Die Botschaft von Gedemondas, Zone

Sie gingen durch den Korridor, kämpften gegen das Gedränge an und versuchten den richtigen Ort zu finden. Die Menschenmassen waren schier unfaßbar groß, nicht nur für Asam, der sich nie richtig ein Bild davon hatte machen können, was vorging, sondern auch für Mavra. Die Wirklichkeit hatte jegliche Phantasie weit überflügelt.

Viel größer als die Menschen, die durch den Korridor fluteten, mußten sie sich trotzdem beinahe mit Gewalt einen Weg bahnen. Mavra betrachtete die Leute, als entstammten sie einer unbekannten Art. Wie klein, winzig und schwach sie wirken, dachte sie.

Die Neuzugänge ihrerseits, durch den Schacht noch nicht gegangen, starrten mit einem Gemisch von Staunen und Angst auf die riesigen Zentauren, die ihnen gleichzeitig durch ihre Bekanntschaft mit den Rhone vertraut und doch auch fremdartig waren.

Als es besonders eng wurde, blieb Mavra plötzlich stehen. Asam blickte zu ihr hinüber und schrie über den Lärm hinweg:»Was ist denn?«

»Ich dachte nur, ich übersehe vielleicht etwas«, schrie sie zurück. Sie konzentrierte sich stark und versuchte den einfachen Gedanken in eine Form zu bringen, die diese Massen verstehen konnten. Sonderbarerweise dachte sie immer noch in der Kom-Sprache, aber was sie jetzt dachte, ging durch irgendeinen Filter ihres Gehirns und kam auf dillianisch heraus. Das Gegenteil traf zu, wenn sie dillianisch sprechen hörte, obwohl sie, wie der Gedemondaner gezeigt hatte, auch artikulierte Kom-Sprache verstehen konnte. So vermochte sie die Worte in diesem Stimmengewirr zu verstehen, mußte sich aber anstrengen, um die automatische Übersetzung zu bewirken. Die Wirkung war jedoch die, daß sie endlich anfing, in der einheimischen Sprache zu denken, und sie sich zwang, die Kom-Worte auszusprechen statt der dillianischen.

»Ich bin Mavra Tschang!« rief sie laut. »Erinnert ihr euch an mich?«

Einige Frauen m ihrer Nähe hörten es und begannen den Namen zu wiederholen, der durch die ganze Menge ging. Sie fing an, sich hindurchzuzwängen und schrie in Abständen»Mavra Tschang«, in beiden Sprachen abwechselnd. Obwohl ihre Aussprache mit starkem Akzent erfolgte, schien man sie zu verstehen.

Es mochte ein Fehler gewesen sein, und oft kamen sie noch schwerer voran, weil die Menschen, als sie den Namen hörten, Fragen schrien oder sie einfach berühren und sich vergewissern wollten, daß sie es wirklich war. Immerhin erreichten sie ihr Ziel, die sechseckige Tür öffnete sich, fiel hinter ihnen wieder zu und schnitt den Lärm ab. Die plötzliche Stille war beinahe ohrenbetäubend.

Asam seufzte erleichtert.

»Hm!! Das wird grauenhaft, hier wieder wegzukommen. Sind Sie sicher, daß Sie das vorhin richtig gemacht haben?«

»Ich würde das am liebsten bei allen tun«, erwiderte sie ohne Zögern. »Es wäre viel einfacher, wenn alle wüßten, daß ich eine Dillianerin bin und wo sie mich finden können. Aber das wird sich überall verbreiten.«

»Mag sein«, sagte er zweifelnd. »Und viel kann es wohl nicht schaden. Schließlich wissen wir ja, daß der Gegner keinen Zweifel hat, wohin er sich wenden muß.«

Sie schauten sich in dem Raum um, der völlig nackt war; glatte Wände mit runden Ecken, glatter Boden, nichts sonst.

Asam blickte zur Tür.

»Ich dachte, sie geht nur auf, wenn ein Mitglied der Rasse, um deren Botschaft es sich handelt, das wünscht«, meinte er. »So geht das bei uns.«

»Ich glaube, wir werden erwartet«, gab sie zurück.

»Die Gedemondaner?« Er sah sie vorwurfsvoll an. »Verdammt, ich begreife immer noch nicht, wie wir hergekommen sind. Von dem Augenblick an, in dem ich vor Erschöpfung in der Hütte einschlief, kann ich mich an nichts mehr erinnern. Verdammt noch mal, das war nicht fair, Mavra!«

Sie zog die Schultern hoch.

»Was sollte ich tun? Sie haben die Herrschaft über dich, nicht umgekehrt. Um ganz ehrlich zu sein, ich erinnere mich auch nicht an viel, bis wir an ihrem Tor standen. Das ist etwas ganz Nebelhaftes, Unklares. Sie besitzen wirklich erstaunliche geistige Kräfte, Asam. Ich weiß, daß wir beide um Informationen erleichtert worden sind, aber ich erinnere mich, daß ich mit einem von ihnen gesprochen habe.«

Er murrte vor sich hin, dann seufzte er.

»Sie haben also nichts Festes, wie? Deshalb stehen wir hier in dieser verlassenen Botschaft?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, das waren nicht die Gedemondaner. Jemand anders hat eine Versammlung einberufen, und sie wußten davon — wie, weiß ich nicht. Jemand hat diese Botschaft ausgesucht, weil man wußte, daß sie leersteht.«

Er schaute sich düster um.

»Sieht nicht so aus, als hätte das Fest schon begonnen«, erklärte er.

»Dann warten wir«, gab sie zurück. Sie ging zu ihm, legte einen Arm um seine humanoide Taille und drückte ihn an sich. »Es gibt ein paar sehr angenehme Methoden, sich die Zeit zu vertreiben, nicht, und hier ist es ja wirklich ganz leer.«

Er wirkte überrascht, aber erfreut.


* * *

Marquoz hatte trotz seiner enormen Größe kaum Schwierigkeiten, durch das Gedränge voranzukommen. Bei seinen langen, spitzen Krallen und dem gepanzerten Stachelschwanz beeilten die Leute sich, ihm den Weg freizumachen; sogar auch die Sechseck-Welt-Wachen, die den Andrang zu bewältigen hatten.

Marquoz genoß das Machtgefühl; die Hakazit waren in der Tat groß und furchterregend. Vorher hatten die Menschen ihn für niedlich und exotisch gehalten, für ein ausgefallenes Haustier, und er hatte Feuer speien müssen, um sich bei ihnen durchzusetzen. Nun waren sie vor ihm buchstäblich entsetzt, was ihm sehr gefiel.

Die Tür ging auf, als er sie erreichte — hübscher Einfall, dachte er —, und er betrat das leere Büro.

»Hoppla! Verzeihung!« murmelte er und blieb wie angewurzelt stehen. »Ich störe offenbar.«

Die beiden Dillianer hörten auf und drehten die Köpfe, aufgeschreckt, aber nicht im geringsten verlegen.

Der weibliche Zentaur atmete tief ein, bewegte den Körper, schüttelte ein wenig den Kopf, um klarzuwerden, dann drehte sie sich um und starrte ihn an.

Marquoz kam zu dem Schluß, daß nicht viel anderes übrigblieb, starrte auch. Schließlich sagte er:»Ich könnte jetzt eine gute Zigarre vertragen.«

»Ich auch«, meinte Asam, »aber aus anderen Gründen. Die meinen habe ich leider irgendwo in Gedemondas verloren.«

»Sie denken, das wäre was«, knurrte der Hakazit. »So, wie der verdammte Körper da gebaut ist, kann ich gar nicht mehr richtig einsaugen. Elend.«

Art und Tonfall erschienen ihr auf faszinierende Weise vertraut.

»Marquoz?« sagte sie zögernd. »Sind das wirklich Sie, Marquoz?«

»Zu Ihren Diensten, meine Dame«, erwiderte er und beugte das Knie ein wenig.

»Ich bin Mavra, Marquoz. Mavra Tschang.«

Er lachte in sich hinein.

»So, so, so. Sie haben sich nicht viel verändert, seitdem ich Sie zuletzt gesehen habe. Die Farbe gewechselt, aber das ist es auch schon.«

Asam starrte sie fassungslos an.

»Du bist früher schon Dillianerin gewesen?«

»Eine Zeitlang«, gab sie zurück. »Nicht auf natürliche Weise. Lange Geschichte.« Sie wandte sich wieder Marquoz zu.

»Das ist Asam. Ein Einheimischer — auf unserer Seite.«

»Jedenfalls auf der Ihren, vom Rücken zu schweigen«, antwortete der Hakazit. »Na, wenigstens kommt es mir so vor, als hätte ich die Nachricht richtig verstanden. Wer hat die Einladungen verschickt?«

»Da wissen Sie soviel wie ich«, erklärte sie. »Ich bekam die meine aus zweiter Hand durch die Gedemondaner. Und Sie?«

»Ein Bote. Er gab sie bei der Botschaft zur Übermittlung nach Hause ab. Viel mehr war nicht bekannt. Der Botschafter sagte nur, es sei ein Typ 41 gewesen, der sie gebracht habe. Ich nahm an, daß es Brazil war.«

»Könnte sein. Ich hoffe es«, sagte sie ohne große Begeisterung.

»Ich muß schon sagen, daß Sie für jemanden, der tot ist, sehr gut aussehen«, bemerkte der Hakazit.

Die beiden Zentauren rissen die Köpfe hoch.

»Was?«

»Im Ernst«, sagte er. »Es heißt überall, ein Trupp von kleinen Bösewichtern hätte Sie überfallen und in kleine Stücke zerhackt.«

»Versucht haben sie es«, gab Asam zurück. »Es braucht aber mehr als das, um einen von uns abzumurksen.«

»Das glaube ich«, sagte Marquoz lobend. »Na, wenigstens eine Sorge weniger.«

»Augenblick, Marquoz, wo haben Sie das gehört? Und seit wann übermittelt ein Botschafter persönliche Mitteilungen an Sie?« fragte Mavra.

Die riesige graue Kriegsmaschine zuckte ein wenig mit den Schultern.

»Sie haben eine Heidenangst vor der Geheimpolizei der Hakazit — und ich bin ihr Chef. Sie hatten nur gedacht, sie hätten eine Geheimpolizei, bis ich das Kommando übernahm. Meine Ausflüge auf manche von diesen Kom-Welten sind nicht nutzlos gewesen. Mann, ich bin der erste GP-Chef, der den Mumm hat, sich in die Öffentlichkeit zu wagen.«

Sie schüttelte staunend den Kopf und murmelte fast unhörbar:»Ich werde nicht fragen. Ich werde nicht fragen

»Das erklärt, warum wir uns unterhalten können«, warf Asam ein, um sie zu retten. »Sie haben einen Übersetzer-Kristall.«

Er nickte.

»Das erste, was ich machen ließ, nachdem ich das Sagen hatte. Mavra wohl nicht, wie?«

Wenn man sich einen der kleinen Kristalle, die von einem Hex im Norden hergestellt wurden, chirurgisch einpflanzen ließ, war manchmal schwer zu erkennen, daß das bei anderen nicht der Fall war, falls man nicht genau hinsah und noch schärfer hinhörte.

Sie nickte.

»Ich werde aber einen brauchen, und zwar bald.«

»Lassen Sie das in Dillia machen«, riet er. »Diese Dinger sollten von Leuten eingesetzt werden, die Gehirn und Nervensystem des Betroffenen genau kennen. Sagen Sie, die Kosten übernimmt Hakazit.«

Asam lachte.

»Das erledige ich. Ich wollte das selbst bezahlen, aber vielen Dank, daß ich mir das Geld sparen kann.«

Da das Angebot sehr begrenzt war, kosteten die Geräte mehr, als sich die meisten Leute, abgesehen von hohen Beamten, jemals leisten konnten, und die Operationen waren noch teurer.

Marquoz zog die Schultern hoch.

»Gebe immer gern Geld aus, solange es nicht das meine ist.«

Er schien es ernst zu meinen.

Sie wollten fortfahren, sich zu unterhalten, als die Tür wieder aufging und ein seltsames kleines Wesen mit grauem Pelz hereinkam. Es schaute sich zweifelnd um.

»Sagen Sie uns Ihren Namen, und Sie erfahren, ob Sie am richtigen Ort sind«, erklärte Mavra.

Das Wesen richtete sich auf, so daß dicke Hautfalten erkennbar wurden, die alle Gliedmaßen miteinander verbanden, und setzte sich leicht auf den Fächerschwanz. Das nagetierartige Gesicht blickte sie unsicher an und schnatterte etwas, das wie Glucksen und Klicken tief in der Kehle klang.

Die beiden anderen schienen sofort zu verstehen, und Maquoz antwortete mit:»So, so, so… Willkommen im Klub, Yua.«

»Auch kein Übersetzer«, erklärte Mavra den beiden anderen. Marquoz seufzte nur und sagte:»Also wieder Unkosten für die Regierung von Hakazit. Na ja, es wird aber jede Art von Gipfelgespräch komplizierter machen.«

»Da scheint ja der ganze Verein versammelt zu sein«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie fuhren herum. In einer Ecke des Raumes, ohne Ein- und Ausgang, von der sie geschworen hätten, daß sie leer gewesen war, stand…

»Zigeuner!« brüllte Marquoz und ging auf ihn zu.

Zigeuner hob die Hände.

»Langsam, Marquoz! Du könntest mir bei der Begrüßung leicht das Genick brechen!«

Die riesige Kampfechse brüllte vor Lachen, zögerte aber, näher heranzukommen. Schließlich sagte Marquoz:»Ich hatte fast angenommen, du hättest es nicht geschafft. Du bist am anderen Ende nicht aufgetaucht.«

Zigeuner hob die Schultern.

»Ich bin hier, und das ist alles, was zählt. Und ich habe diese Versammlung einberufen, wie auch eine Reihe von anderen.« Er verstummte, als er ihre Überraschung sah. »Ihr habt doch nicht geglaubt, daß ihr schon alles seid? Es gilt allerhand auf den Weg zu bringen. Aber ihr seid alle von entscheidender Wichtigkeit, besonders, nachdem ihr euren ersten Auftritt überlebt und euch eingerichtet habt.« Er grinste Marquoz an. »Vor allem du. Du mußt mir später einmal erzählen, wie du das gemacht hast. Aber nicht jetzt«, fügte er hastig hinzu, als er sah, daß Marquoz danach dürstete, gleich loszulegen.

»Sie haben sich so sehr verändert wie wir«, stellte Mavra fest. »Sie sehen zwar aus wie früher, ganz anders als wir, aber Ihre ganze Art, Ihr Gebaren hat sich verändert. Sogar beim Sprechen sind Sie besser zu verstehen. Ich nehme an, daß ist Kom-Sprache, die Sie gebrauchen?«

Er nickte, dann zog er eine Zigarette heraus und zündete sie sich an. Da diese besondere Form von Tabak auf der Sechseck-Welt unbekannt war, fragten sich die anderen, wo er sie auf die Dauer hernahm.

»Macht es euch bequem, dann komme ich sofort zur Sache«, erklärte der rätselhafte Mann und zeigte auf den Boden. »Die Dillianer und Marquoz können auf mich herabblicken. Ich setze mich hin.« Damit ließ er sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden nieder und schnippte lässig die Asche weg. »Als allererstes treffen wir uns hier in der Botschaft von Gedemondas einfach deshalb, weil das diejenige war, um die Ortega sich nicht besonders gekümmert hat«, fuhr er fort, als die anderen näher herankamen. »Er hat trotzdem eine Abhöranlage eingerichtet — fragt mich nicht, wie —, doch zwei gute Techniker aus Shamozan, die Geld dafür bekamen, und ich suchten alles ab und machten sie betriebsunfähig. Ich bin sicher, daß wir hier nicht belauscht werden, obwohl die Shammos auf der anderen Seite stehen. Ich habe das für alle Fälle noch von eigenen Leuten überprüfen lassen.«

»Was soll das alles, Zigeuner?« fragte Marquoz. »Ich habe immer gewußt, daß an dir etwas Merkwürdiges ist, aber ich hatte eigentlich erwartet, daß du untätig bleibst und abwartest, wie sonst auch. Du hast vom Kämpfen nie etwas gehalten.«

Er nickte.

»Richtig. Aber diesmal ist es anders. Ich will jetzt nicht alles mögliche erklären. So kann ich wirksamer handeln. Aber ihr müßt mir glauben, wenn ich sage, daß ich hier nicht nur dabei bin, weil ich gewisse Dinge tun kann, die anderen nicht möglich sind, etwa als Mittelsmann tätig zu sein, sondern auch, weil ich persönlich beteiligt bin. Es wäre für uns alle leicht, wenn ihr oder Brazil etwas von dem tun könntet, was ich kann, aber das könnt ihr nicht, und Schluß. Ich kann euch das auch nicht beibringen, und ich würde es auch nicht tun, wenn es ginge. Aber lassen wir das. Im Augenblick kommt es nur darauf an, daß ich der einzige Kurier bin, der hinter feindliche Linien gelangen kann, der einzige, der euch zu erreichen vermag, wo ihr auch seid, und der auch Verbindung zu Brazil hat.«

»Brazil!« Es war Yua, die den Namen ausrief. Sie besaß keinen Übersetzer, und ihr Sprechapparat war nicht der richtige, aber sie wußten, was sie meinte.

Zigeuner nickte.

»Ja, er ist durch. So, wie Ortega es sich ausgerechnet hat, aber zu spät. Wir haben das mit dem simpelsten Trick geschafft, den es gibt. Wir haben ihn vor allen anderen eingeschleust. Er ist schon seit über einem Monat hier.«

»Aber das ist ausgeschlossen!« entfuhr es Mavra. »Er persönlich hat uns zu der Reise hierher nach Serachnus geflogen! Er hat uns verabschiedet! Und alles Gute gewünscht! Sie sind dabeigewesen — erinnern Sie sich nicht?«

Er grinste.

»Tut mir leid, wir mußten Sie täuschen. In Wirklichkeit war er gar nicht dabei. Ich habe beide Rollen gespielt. Ja, ich weiß, daß Sie uns zusammen gesehen haben. Ein Kniff, das gebe ich zu, aber trotzdem ein Schwindel. Den anderen sehen zu lassen, was er sehen will. Ein Trick, den viele Rassen auf der Sechseck-Welt beherrschen, wie Colonel Asam bestätigen wird.«

»Ich hab’ das schon erlebt. Immerhin bin ich gerade gegen meinen Willen mehrere Tage lang in Hypnose gehalten worden.«

Asam war darüber noch immer verdrossen.

Zigeuner nickte.

»Das ist eine Abart der Methode, die ich immer benützt habe, um trotz Wachen überall ein und aus zu gehen. Aber nichts Hundertprozentiges — Obie half mir, indem er eine ganz echt aussehende Kopie von mir herstellte.«

Mavras Mund bildete ein kleines Oval.

»Jetzt fange ich an zu begreifen. Obie hatte immer viele Tricks auf Lager. Er hat eine Verdoppelung gemacht, als Sie durch die Maschine gingen, nicht? Ein zweites Abbild von Ihnen entstand, und wir dachten, das wären Sie. Währenddessen hat er Sie woanders hingebracht, vermutlich nach Olympus.«

»So ungefähr«, bestätigte er. »Brazil entfernte sich sogar noch vor den letzten Besprechungen. Ich übernahm seinen Part, maskiert wie er. Ich hätte beinahe auch noch einen dummen Fehler gemacht, als ich euch auf dem verdammten Felsbrocken absetzte. Ich wollte dauernd eine Zigarette — und Brazil rauchte Zigarren.«

»Aber warum haben Sie uns nichts davon gesagt?« fragte Yua, die ein wenig das Gefühl hatte, nicht für verläßlich gehalten worden zu sein.

Zigeuner seufzte.

»Wir wußten nicht, was für einen Empfang Sie hier erleben würden. Wir wußten nicht einmal, ob Brazil es geschafft hatte. Aber wenn er es geschafft hatte — und es gelang ihm auch —, dann hätte die Möglichkeit bestanden, daß man euch allen möglichen Hypnosen und Hirnsondierungen unterwirft oder was es da alles gibt. Wir mußten möglichst viel Zeit gewinnen, und das hieß, sich darauf verlassen zu können, daß Sie glaubten, Brazil sei noch nicht aufgetaucht, und das jedem vermittelten, der danach fragte. Es funktionierte.«

»Und als Sie — Ihr anderes Ich — in das Tor zur Sechseck-Welt traten, hörte es einfach auf, zu existieren«, meinte Mavra nachdenklich. Jetzt begann alles klarzuwerden. Solche Wesen, die nicht um ein lebendes herum aufgebaut waren, konnten nicht aufrechterhalten werden. Das war der Grund, warum die Sechseck-Welt überhaupt gebaut worden war, und warum man für die Neuerschaffung lebende Prototypen brauchte. Es erklärte nicht, wie Zigeuner, Brazil ähnelnd, hier durchgekommen war, ohne umgebracht zu werden, und auch nicht, warum er seine alte Gestalt wieder hatte. Mavra wollte gerade nachsetzen, als er ihr zuvorkam.

»Brazil will losschlagen«, erklärte er. »Er ist gut versteckt, kann ich Ihnen versichern, aber sobald er unterwegs ist, wird er zur Zielscheibe — und das wissen Ortega und die anderen. Er ist jetzt dort ein bißchen ungeduldig, wo er sich aufhält. Er hat es, offen gesagt, verdammt unbequem. Wir haben verläßliche Leute an wichtigen Stellen, und alles ist vorbereitet. Ich habe nun die Ablenkung geliefert, die es ihm ermöglichte, so weit zu kommen. Jetzt hängt es von Ihnen ab, beim Rest des Spieles so weiterzumachen.« Er griff in seine Weste und zog eine alte, zerknitterte Landkarte heraus. Es war eine Darstellung eines Teiles der südlichen Halbkugel aus der Nähe. Sie richteten ihre Blicke darauf, während er auf ein bestimmtes Hex deutete. »Das ist Glathriel. Die Wilden dort sind die Prototypen dafür, was ich und außer Asam alle von Ihnen vor dem Schacht gewesen sind — und ich noch immer bin. Marquoz, du fängst als erster an, weil Hakazit im Südwesten liegt und du den leichtesten Weg hast. Es wird nicht einfach sein, aber abgesehen von den Ambrezaner solltest du auf keinen großen Widerstand stoßen, und sie sind nicht der Typ, der zusieht, wie ihre schöne kleine Welt zerstört wird. Unterwegs werden sich dir Verbündete anschließen. Dann gehst du den Isthmus hinauf — in Ginzin gibt es das einzige scheußliche Klima der Gegend. Wir bekommen Bescheid, wenn du durch bist. Dann stößt Ihr Heer, Mavra, das genau nach Westen unterwegs ist, dazu, und das Ihre, Yua, räumt den Weg frei, bis die Hauptstreitmacht Sie einholt. Sie ziehen weiter zur Verion-Ellerbante-Avenue und erhalten weitere Anweisungen, sobald Sie in der Gegend sind.«

Marquoz sah ihn an.

»Ich nehme an, wir haben bestimmte diplomatische Kontakte mit unseren unter der Haut wesensgleichen Brüdern? Wir werden nicht pausenlos kämpfen?«

»Das bezweifle ich«, gab Zigeuner zurück. »Wahrscheinlich überhaupt nicht, bis ihr zusammentrefft, abgesehen von ein paar störrischen und vereinzelten Widerstandsnestern. Sobald ihr euch aber in Richtung auf eine Avenue in Bewegung setzt, wird man euch alles entgegenwerfen, was verfügbar ist. Dann dürfte es haarig werden, aber wir werden auch ein paar Überraschungen auf Lager haben.«

»Immerhin bestimmen sie Zeit und Ort«, stellte Asam fest. »Wir sind ihnen gleichgültig — sie haben es auf Brazil abgesehen. Selbst wenn Brazil entkommt, wird er ein fremdes Wesen in einer völlig fremdartigen Landschaft sein, wo jeder ein Fahndungsplakat von ihm besitzt.«

»Das entspricht so ziemlich den Tatsachen«, gab Zigeuner zu:

»Nicht ganz«, sagte Mavra. »Ich glaube, ich kenne mich aus. Brazil wird nicht dabei sein. Während alle hinter uns herhetzen, wird er anderswo unterwegs sein.«

Zigeuner lächelte geheimnisvoll. »Möglich«, räumte er ein.

»Dann werdet ihr Ortega nichts vormachen können«, behauptete sie. »Er wird das nach zehn Minuten, wenn wir es versucht haben, durchschauen.«

»Vermutlich haben Sie recht«, gestand er zu. »Aber wir legen unterwegs logisch erscheinende Köder aus, die zu übersehen er sich nicht leisten kann. Falls Brazil wirklich entdeckt und bei euren Streitkräften gesehen wird — vor allem bei Ihnen, die Sie hier im Zimmer sind —, wird es keine Frage geben. Ortega weiß, wie der Schacht funktioniert. Er hat in der letzten Zeit genug falsche Brazils durchkommen sehen, um dem richtigen hier in Zone vermutlich zu erklären, er möge sich verdrücken. Aber nur so lange, bis jemand durch den Schacht geht. Dem System zufolge wird nur Brazil am anderen Ende noch wie Brazil aussehen. Niemand sonst wäre dazu imstande — und die medizinischen Techniken, die wir auf den Kom-Welten angewendet haben, sind hier nicht bekannt. Weshalb auch? Sie sind nicht nötig.«

»Wie wollen Sie zwei Brazils zustande bringen?« erkundigte sich Yua.

»Passen Sie genau auf«, sagte Zigeuner grinsend und schloß die Augen. Kurze Zeit geschah nichts, dann schien sein Körper plötzlich zu schimmern und zu wabern und ein wenig zu schrumpfen. Langsam, ganz langsam nahm Zigeuner die äußere Erscheinung von Nathan Brazil an.

»Du hast mir nie erzählt, daß du das kannst«, murrte Marquoz. »Das hätte mir eine Menge erspart, Mann.«

Die Erscheinung Nathan Brazils, jetzt verfestigt und ganz echt wirkend, zeigte ein Zigeuner-Grinsen.

»Es gibt vieles, was ich dir nicht erzählt habe, alter Freund.« Er sah sie der Reihe nach an. »Also? Glaubt ihr, daß es funktionieren wird?«

Bis auf Asam, der Brazil nie gesehen hatte, gafften sie alle die Gestalt an. Es war Brazil, vollkommen, ganz exakt, bis aufs Haar. Selbst Stimme und Tonfall waren richtig.

»Es wird klappen«, bestätigte Mavra. »Sie konnten mich überzeugen, und ich habe es gesehen.« Aber im Innersten beunruhigte sie das sehr. Obie hatte ihm trotz Zigeuners Behauptungen nicht die Fähigkeit verliehen, das zu bewirken.

Obie mochte gewußt haben, daß Zigeuner diese Fähigkeit besaß, und entsprechend geplant haben, aber Zigeuner das Talent zu verleihen, überstieg selbst Obies Möglichkeiten. Um jemand anders zu werden, nach Wunsch aufzutauchen und zu verschwinden, mußte man durch die Parabol-Antenne. Es gab nur eine mögliche Erklärung.

»Hypnose wird einen lebendigen Beobachter täuschen«, erklärte sie, »aber niemals eine Kamera.«

»Es ist keine Hypnose«, sagte der Brazil, der nicht Brazil war. »Es ist echt. Es läßt sich fotografieren, es hält sogar — angenehmer Gedanke! — einer Obduktion stand. Ich bin Zelle für Zelle Brazils genaues Abbild. Und solange ihr mich alle behandelt, als wäre ich Brazil, und solange ich darauf achten kann, mich ständig wie Brazil zu verhalten, wird es klappen. Sie werden hinter uns her sein wie die Bienen hinter dem Honig.«

Yua starrte ihn kurze Zeit an.

»Sie sind mächtiger als Brazil«, sagte sie tonlos. »Wie kann das sein?«

Zigeuner lachte ein wenig unsicher.

»Wenn das nur wahr wäre. In einem gewissen Sinn bin ich mächtiger. Aber nur in bezug auf mich selbst. Ich könnte keinen von Ihnen auf irgendeine Weise verwandeln, könnte Sie nicht hypnotisieren, nicht zwingen, irgend etwas zu tun, was Sie nicht tun wollten, außer ich rede Ihnen ein Loch in den Bauch oder etwas Ähnliches. Nein, Yua, ich habe Fähigkeiten, die Brazil in seiner jetzigen Form nicht besitzt. Sie haben sie alle, wenn Sie genau nachdenken. Aber das ist auch schon alles. Eigentlich ein Schwindel. Nur ein Trick. Merken Sie sich nur das eine: Ich kann genauso leicht getötet werden wie irgendeiner von Ihnen. Ich rechne damit, daß ich dabei umkomme. Vielleicht sterben wir alle. Aber nicht Brazil. Er kann nicht sterben. Der Schacht läßt es nicht zu.« Er schwieg einen Augenblick und überdachte seine Worte, beinahe so, als versuche er zu entscheiden, ob er überhaupt etwas sagen sollte. Schließlich erklärte er:»Hören Sie, das sind alles Vermutungen, aber ich glaube, Brazil will sterben. Ich glaube, er plant das.«

»Du hast eben gesagt, er kann nicht«, wandte Marquoz ein.

»Nicht hier. Nicht jetzt. Aber dort, im Schacht selbst, da kann er sterben. Er ist ein Wächter. Er hatte auch eine schwere Aufgabe. Er mußte vielleicht Milliarden von Jahren dabeibleiben, mußte zusehen, wie alle anderen alt wurden und starben, mußte alles erleben, was man erleben kann, und ich wette, daß er sich zu Tode langweilt. Den Archiven nach wußte er beim letztenmal, als er auf der Sechseck-Welt war, nicht einmal, daß er jemals schon hier gewesen war. Er erinnerte sich nicht. Er hatte das völlig verdrängt, zur Kompensation, in erster Linie, würden die Psycholeute wohl sagen. Er wollte vergessen und vergaß auch. Es bedurfte der Sechseck-Welt, um die Verdrängung ganz aufzuheben, und ich glaube, seitdem versucht er erneut, wieder zu vergessen.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich das aushielte«, murmelte Mavra. »Nach tausend Jahren langweile ich mich jedenfalls nicht.«

»Vielleicht bekommen Sie die Gelegenheit«, warnte Zigeuner. »Oder ein anderer von euch. Ich glaube, wenn er einmal hineingelangt und tut, was getan werden muß, hat er vor, einen anderen zu bestimmen, ihn dafür auszubilden und dann zu sterben. Ich möchte beinahe darauf wetten.«

Yua brach schließlich das lange Schweigen, das dieser Feststellung folgte, und sagte:»Das glaube ich nicht. Er könnte es nicht. Er ist Gott, der Herr.«

Zigeuner zuckte mit den Achseln.

»Dann glauben Sie es eben nicht. Aber für mein Gefühl wissen Sie, daß ein Körnchen Wahrheit darin steckt, auch wenn das von einem Amateur-Psychomann wie mir kommt. Ihr habt euch alle mit ihm befaßt, ihn kennengelernt, mit ihm gesprochen. Ich habe auch eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wen er als seine Ersatzperson ausgesucht hat.«

Mavra fing seinen Blick auf und nickte fast unmerklich. Sie erinnerte sich, daß Brazil es abgelehnt hatte, die Verantwortung für das Abschalten der Maschine zu Reparaturzwecken zu übernehmen, was bedeutete, daß alle diese Trillionen Wesen zum Untergang verurteilt waren. Er hatte darauf bestanden, daß sie ihm den Befehl dazu gab und damit die Verantwortung übernahm. Sie betrachtete das mehr und mehr als das Weitergeben einer Stafette. Aber wollte sie sie wirklich übernehmen? Sie begriff, daß sie wegen dieser Frage viele schlaflose Nächte haben würde — immer vorausgesetzt, sie erlebte das überhaupt.

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