Zuerst standen die Leute, die ich vom Vortempelteich fortgeschickt hatte, flüsternd in kleinen Gruppen auf der Straße, um sich dann zu zerstreuen, als ich mich ihnen auf meinen regelmäßigen Runden näherte. Aber kurz danach verschwanden alle in ihren Häusern und drängten sich drinnen zusammen. In den nächsten paar Stunden war es still in der Oberstadt. Unheimlich still, und es half auch nicht, dass Leutnantin Awn mich immer wieder fragte, was hier vor sich ging.
Leutnantin Awn war davon überzeugt, dass meine Anwesenheit in der Oberstadt die Situation nur verschlimmern konnte, also wies sie mich stattdessen an, in der Nähe des Platzes zu bleiben. Wenn etwas geschah, war ich da, zwischen der Unter- und der Oberstadt. Das war der Hauptgrund, warum ich immer noch mehr oder weniger effizient funktionierte, als schließlich alles zusammenbrach.
Vier Stunden lang tat sich nichts. Die Herrin der Radch murmelte gemeinsam mit den Priesterinnen der Ikkt Gebete. In der Unterstadt verbreitete ich den dringenden Rat, heute Nacht zu Hause zu bleiben, und infolgedessen gab es keine Gespräche auf den Straßen, keine Gruppen von Nachbarinnen, die sich im Erdgeschoss irgendeines Hauses versammelten, um sich ein Unterhaltungsprogramm anzuschauen. Als es dunkel geworden war, hatten sich fast alle in ein Obergeschoss zurückgezogen, um sich leise zu unterhalten oder schweigend über das Geländer nach draußen zu blicken.
Vier Stunden vor Sonnenaufgang brach alles zusammen — oder genauer gesagt, brach ich zusammen. Die Trackerdaten, die ich überwacht hatte, verstummten, und plötzlich waren alle zwanzig Körper von mir blind, taub und handlungsunfähig. Jedes Segment konnte nur mit einem einzigen Augenpaar sehen, nur mit einem einzigen Ohrenpaar hören, nur einen einzelnen Körper bewegen. Es dauerte einige verwirrte, panische Momente, bis meine Segmente erkannten, dass jedes von allen anderen abgeschnitten war, dass jedes Exemplar von mir allein in einem einzigen Körper war. Und das Schlimmste war, dass im gleichen Augenblick auch keine Daten von Leutnantin Awn mehr kamen.
Ab diesem Moment war ich zwanzig verschiedene Personen, mit zwanzig verschiedenen Beobachtungen und Erinnerungen, und ich kann die Ereignisse nur rekonstruieren, indem ich diese separaten Erfahrungen zusammensetze.
In dem Augenblick, als der Schlag kam, entfalteten alle zwanzig Segmente unverzüglich, ohne darüber nachzudenken, ihre Rüstungen. Jene Segmente, die bekleidet waren, unternahmen gar nicht erst den Versuch, sie zu modifizieren, um irgendeinen Teil meiner Uniformen zu verdecken. Im Haus wachten sofort acht schlafende Segmente auf, und sobald ich meine Fassung wiedererlangt hatte, eilten sie zu Leutnantin Awn, die sich hingelegt hatte und einzuschlafen versuchte. Als zwei dieser Segmente, Siebzehn und Vier, sahen, dass es Leutnantin Awn anscheinend gutging und sie von mehreren anderen Segmenten umgeben war, wandten sie sich der Hauskonsole zu, um den Kommunikationsstatus zu überprüfen. Die Konsole funktionierte nicht.
»Die Kommunikation ist tot«, rief mein Segment Siebzehn, deren Stimme durch die glatte, silbrige Rüstung verzerrt wurde.
»Unmöglich«, sagte Vier, und Siebzehn antwortete nicht, weil angesichts der Tatsachen keine Antwort nötig war.
Einige meiner Segmente in der Oberstadt wandten sich tatsächlich dem Vortempelteich zu, bevor ihnen klar wurde, dass ich lieber bleiben sollte, wo ich war. Jedes einzelne Segment auf dem Platz und im Tempel machte sich auf dem Weg zum Haus. Eine von mir rannte los, um nach Leutnantin Awn zu sehen, und zwei sagten gleichzeitig: »Die Oberstadt!« Und zwei weitere: »Die Sturmsirene!« Und zwei verwirrte Sekunden lang versuchten die Teile von mir zu entscheiden, was als Nächstes zu tun war. Segment Neun rannte in die Tempelresidenz und weckte die Priesterin, die neben der Sturmsirene schlief und sie daraufhin auslöste.
Kurz bevor die Sirene ertönte, kam Jen Shinnan aus ihrem Haus in der Oberstadt gerannt und schrie: »Mord! Mord!« In den benachbarten Häusern gingen die Lichter an, aber alle weiteren Geräusche wurden vom Kreischen der Sirene überschallt. Mein nächstes Segment war vier Straßen entfernt.
Überall in der Unterstadt rasselten die Sturmrollläden herunter. Die Priesterinnen im Tempel stellten ihre Gebete ein, und die Oberpriesterin blickte mich an. Aber ich hatte keine Informationen für sie und gestikulierte meine Hilflosigkeit. »Meine Kommunikation ist unterbrochen, Göttliche«, sagte dieses Segment. Die Oberpriesterin blinzelte verständnislos. Sprechen war sinnlos, solange die Sirene heulte.
Die Herrin der Radch hatte in dem Moment, als ich fragmentiert wurde, nicht reagiert, obwohl sie mit ihren übrigen Körpern auf ähnliche Weise verbunden war, wie ich es normalerweise war. Ihr offenkundiger Mangel an Überraschung war seltsam genug, dass mein Segment, das ihr am nächsten war, es bemerkte. Aber vielleicht war es auch nur Selbstbeherrschung, denn die Sirene entlockte ihr nicht mehr als einen Blick nach oben und eine hochgezogene Augenbraue. Dann erhob sie sich und trat hinaus auf den Platz.
Es war das Drittschlimmste, was mir jemals widerfahren war. Ich hatte jedes Gefühl für die Gerechtigkeit der Torren über mir verloren, jedes Gefühl für mich selbst. Ich war in zwanzig Fragmente zersplittert, die kaum noch miteinander kommunizieren konnten.
Kurz vor dem Alarm hatte Leutnantin Awn ein Segment zum Tempel geschickt, mit der Anweisung, die Sirene ertönen zu lassen. Jetzt kam dieses Segment auf den Platz gerannt, wo es zögernd stehen blieb, blickte zu meinen anderen Körpern, die sichtbar, aber nicht da waren, soweit es meine Selbstwahrnehmung betraf.
Die Sirene verstummte. In der Unterstadt herrschte Stille, die einzigen Geräusche waren meine Schritte und die von den Rüstungen gefilterten Stimmen, die versuchten, mit mir selbst zu sprechen, sich zu organisieren, damit ich wenigstens in kleinem Maßstab wieder funktionierte.
Die Herrin der Radch zog eine ergraute Augenbraue hoch. »Wo ist Leutnantin Awn?«
Das war natürlich die Frage, die all meine Segmente, die es noch nicht erfahren hatten, am meisten beschäftigte, aber jetzt wusste die eine Version von mir, die mit dem Befehl von Leutnantin Awn gekommen war, was zu tun war. »Leutnantin Awn ist auf dem Weg, Herrin«, sagte sie, und zehn Sekunden später trafen Leutnantin Awn und die meisten übrigen von mir ein, die sich im Haus aufgehalten hatten, und stürmten auf den Platz.
»Ich dachte, Sie hätten diese Region unter Kontrolle.« Anaander Mianaai sah Leutnantin Awn nicht an, während sie sprach, aber es war klar, an wen ihre Worte gerichtet waren.
»Das dachte ich ebenfalls.« Und dann erinnerte sich Leutnantin Awn, wo sie war und zu wem sie sprach. »Herrin. Ich bitte um Verzeihung.« Alle von mir mussten sich beherrschen, um sich nicht ganz umzudrehen und Leutnantin Awn anzusehen, um sich zu überzeugen, dass sie wirklich hier war, weil ich sie ansonsten nicht spüren konnte. Ein wenig Geflüster klärte, welche von meinen Segmenten in ihrer Nähe bleiben würden, und die übrigen würden sich darauf verlassen müssen.
Mein Segment Zehn kam in vollem Lauf um den Vortempelteich gerannt. »Probleme in der Oberstadt!«, rief sie und hielt vor Leutnantin Awn an, wo ich mir selbst Platz machte. »Vor Jen Shinnans Haus hat sich eine Menge gebildet. Die Leute sind wütend, sie reden von Mord, und sie verlangen Gerechtigkeit.«
»Mord. Ach du Scheiße!«
Alle Segmente in Leutnantin Awns Nähe ermahnten sie im Chor: »Ihre Ausdrucksweise, Leutnantin!« Anaander Mianaai bedachte mich mit einem ungläubigen Blick, sagte aber nichts.
»Ach du Scheiße!«, wiederholte Leutnantin Awn.
»Wollen Sie«, fragte Anaander Mianaai ruhig und bedächtig, »noch irgendetwas anderes tun als fluchen?«
Leutnantin Awn erstarrte eine halbe Sekunde lang, dann blickte sie sich um, über das Wasser, zur Unterstadt und zum Tempel. »Wer ist hier? Zählen!« Und als wir damit fertig waren, fuhr sie fort: »Eins bis Sieben bleiben hier. Die übrigen kommen mit mir.« Ich folgte ihr in den Tempel und ließ Anaander Mianaai auf dem Platz stehen.
Die Priesterinnen standen in der Nähe des Podiums und beobachten, wie wir näher kamen. »Göttliche«, sagte Leutnantin Awn.
»Leutnantin«, sagte die Oberpriesterin.
»Ein gewaltbereiter Mob ist von der Unterstadt hierher unterwegs. Ich schätze, dass uns noch fünf Minuten bleiben. Die Leute können nicht viel Schaden anrichten, solange die Sturmrollläden heruntergelassen sind. Ich würde sie gern hier hereinbringen, sie davon abhalten, etwas Unüberlegtes zu tun.«
»Sie hier hereinbringen«, wiederholte die Oberpriesterin zweifelnd.
»Sonst ist alles verdunkelt und verriegelt. Die großen Türen stehen offen, also liegt es nahe, dort hereinzukommen, und wenn die meisten drinnen sind, schließen wir die Türen, und Eins Esk umzingelt sie. Wir könnten auch einfach die Tempeltüren schließen, damit sie ihr Glück mit den Rollläden an den Häusern versuchen, aber ich möchte eigentlich nicht herausfinden, wie schwer es ist, sie aufzubrechen. Wenn«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie Anaander Mianaai mit langsamen Schritten in den Tempel kam, als wäre überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen, »meine Herrin erlaubt.«
Die Herrin der Radch gab mit einer stummen Geste ihre Zustimmung.
Der Oberpriesterin hatte der Vorschlag offensichtlich nicht gefallen, aber auch sie stimmte zu. Inzwischen sahen meine Segmente auf dem Platz Handlampen, die sporadisch in den nächstgelegenen Straßen der Unterstadt aufleuchteten.
Nach wenigen Augenblicken hatte Leutnantin Awn mich hinter den großen Tempeltüren postiert, wo ich mich bereithielt, sie auf ihr Zeichen zu schließen, und ein paar von mir auf die Straßen rund um den Platz abkommandiert, um mitzuhelfen, die Tanmind zum Tempel zu treiben. Der Rest von mir stand in den Schatten an den Innenwänden des Tempels, und die Priesterinnen wandten sich wieder ihren Gebeten zu, mit dem Rücken zum weiten und einladenden Eingang.
Mehr als einhundert Tanmind kamen von der Unterstadt. Die meisten taten genau das, was wir wünschten, und strömten als wirbelnde, rufende Menge in den Tempel, bis auf dreiundzwanzig, von denen ein Dutzend in eine dunkle, leere Chaussee abbog. Die übrigen elf, die sich bereits zuvor hinter der größeren Gruppe gehalten hatten, sahen, wie ein Segment von mir still in der Nähe dastand, und überlegten es sich noch einmal. Sie hielten an, berieten sich murmelnd, beobachteten die Menge der Tanmind, die in den Tempel eilte, und die anderen, die laut rufend die Straße hinunterrannten. Sie beobachteten, wie ich die Tempeltüren schloss. Die dort postierten Segmente waren nicht uniformiert, sondern nur mit dem Silber meiner selbsterzeugten Rüstung bekleidet, und vielleicht erinnerte sie das alles an die Annexion. Mehrere von ihnen fluchten, dann kehrten sie um und rannten zurück zur Unterstadt.
Dreiundachtzig Tanmind waren in den Tempel gestürmt, wo ihre wütenden Stimmen verstärkt widerhallten. Beim Geräusch der zuschlagenden Türen drehten sie sich um und versuchen, den Weg zurückzustürmen, den sie gekommen waren, aber ich hatte sie umzingelt, meine Waffen gezogen und auf jene gerichtet, die den jeweiligen Segmenten am nächsten waren.
»Bürgerinnen!«, rief Leutnantin Awn, aber sie kannte den Trick nicht, wie man sich einer Menge verständlich machte.
»Bürgerinnen!«, riefen die verschiedenen Segmente von mir. Meine Stimmen hallten wider und verklangen. Im Getümmel der Tanmind sah ich auch Jen Shinnan und Jen Taa sowie ein paar andere, von denen ich wusste, dass es sich um deren Freundinnen oder Verwandte handelte. Sie versuchten nun, die Leute in ihrer Nähe zu beruhigen, machten ihnen klar, dass die Herrin der Radch persönlich anwesend war und dass sie direkt zu ihr sprechen konnten.
»Bürgerinnen!«, rief Leutnantin Awn erneut. »Haben Sie den Verstand verloren? Was tun Sie hier?«
»Mord!«, rief Jen Shinnan, die in vorderster Reihe der Menge stand. Sie rief über meinen Kopf hinweg zu Leutnantin Awn, die hinter mir stand, neben der Herrin der Radch und der Göttlichen. Die Juniorpriesterinnen hatten sich zusammengedrängt, anscheinend vor Schreck erstarrt. Die aufgebrachten Stimmen der Tanmind, die Jen Shinnan unterstützten, hallten im Tempel wider. »Von Ihnen können wir keine Gerechtigkeit erwarten, also werden wir die Sache selbst in die Hand nehmen!«, rief Jen Shinnan. Das Murren der Menge rollte an den Steinwänden des Tempels entlang.
»Erklären Sie sich, Bürgerin«, sagte Anaander Mianaai mit tönender Stimme, um sich gegen den Lärm durchzusetzen.
Fünf Sekunden lang brachten sich die Tanmind zischend gegenseitig zum Schweigen, dann sagte Jen Shinnan: »Herrin.« Ihr respektvoller Tonfall klang beinahe aufrichtig. »Während der letzten Woche hat meine junge Nichte in meinem Haus gewohnt. Sie wurde von Orsai schikaniert und bedroht, als sie in die Unterstadt ging, was ich Leutnantin Awn meldete, doch es wurde nichts unternommen. An diesem Abend fand ich ihr Zimmer leer vor, das Fenster zerbrochen, überall Blut! Was soll ich daraus schlussfolgern? Die Orsai haben schon immer etwas gegen uns gehabt! Jetzt wollen sie uns alle töten. Wen wundert es, wenn wir uns verteidigen wollen?«
Anaander Mianaai wandte sich an Leutnantin Awn. »Wurde dieser Vorfall gemeldet?«
»Ja, Herrin«, sagte Leutnantin Awn. »Ich habe Ermittlungen angestellt und erfahren, dass die fragliche junge Person niemals das Blickfeld von Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren verlassen hat, die berichtete, dass sie viel Zeit ganz allein in der Unterstadt verbracht hat. Die einzigen Worte, die zwischen ihr und anderen Personen ausgetauscht wurden, galten gewöhnlichen geschäftlichen Transaktionen. Sie wurde zu keiner Zeit schikaniert oder bedroht.«
»Sehen Sie!«, rief Jen Shinnan. »Sehen Sie, warum wir gezwungen sind, die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen!«
»Und was veranlasst Sie zu der Annahme, dass Ihnen allen Lebensgefahr droht?«, fragte Anaander Mianaai.
»Herrin«, sagte Jen Shinnan. »Leutnantin Awn möchte vor Ihnen den Eindruck erwecken, dass alle in der Unterstadt loyal und gesetzestreu sind, aber wir wissen aus Erfahrung, dass die Orsai alles andere als der Inbegriff der Tugend sind. Die Fischer fahren nachts aufs Wasser hinaus, um nicht gesehen zu werden. Quellen …« Sie zögerte einen kurzen Moment, aber ich konnte nicht sagen, ob es an der Waffe lag, die genau auf sie gerichtet war, oder an Anaander Mianaais Leidenschaftslosigkeit oder an etwas ganz anderem. Aber mir schien, dass irgendetwas sie amüsiert hatte. Dann hatte sie die Fassung wiedererlangt. »Quellen, die ich lieber nicht namentlich nennen möchte, haben beobachtet, wie mit Booten aus der Unterstadt Waffen im See deponiert wurden. Wozu sollten sie dienen, außer um endlich Rache an uns zu nehmen, weil sie glauben, wir hätten sie schlecht behandelt? Und wie konnten diese Waffen ohne Absprache mit Leutnantin Awn hierhergelangen?«
Anaander Mianaai wandte Leutnantin Awn das dunkle Gesicht zu und zog eine ergraute Augenbraue hoch. »Haben Sie darauf eine Antwort, Leutnantin Awn?«
Etwas an dieser Frage oder an der Art, wie sie gestellt wurde, versetzte alle Segmente, die sie hörten, in Unruhe. Und Jen Shinnan lächelte sogar. Sie hatte erwartet, dass die Herrin der Radch sich gegen Leutnantin Awn wenden würde, und war nun sehr zufrieden.
»Ich habe in der Tat eine Antwort, Herrin«, sagte Leutnantin Awn. »Vor einigen Nächten meldete mir eine einheimische Fischerin, sie hätte ein Waffendepot im See gefunden. Ich barg das Depot und brachte es in mein Haus, und nach einiger Suche fand ich zwei weitere Depots, die ich ebenfalls sicherstellte. Ich hatte die Absicht, am heutigen Abend weiterzusuchen, aber wie Sie sehen, haben die jüngsten Ereignisse mich daran gehindert. Mein Bericht ist geschrieben, aber noch nicht abgeschickt, weil auch ich mich gefragt habe, wie diese Waffen ohne mein Wissen hierhergelangt sein könnten.«
Vielleicht lag es nur an Jen Shinnans Lächeln und den eigentümlich anklagenden Fragen von Anaander Mianaai — und an der früheren Kränkung auf dem Tempelplatz —, aber in der aufgeladenen Luft des Tempels klangen Leutnantin Awns Worte wie eine Anklage.
»Außerdem habe ich mich gefragt«, fuhr Leutnantin Awn fort, als es nach den Echos wieder still geworden war, »warum die fragliche junge Person fälschlicherweise Bewohnerinnen der Unterstadt vorgeworfen hat, sie schikaniert zu haben, obwohl sie es ganz gewiss nicht getan haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand aus der Unterstadt ihr etwas angetan hat.«
»Aber jemand hat es getan!«, rief eine Stimme aus der Menge, und zustimmendes Gemurmel setzte ein, wurde lauter und hallte durch den großen Raum.
»Wann haben Sie Ihre Cousine zuletzt gesehen?«, fragte Leutnantin Awn.
»Vor drei Stunden«, antwortete Jen Shinnan. »Sie sagte uns gute Nacht und ging auf ihr Zimmer.«
Leutnantin Awn sprach das Segment von mir an, das ihr am nächsten war. »Eins Esk, ist während der letzten drei Stunden irgendjemand von der Unter- in die Oberstadt gegangen?«
Das Segment, das ihr antwortete — Dreizehn —, wusste, dass ich sehr vorsichtig sein musste, weil zwangsläufig jede die Antwort hören konnte. »Nein. Niemand ist in die eine oder andere Richtung gegangen. Allerdings kann ich über die vergangenen fünfzehn Minuten keine sicheren Angaben mehr machen.«
»Es könnten früher welche gekommen sein«, gab Jen Shinnan zu bedenken.
»In diesem Fall«, erwiderte Leutnantin Awn, »befinden sie sich immer noch in der Oberstadt. Also sollten Sie dort nach ihnen suchen.«
»Die Waffen …«, setzte Jen Shinnan an.
»Stellen keine Gefahr für Sie dar. Sie sind unter dem Obergeschoss meines Hauses eingeschlossen, und Eins Esk hat inzwischen die meisten funktionsunfähig gemacht.«
Jen Shinnan warf einen seltsamen flehenden Blick zu Anaander Mianaai, die den Wortwechsel schweigend und leidenschaftslos verfolgt hatte. »Aber …«
»Leutnantin Awn«, sagte die Herrin der Radch. »Auf ein Wort.« Auf ihren Wink ging Leutnantin Awn mit ihr zu einer fünfzehn Meter entfernten Stelle. Eins meiner Segmente folgte ihnen, was Mianaai ignorierte. »Leutnantin«, sagte sie leise. »Erzählen Sie mir, was Ihrer Meinung nach hier vorgeht.«
Leutnantin Awn schluckte, nahm einen tiefen Atemzug. »Herrin. Ich bin mir sicher, dass niemand aus der Unterstadt der fraglichen jungen Person etwas angetan hat. Ebenso bin ich davon überzeugt, dass die Waffendepots nicht von Bewohnerinnen der Unterstadt angelegt wurden. Und es handelt sich ausschließlich um Waffen, die während der Annexion konfisziert wurden. Die Sache kann ihren Ursprung nur auf einer sehr hohen Ebene haben. Das war der Grund, warum ich den Bericht nicht abgeschickt habe. Ich hatte gehofft, nach Ihrer Ankunft direkt mit Ihnen darüber sprechen zu können, aber bislang hatte ich keine Gelegenheit dazu erhalten.«
»Sie befürchteten, wenn Sie es auf dem regulären Kanal melden, könnten die Verantwortlichen bemerken, dass man ihnen auf die Spur gekommen ist, um daraufhin Beweise zu vertuschen.«
»Ja, Herrin. Als ich hörte, dass Sie kommen, Herrin, fasste ich den Entschluss, sofort mit Ihnen darüber zu reden.«
»Gerechtigkeit der Torren.« Die Herrin der Radch sprach mein Segment an, ohne mich anzusehen. »Ist das wahr?«
»Absolut, Herrin«, antwortete ich. Die Priesterinnen drängten sich immer noch zusammen, und die Oberpriesterin stand ein Stück von ihnen entfernt. Sie beobachtete die Unterhaltung zwischen Leutnantin Awn und der Herrin der Radch mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte.
»Also«, sagte Anaander Mianaai. »Wie schätzen Sie diese Situation ein?«
Leutnantin Awn blinzelte verblüfft. »Es … es sieht für mich sehr danach aus, dass Jen Shinnan etwas mit den Waffen zu tun hat. Wie hätte sie sonst von ihrer Existenz wissen können?«
»Und diese ermordete junge Person?«
»Falls sie wirklich ermordet wurde, hat es niemand aus der Unterstadt getan. Sie könnten sie selbst getötet haben, um sich einen Vorwand zu verschaffen …« Leutnantin Awn verstummte entsetzt.
»Einen Vorwand, um in die Unterstadt zu kommen und unschuldige Bürgerinnen in ihren Betten zu ermorden. Um dann mit der Existenz der Waffendepots ihre Behauptung zu unterstützen, sie hätten es nur in Selbstverteidigung getan, weil Sie sich geweigert haben, Ihrer Pflicht nachzukommen und sie zu beschützen.« Sie warf einen Blick zu den Tanmind, die von meinen immer noch bewaffneten und mit silbernen Rüstungen ausgestatteten Segmenten umringt wurden. »Gut. Mit den Einzelheiten können wir uns später beschäftigen. Jetzt müssen wir uns um diese Leute kümmern.«
»Herrin«, bestätigte Leutnantin Awn mit einer leichten Verbeugung.
»Erschießen Sie sie.«
Für Nicht-Bürgerinnen, die Radchaai nur aus melodramatischen Unterhaltungsprogrammen kennen, die nichts über die Radch wissen außer Hilfseinheiten und Annexionen und was sie für Gehirnwäsche halten, mag ein solcher Befehl erschreckend klingen, aber nicht überraschend. Doch die Vorstellung, Bürgerinnen zu erschießen, war in der Tat äußerst schockierend und erschütternd. Schließlich sollte der Sinn der Zivilisation doch das Wohlergehen der Bürgerinnen sein. Und diese Leute waren nun Bürgerinnen.
Leutnantin Awn erstarrte für zwei Sekunden. »Herrin?«
Anaander Mianaais Stimme, die leidenschaftslos, vielleicht ein wenig streng gewesen war, wurde kalt und ernst. »Verweigern Sie einen Befehl, Leutnantin?«
»Nein, Herrin, nur … es sind Bürgerinnen. Und wir befinden uns in einem Tempel. Und wir haben sie unter Kontrolle. Ich habe Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren zur nächsten Division geschickt, um Verstärkung anzufordern. Sieben Issa der Gerechtigkeit der Ennte müsste in ein oder vielleicht zwei Stunden hier sein. Dann können wir die Tanmind verhaften und sie sehr leicht zur Umerziehung abkommandieren, da Sie selbst anwesend sind.«
»Verweigern Sie«, fragte Anaander Mianaai langsam und deutlich, »einen Befehl?«
Jen Shinnans Belustigung, ihre Bereitschaft, ihr Bestreben, mit der Herrin der Radch zu sprechen, passte für mein zuhörendes Segment plötzlich zusammen. Eine Person, die sehr weit oben stand, hatte diese Waffen zur Verfügung gestellt, hatte die Möglichkeit, die Kommunikation zu unterbrechen. Niemand stand höher als Anaander Mianaai. Aber es ergab keinen Sinn. Jen Shinnans Motive waren offensichtlich, aber wie konnte die Herrin der Radch davon profitieren?
Vermutlich hatte Leutnantin Awn ähnliche Gedanken. Ich konnte ihre Verzweiflung an der Anspannung ihres Unterkiefers erkennen, an der steifen Haltung der Schultern. Trotzdem kam es mir unwirklich vor, weil ich lediglich die äußeren Anzeichen sehen konnte. »Ich werde keinen Befehl verweigern, Herrin«, sagte sie nach fünf Sekunden. »Aber darf ich dagegen protestieren?«
»Ich glaube, das haben Sie bereits getan«, sagte Anaander Mianaai kalt. »Und jetzt erschießen Sie sie.«
Leutnantin Awn drehte sich um. Mir schien, sie zitterte ein klein wenig, als sie auf die umzingelten Tanmind zuging.
»Gerechtigkeit der Torren«, sagte Mianaai, und das Segment von mir, das Leutnantin Awn folgen wollte, hielt inne. »Wann habe ich dich das letzte Mal besucht?«
Ich erinnerte mich sehr deutlich an das letzte Mal, als die Herrin der Radch an Bord der Gerechtigkeit der Torren gegangen war. Es war ein ungewöhnlicher Besuch gewesen — unangekündigt, vier ältere Körper ohne Gefolge. Sie war die meiste Zeit in ihrem Quartier geblieben, um mit mir zu reden — mir, der Gerechtigkeit der Torren, nicht mir, Eins Esk —, aber sie hatte Eins Esk gebeten, für sie zu singen. Ich hatte mit einem valskaayanischen Stück gehorcht. Es lag vierundneunzig Jahre, zwei Monate, zwei Wochen und sechs Tage zurück, kurz nach der Annexion von Valskaay. Ich öffnete den Mund, um es zu sagen, aber stattdessen hörte ich mich selbst antworten: »Vor zweihundertdrei Jahren, vier Monaten, einer Woche und einem Tag, Herrin.«
»Hmm«, machte Anaander Mianaai, aber mehr sagte sie nicht dazu.
Leutnantin Awn kam auf mich zu, wo ich die Tanmind umringte. Dort blieb sie stehen, hinter einem Segment, dreieinhalb Sekunden lang, und sagte nichts.
Ihre Verzweiflung musste für mehr als nur mich offensichtlich sein. Jen Shinnan, die sie dort schweigend und unglücklich stehen sah, lächelte. Fast triumphierend. »Nun?«
»Eins Esk«, sagte Leutnantin Awn, und ihr war deutlich anzuhören, dass sie sich vor dem Ende des begonnenen Satzes fürchtete. Jen Shinnans Lächeln wurde noch ein wenig breiter. Zweifellos erwartete sie, dass Leutnantin Awn die Tanmind nach Hause schickte. Sie erwartete, dass Leutnantin Awn schließlich abgesetzt und der Einfluss der Unterstadt geschwächt wurde. »Ich will das nicht tun«, sagte Leutnantin Awn leise zu ihr, »aber ich habe einen direkten Befehl erhalten.« Sie hob die Stimme. »Eins Esk. Erschießen Sie diese Leute.«
Jen Shinnans Lächeln verschwand, wich dem Ausdruck des Entsetzens und vermutlich der Verbitterung, und sie blickte offen und direkt zu Anaander Mianaai. Die leidenschaftslos dastand. Die anderen Tanmind schrien laut protestierend und vor Angst.
Alle meine Segmente zögerten. Der Befehl ergab keinen Sinn. Was auch immer sie getan hatten, sie waren Bürgerinnen, und ich hatte sie unter Kontrolle. Doch Leutnantin Awn sagte laut und schroff: »Feuer frei!« Und ich feuerte. Innerhalb von drei Sekunden waren alle Tanmind tot.
Keine von denen, die sich in diesem Moment im Tempel aufhielten, war jung genug, um von diesem Ereignis überrascht zu werden, auch wenn die etlichen Jahre, seit ich jemanden exekutiert hatte, der Erinnerung vielleicht eine gewisse Distanz verliehen, vielleicht sogar eine gewisse Zuversicht zur Folge hatten, dass der Bürgerinnenstatus das Ende solcher Zwischenfälle bedeutete. Die Juniorpriesterinnen standen dort, wo sie von Anfang an gestanden hatten, ohne sich zu rühren, ohne etwas zu sagen. Die Oberpriesterin weinte offen und lautlos.
»Ich glaube«, sagte Anaander Mianaai in die gewaltige Stille, die uns umgab, nachdem das Echo der Schüsse verklungen war, »hier wird es keine Schwierigkeiten mit den Tanmind mehr geben.«
Leutnantin Awns Mund und Kehle zuckten leicht, als wollte sie sprechen, was sie jedoch nicht tat. Stattdessen ging sie los, um die Leichen herum, tippte im Vorbeigehen vier meiner Segmente auf die Schulter und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Ich erkannte, dass sie einfach nicht imstande war, etwas zu sagen. Oder sie fürchtete sich vor dem, was aus ihrem Mund kommen würde, wenn sie es versuchte. Es war frustrierend, nur visuelle Daten von ihr zu bekommen.
»Wohin gehen Sie, Leutnantin?«, fragte die Herrin der Radch.
Leutnantin Awn hatte Mianaai den Rücken zugekehrt und öffnete den Mund, um ihn wieder zu schließen. Dann schloss sie die Augen und holte tief Luft. »Mit Erlaubnis meiner Herrin möchte ich herausfinden, was die Kommunikation stört.« Anaander Mianaai antwortete nicht, und Leutnantin Awn wandte sich meinem nächsten Segment zu.
»Zu Jen Shinnans Haus«, sagte das Segment, da es klar war, dass Leutnantin Awn immer noch unter großem emotionalem Stress stand. »Ich werde dort auch nach der jungen Person suchen.«
Kurz vor Sonnenaufgang fand ich dort das Gerät. In dem Augenblick, als ich es deaktivierte, war ich wieder ich selbst — minus ein fehlendes Segment. Ich sah die stillen, schwach erhellten Straßen der Ober- und Unterstadt, den Tempel, der leer war, bis auf mich und dreiundachtzig stumme, starrende Leichen. Leutnantin Awns Kummer und Verzweiflung und Scham waren auf einmal deutlich sichtbar, worauf ich mit kollektiver Erleichterung und Unbehagen reagierte. Und ein kurzer Willensimpuls führte dazu, dass die Trackersignale aller Personen in Ors in meinem Sichtfeld zum Leben erwachten, einschließlich jener, die gestorben waren und immer noch im Tempel der Ikkt lagen. Außerdem mein fehlendes Segment in einer Straße der Oberstadt, mit gebrochenem Genick, und Jen Shinnans Nichte — im Schlamm am Grund des nördlichen Randes des Vortempelteichs.