantin Awn zu erschießen, ihre Waffe vielleicht gegen Mianaai gerichtet. Was wäre dann gewesen?

Letztlich hätte eine solche Tat Leutnantin Awns Tod nur hinausgezögert und zu meiner eigenen Vernichtung — der von Eins Esk — geführt. Was für mich nicht besonders schlimm gewesen wäre, da ich nicht als Individuum existierte.

Doch der Tod dieser dreiundachtzig Personen wäre hinausgezögert worden. Leutnantin Skaaiat wäre gezwungen gewesen, Leutnantin Awn zu verhaften — ich bin davon überzeugt, dass sie sie nicht erschossen hätte, obwohl sie rechtmäßig dazu befugt gewesen wäre —, aber sie hätte die Tanmind nicht erschossen, weil Mianaai nicht mehr in der Lage gewesen wäre, den Befehl zu geben. Und Jen Shinnan hätte Zeit und Gelegenheit erhalten, das zu sagen, was tatsächlich geschehen war und woran die Herrin der Radch sie gehindert hatte. Welchen Unterschied hätte das gemacht?

Vielleicht einen sehr großen. Vielleicht auch gar keinen. Es gab zu viele Unbekannte. Zu viele scheinbar berechenbare Personen, die in Wirklichkeit auf Messers Schneide balancierten oder deren Bewegungsrichtungen sich womöglich sehr leicht ändern konnten, wenn ich es nur genauer wüsste.

Wenn Sie etwas derart Verrücktes tun wollen, heben Sie es sich für eine Gelegenheit auf, bei der Sie tatsächlich etwas bewirken können. Doch in Ermangelung einer annähernden Allwissenheit gab es keine Möglichkeit, es zu wissen. Man konnte nur eine ungefähre Berechnung erstellen. Man konnte einen Wurf machen und versuchen, anschließend die Ergebnisse zu enträtseln.

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