Die Avenue, an der Äquatorbarriere

Serge Ortega hatte sein Wort gehalten. Obwohl sie an Kampfspuren und gelegentlich an Leichen vereinzelter Späher vorbeikamen, hatten sie auf dem ganzen Weg keinen Widerstand gegen sich. Ein paarmal rutschten sie auf den Geröllfeldern fast ins Wasser, aber das war an Schwierigkeiten alles gewesen.

Mavra hatte die Äquatorbarriere nur aus dem Weltraum gesehen, und sie kam ihr, als sie nun vor ihr aufragte, weniger wie eine dunkle Mauer vor, als sie es aus der Ferne zu sein schien. Teilweise durchscheinend, ragte sie empor, so weit das Auge reichte, ein gigantischer Damm am Ende des Flusses, der hier nur ein Rinnsal war. Sie bemerkte, daß die Stelle, wo die Avenue an die Mauer gelangte, völlig trocken war; offenkundig war das einzige Wasser hier jenes, das an die ungeheure Barriere gelangte und dort herabtroff.

Sie sah aus wie eine riesige, nicht spiegelnde Glasscheibe, nicht besonders dick, und erstaunlich sauber und frei von allen Verschleißerscheinungen. Nur hier, an der Mauer selbst, konnte man die eigentliche Avenue sehen — glänzend und glatt, wie die Barriere selbst. Wo sie auf die Mauer traf, gab es keine Fuge, keinen Spalt; die beiden gingen einfach ineinander über.

Es war am zweiten Tag kurz vor Dunkelwerden, aber selbst Brazil konnte nicht auf der Stelle hineingelangen. Mit Hilfe des Gedemondaners sagte er:»Wir müssen bis Mitternacht Schachtzeit warten, das sind etwas mehr als sieben Stunden nach Sonnenuntergang. Das heißt, wir setzen uns hin und warten ab.«

Mavra blickte die Schlucht hinauf.

»Ob sie wohl noch am Leben sind?« fragte sie.

»Ja«, war alles, was er darauf erwidern konnte. Er wollte es keinem verraten, am wenigsten Mavra, aber er war tief und aufrichtig berührt von dem Opfer, das diese Wesen von vielen Rassen, unter denen ihm manche jetzt viel bedeuteten, brachten. Der Krieg war eher eine Massenangelegenheit, etwas Abstraktes, und in einer Schlacht gab es viele Möglichkeiten. Man konnte siegen oder verlieren, am Leben bleiben oder sterben, aber eine Chance hatte man immer. Die anderen hatten keine, und sie wußten es, taten es aber doch, damit er hier stehen konnte.

Seine Gedanken kehrten wieder einmal zurück zur Alten Erde, ganz besonders zu Masada. Er war nicht dabeigewesen, eigentlich gar nicht sehr nahe, aber die Geschichte des ungeheuren Opfers, das diese Menschen gebracht hatten, die wundersam lange Zeit, die sie durchgehalten, und am Ende ihre völlige Hingabe an die Sache, die den Tod vorschrieb statt der Ergebung in die Tyrannei, hatte ihn in Augenblicken der Trostlosigkeit und Niedergeschlagenheit erhoben. Wenn der Mensch eine solche Flamme in sich trug, gab es Hoffnung.

Es gab wenige solche Beispiele, dachte er traurig, wenige, aber immer das eine, immer zu einer Zeit, wenn man schwören mochte, von Größe sei nichts mehr zu spüren, der menschliche Geist sei erlahmt, alles sei verloren. Dies war ein solcher Augenblick, dachte er. Es mochte lange, sehr lange dauern, bis dergleichen wieder vorkam, aber zum erstenmal vermochte er zu glauben, daß es wieder vorkommen würde.

Der Gedanke verblüffte ihn ebenso wie seine Fähigkeit, ihn nach so langer Zeit überhaupt fassen zu können. Konnte es sein, daß auch seine eigene Flamme nicht erloschen war? dachte er.

Es erstaunte ihn auch, daß sie nur zu dritt waren. Er, Mavra und der Gedemondaner, den sie brauchten, um miteinander sprechen zu können. Er hatte es mehr Leuten angeboten, eigentlich jedem, der mitkommen wollte. Sie hatten es vorgezogen, am Paß zu bleiben. Vielleicht sind sie die Klügeren, dachte er wehmütig. Ihnen war wenigstens die Wahl geblieben.

»Was wird geschehen, wenn wir… hineingehen?« fragte Mavra und blickte wieder auf die scheinbar undurchdringliche Wand.

»Um Mitternacht werden die Lichter für diesen Bereich angehen«, erwiderte er. »Dann wird das Stück um die Avenue verblassen, und man kann ins Innere treten. Dort werden weder Sie noch der Gedemondaner sich verwandeln, aber ich werde es tun. Die Anlage ist für Markovier entworfen worden, wird mich also in einen solchen verwandeln. Sie sind ziemlich häßlich und abschreckend, schlimmer als das meiste, was Sie bisher gesehen haben. Lassen Sie sich davon aber nicht beirren. Das werde immer noch ich sein. Danach fahren wir hinunter zum großen Kontrollraum, ich betätige mich am Sechseck-Welt-System, um es wieder einzuschalten und den Ruf einzuspeisen, dann stellen wir fest, wie groß der Schaden ist.«

»Den Ruf?« wiederholte sie.

Er nickte.

»Ja. Die Bevölkerung in jedem Hex halbieren, die Tore vorbereiten und jene, die wir brauchen, zu den Dingen veranlassen, die getan werden müssen, sobald sie geschehen müssen. Sie werden sehen. Es ist nicht so kompliziert, wie es klingt.«

»Und was ist mit uns?« fragte sie. »Was geschieht mit uns?«

»Sie werden Markovier werden, Mavra«, sagte er. »Das ist aus mehreren Gründen notwendig, und nicht der kleinste davon ist der, daß der Schacht auf das markovische Gehirn eingestellt ist und man ein Markovier sein muß, um zu begreifen, was er ist und leistet. Außerdem bekommen Sie dann ein vollständiges Bild davon, was Sie mir auftragen werden. Das ist das Schlimmste, Mavra. Sie werden genau wissen, wie die Auswirkungen der Reparatur sein werden — falls der Schaden sich beheben läßt. Das werden wir nicht wissen, bis wir im Inneren sind.«

Er erwähnte den Gedemondaner natürlich nicht. Er hatte keine Ahnung, was er mit dem Wesen anfangen sollte, aber es würde rasch beseitigt werden müssen oder im Weg sein. Eigentlich verdiente es eine Belohnung, aber er wußte noch nicht recht, wie sie aussehen sollte. Die Möglichkeit, daß es einen Gedemondaner mit Zugang zum Schacht gab, erschien nicht gerade erfreulich.

Es war ganz dunkel geworden, und Mavra sagte mit einer Geste zu dem Gedemondaner, aber zu beiden:»Da! Man kann von hier die Sterne sehen.«

Die beiden anderen schauten hinauf, und in der weiten Lücke zwischen dem Ende der Klippen und der Äquatorbarriere waren die Spiralen und spektakulären Muster des Sechseck-Welt-Himmels deutlich sichtbar. Es war der eindrucksvollste Himmel aller bewohnbaren Planeten, den Brazil je gekannt hatte, erfüllt von riesigen Nebeln und leuchtenden Gasen. Der Gedemondaner blickte aber nicht lange hinauf; er kannte das schon zu gut.

Niemand besaß eine Uhr oder konnte angeben, wieviel Zeit verging; sie würden einfach warten müssen, bis das Licht endlich aufflammte.

Ach was, dachte er. Ebensogut konnte er den Gedemondaner gleich fragen.

»Sprecher? Was wünschen Sie sich? Was soll ich für Sie und mit Ihnen machen?«

Der Gedemondaner zögerte nicht.

»Für mich selbst wünsche ich nichts, außer zu meinem Volk zurückgebracht zu werden«, erklärte er. »Für mein Volk wünsche ich, daß du untersuchst, warum das Experiment, das hier gelungen war, draußen scheiterte, und du das Notwendige veranlaßt, damit beim nächstenmal wenigstens erträgliche Aussichten bestehen.«

Brazil nickte. Das hörte sich plausibel an. Er machte sich aber Gedanken über das Wesen, ob es wirklich ganz aufrichtig war. Sehr oft landete mehr als eine Rasse auf einem bestimmten Planeten, sobald ein Muster festgelegt war, manchmal durch Absicht, weil sie etwas beizusteuern haben mochte, ab und zu auch durch Zufall. Völlig exakt lief das Verfahren nicht ab. Den insektenartigen Ivrom etwa war es beim letztenmal gelungen, durch Zufall oder ihre eigene Einwirkung ein paar Brutwesen mit auf die Erde zu befördern, und sie waren zur Grundlage für viele Legenden über Feen, Kobolde und andere schalkhafte Geister geworden. Auch einige von anderen; auf der Alten Erde hatte es einmal eine Kolonie von Umiau gegeben, dort Meerjungfrauen genannt, der Theorie zufolge, daß vielleicht eine zweite Rasse in den Meeren leben konnte, während die erste sich auf dem Land ausbreitete.

Die Rhone — Abkömmlinge der Dillia-Zentauren — hatten schon früh Raumfahrt entwickelt. Eine Forschungsgruppe war auf der Alten Erde abgestürzt, als ihre menschlichen Bewohner sie noch für eine flache Scheibe auf dem Rücken einer Schildkröte oder dergleichen gehalten hatten, und es war ihnen gelungen, dort zu überleben, verehrt sogar von manchen primitiven Menschen als Götter oder gottähnliche Wesen. Für die rohe Barbarei der Erde waren sie jedoch zu weise und zu friedlich; man hatte sie schließlich gejagt und ausgerottet. Er selbst hatte dafür gesorgt, daß ihre Überreste zerstört wurden und bis auf die Legende davon, was der Mensch den großen Zentauren angetan hatte, nichts blieb. Aber als die Rhone, ins Unglück geraten, den Weltraum zuerst verloren, dann wiedergewannen und die von Menschen bewohnten Bereiche erneut erforschten, hatten sie auf irgendeine Weise vom Schicksal der frühen Forscher erfahren. Die Menschen waren in ihren kollektiven Alpträumen aufgetaucht, lange vor der dauerhaften Entdeckung, und das hatte sie von der Menschheit ferngehalten, obwohl sie zur praktischen Partnerschaft bereit gewesen waren.

Was die Gedemondaner anging, so gab es Legenden sowohl auf der Heimatwelt der Rhone wie auf der Alten Erde, von riesigen menschenartigen, geheimnisvollen Wesen, die sich im höchsten Gebirge und in der fernsten Eiswüste herumtrieben, während der ganzen Geschichte den technologischen Menschen meidend, abgesehen von kurz erhaschten Blicken, Legenden, halb geglaubten Geschichten. Waren einige davon, die Yeti, die Sasquatch und andere, wirklich die weiterentwickelten Nachkommen von Gedemondanern, die aus irgendeinem Grund auf den falschen Planeten geraten waren? Er fragte sich das selbst.

Die Zeit schleppte sich hier am Äquator, an der Avenue mühsam dahin. Mehr als einmal hatte der eine oder andere von ihnen das Gefühl, es müßten mehr als sieben Stunden vergangen sein, sie hätten den Augenblick entweder verpaßt, oder dieser Zugang funktioniere nicht, oder irgendein anderes Problem sei aufgetaucht.

Das Warten war das Allerschlimmste, entschied Mavra.

Plötzlich sagte der Gedemondaner:»Ich spüre, daß jemand in der Nähe ist.« Seine Stimme klang besorgt.

Brazil und Mavra schauten sich in der Dunkelheit um, konnten aber nichts Ungewöhnliches sehen oder hören. In beiden lauerte die Angst, daß die bewaffnete Truppe sie im letzten Augenblick einholen würde, daß Serge Ortega und seine Leute den Borgo-Paß nicht lange genug hatten halten können.

Der Gedemondaner spürte ihre Angst.

»Nein. Nur drei. Sie scheinen rechts von uns zu sein. Es ist sehr merkwürdig. Sie scheinen im massiven Fels zu sein und schnell auf uns zuzukommen.«

Mavras Kopf zuckte hoch.

»Es sind die Dahbi!« sagte sie scharf. »Sie können das!«

»Ich habe den Kerl schon zum zweitenmal unterschätzt«, knurrte Brazil. »Während Serge und seine Leute die Armee aufhalten, umgeht Sangh den Paß auf die einzige Weise, zu der er imstande ist. Der Hinterhalt im Paß hat ihm verraten, was er wissen wollte — daß wir hier sind. Wenigstens kann er auf diesem Weg keine Waffen mitnehmen.«

»Er braucht sie nicht«, gab sie zurück. »Die Vorderbeine sind wie Schwerter, die Kiefer wie Schraubstöcke. Und wir haben auch keine Waffen.« Sie schaute sich um. »Und können nirgends hin.«

»Außer hinein«, sagte er seufzend. »Aber darauf dürfen wir uns nicht verlassen.«

Der Gedemondaner drehte sich um und starrte auf eine Felswand, keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt. An drei Stellen wurde es im Gestein heller. Sie sahen entsetzt und gebannt zu, wie drei geisterhafte Wesen aus dem Granit quollen, sich zu verfestigen schienen und vor ihnen standen, ein riesiges vor ihnen, zwei etwas kleinere dahinter, gespenstischen Laken mit zwei schwarzen Ovalen als Augen gleichend.

Brazil glotzte sie an. Das sind also die Dahbi, dachte er. Er erinnerte sich undeutlich an sie. Auch hier Legenden und Kollektiverinnerung. Und der Große in der Mitte mußte -»Nathan Brazil, ich bin Gunit Sangh«, sagte der Anführer. »Ich bin hier, um Sie zurückzuholen.«

Brazil wollte vortreten, um mit dem Gedemondaner Körperberührung herzustellen, damit er antworten konnte, aber der Gedemondaner beachtete ihn nicht und trat auf den Dahbi-Anführer zu.

»Sie haben verloren, Sangh«, sagte der Gedemondaner mit einer fast perfekten Nachahmung von Brazils Stimme und Aussprache. »Selbst wenn wir jetzt mit Ihnen zurückgingen, steht unsere eigene Truppe hinter der Ihren am Paß. Es mag sein, daß Sie durch Wände gehen können, aber mich können Sie da nicht mitnehmen.«

»Das brauche ich nicht«, erwiderte Sangh zuversichtlich. »Wir nehmen Sie als Geisel mit und gehen durch den Paß zu meinen eigenen Truppen, die ihn inzwischen besetzt haben werden. Dann brauchen wir ihn nur zu halten, bis der Rest meiner Armee nachrückt, um uns abzuholen. Ihre armselige Streitmacht dazwischen kann nicht viel ausrichten. Bedenken Sie, wie gut Ihr kleiner Trupp den Paß bis jetzt gegen uns hat halten können.«

Mavra und Brazil hoben die Köpfe. Der Paß wurde also immer noch gehalten!

»Ich stehe hier vor dem Schacht«, erwiderte der Gedemondaner drohend. »Sie kennen die Regeln, Sangh. Ich kann nicht getötet werden und gebe mich nicht gefangen.«

»Ich habe genug«, seufzte Gunit Sangh gereizt. »Packt ihn!«

Die kleineren Dahbi klappten auseinander und gingen auf den Gedemondaner los, der sie ruhig erwartete. Klebrige Vorderbeine, von denen etwas Grauenvolles troff, griffen nach dem riesigen Pelzwesen, und an den Beinen entlang blitzten die Natursäbel der Dahbi. Das Vorderbein des Wesens links vor dem Gedemondaner berührte das Geschöpf, das hingriff und es unerwartet mit der linken Hand packte. Es gab einen grellen Blitz von blauweißem Feuer, das den Dahbi einzuhüllen schien, eine Supernova, die für Sekundenbruchteile aufgleißte und wieder erlosch.

Der Gedemondaner nutzte die Betäubung des anderen, drehte sich herum, griff mit der rechten Hand hin und packte das Vorderbein des zweiten Dahbi, bevor er es zurückziehen konnte. Wieder das Aufflammen, und als es dunkel wurde, war von dem Dahbi nichts mehr zu sehen.

Gunit Sangh hatte kein so hohes Alter, keine so hohe Stellung erreicht, ohne Mut und rasche Reflexe zu besitzen. Er stürzte vor, sein Vorderbein schnellte herum und schnitt dem Gedemondaner mit einem Hieb den Kopf ab.

Aus dem körperlosen kopflosen Körper spritzte Blut auf das makellos weiße Fell, und das Wesen tappte wie noch lebend vorwärts, als Sangh mit einer schier unvorstellbaren Schnelligkeit sich dem geköpften Geschöpf entzog.

Die Arme des Gedemondaners streckten sich, er machte noch ein, zwei Schritte, dann erzitterte er und brach zusammen, zuckte noch kurz und erschlaffte am Boden. Die gespeicherte Energie im Körper flammte auf, eine neue grelle Nova, und es war vorbei. Nichts blieb übrig als das Blut und der abgetrennte Kopf, der mit glasigem Blick vom Avenue-Boden heraufstarrte.

Gunit Sangh war offenkundig tief betroffen. Sein Gehirn schien fieberhaft zu arbeiten. Es war Brazil, aber jetzt tot, und Brazil konnte nicht sterben, also konnte es nicht Brazil gewesen sein, aber wenn er es nicht war, wer war dann Brazil…?

Er blickte wieder zur Äquatorialbarriere. Da standen zwei von den fliegenden Pferden, auf denen Agitar zu sitzen pflegten. Was…? Und warum zwei?

Es traf ihn beinahe wie ein körperlicher Schlag. Mavra Tschangs Katatonie, Brazils starrer Körper, die ganzen Zaubertricks, die sie vorgeführt hatten.

Dann lachte Gunit Sangh, lachte so laut, daß es von den Wänden der Schlucht widerhallte. Er blickte auf die beiden geflügelten Pferde und sagte:»So, so. Der echte Nathan Brazil, nehme ich an. Und wen haben Sie dabei? Kein echtes fliegendes Pferd, würde ich sagen. Nein, könnte es sein, daß ich auch die auf geheimnisvolle Weise verschwundene Mavra Tschang gefunden habe? Ah? Ein Zucken des Wiedererkennens! Ja, wahrhaftig.« Er lachte wieder auf. »Ich habe gewonnen!« rief er. »Im allerletzten Augenblick, aber ich habe gewonnen!«

Hinter den beiden flammte Licht auf.

Sangh sah es und brüllte vor Wut auf. Er ging auf sie los, und beinahe reflexartig schoben sie sich zurück in die Äquatorbarriere, schoben sich hinein und gelangten hindurch in den Schacht der Seelen, bevor sie auch nur begriffen, was geschah.

»Noch nicht!« kreischte Gunit Sangh. »O nein! Noch nicht!« Er stürzte zur immer noch beleuchteten Barriere.

Plötzlich hörte man Hufgetrappel, als jage ein Pferd die Schlucht zur Barriere herauf. Sangh zuckte zusammen, blieb stehen und drehte den mächtigen Schädel. Er erstarrte.

Ein Dillianer sprengte auf ihn zu, leuchtend wie ein geisterhaftes, übernatürliches Wesen, ein Dillianer, der ein großes, breites Schwert schwang.

Sangh stieß mit seinen tödlichen Vorderbeinen zu, aber das Schwert drang hindurch, zerteilte den riesigen Dahbi, als fahre man mit einem Messer durch Butter. Sangh brüllte vor Schmerzen und stürzte hin, begann sich zu verwandeln, wurde durchsichtiger, versuchte den ihm noch offenen Fluchtweg zu nutzen.

Der große Zentaur lachte gellend, schwenkte das Schwert, und statt der Waffe hatte er nun einen Eimer in der Hand, einen Eimer voll überschwappender Flüssigkeit. Sangh riß den Kopf hoch und kreischte:»Nein!«, dann ergoß sich der Inhalt auf den halb im Gestein versunkenen Fels. Wo das Wasser hinklatschte, verfestigte sich die Gestalt erneut zu hellem Weiß, der Dahbi ächzte und wurde von den Vorderbeinen des Zentaurs getroffen, der ihn an der Stelle, wo der Dahbi-Körper halb im Gestein steckte, halb herausragte, buchstäblich in zwei Hälften zertrennte. Der Leib erschauerte kurz, dann erschlaffte er.

Der Zentaur lachte triumphierend und warf den Eimer an die Felswand, wo er klirrend herabfiel. Die Erscheinung fuhr herum und galoppierte durch die Kluft davon, zurück in die Dunkelheit, die ihn rasch verschluckte.

Im Inneren der Äquatorbarriere starrte Mavra auf den Schauplatz der Szene, die sie soeben beobachtet hatten.

»Sprich jetzt, wenn du willst«, ertönte hinter ihr Brazils Stimme, die eindeutig die seine war, aber doch auf sonderbare Weise verändert und verstärkt wirkte. »Ich kann deine Gedanken hören.«

»Das — das war Asam!« stieß sie hervor. »Aber er ist tot! Er ist im Kampf gefallen… Sie sagten…« Sie drehte sich nach Brazil um und verstummte. Ihre Augen wurden vor Entsetzen riesengroß. Brazil war nicht mehr da.

An seiner Stelle gab es eine riesige weiche Masse, zweieinhalb Meter hoch, die mit nichts so viel Ähnlichkeit hatte wie mit einem riesigen Menschenherzen, das mit beinahe hypnotischer Regelmäßigkeit pochte, ein geflecktes rosiges und dunkelrotes Gewebe mit zahllosen Venen und Arterien unter der nackten Haut, die rötlichblau war. An der unregelmäßigen Oberseite befand sich ein Kreis von Wimpern, schmutzigweiß, die in unaufhörlicher Bewegung waren — Tausende von Härchen, wie winzige Schlangen, jedes ungefähr einen halben Meter lang. Aus der Mitte der weichen schlagenden Masse ragten in gleichmäßigen Abständen sechs Tentakel, breit und kraftvoll aussehend, bedeckt mit Tausenden von winzigen Saugnäpfchen. Die Tentakel waren von ungesundem Blau, die Saugnäpfe körniggelb. Aus Poren in der Hauptmasse schien Blutwasser zu rinnen, dick und stinkend. Es tropfte nicht, sondern bildete einen unregelmäßigen Überzug auf dem ganzen Körper, wobei der Überschuß von der Haut wieder aufgenommen wurde.

»Nein, es war nicht Asam«, erklärte Nathan Brazil, dessen Stimme irgendwo aus dieser grauenhaften Erscheinung zu dringen schien. »Es war einfach die ausgleichende Gerechtigkeit. Der Borgo-Paß hat gehalten, und ein alter Freund von uns bekam dadurch Gelegenheit, von Zeit zu Zeit nach uns zu sehen.«

Sie konnte ihren Blick von dem entsetzlichen Ding nicht lösen, das vor ihr stand, vermochte ihren Ekel aber durch eine enorme Willensanstrengung zu unterdrücken.

»Es war Zigeuner«, sagte sie staunend.

»Aber für Gunit Sangh sah er wie Asam aus«, stellte Brazil befriedigt fest. »Das war genau die Todesart, die er verdient hatte.«

»Und ein Glück für uns«, meinte sie. »Er hätte uns am Ende beinahe noch erwischt.«

»Nein«, sagte Brazil. »Er hatte schon verloren. Es war ihm nur noch nicht klar. So schwer das auch zu glauben sein mag, Mavra, es war für die Barriere noch nicht an der Zeit, sich zu öffnen. Es gab einen — nennen wir es Defekt. Einen passenden Defekt, als ich von einem Todfeind in die Enge getrieben worden war. Der Schacht sorgt für die Seinen, Mavra, selbst wenn man es nicht will. Und hier im Inneren bin ich unverwundbar.«

Sie sah zu ihm auf, und er konnte ihren Widerwillen vor seiner Erscheinung fühlen, einen Ekel vor dem grauenhaften Geruch, wie nach Verwesung.

»So haben die Markovier ausgesehen?« stieß sie hervor. »Die legendären Götter, die utopischen Herren der Schöpfung? Ach du lieber Gott!«

Er lachte.

»Du hast genug fremdartige Formen auf dieser Welt und im Universum gesehen, um zu wissen, daß die Menschheit weder einzigartig noch das Modell für die Schöpfung gewesen ist. Die Markovier haben sich auf natürliche Weise entwickelt. Unter Bedingungen, die völlig andere waren als beim Menschen, ganz andere als bei den meisten Rassen unseres Universums. Was für dich gräßlich ist, war für sie sehr praktisch. Nach ihren Maßstäben bin ich hochgewachsen, dunkelhaarig und gutaussehend.«

»Es wäre leichter, wenn Sie nicht so stinken würden«, erklärte sie.

»Was soll ich tun?« fragte er und täuschte verletzten Stolz vor. »Also fangen wir an. Wenn du den Mut aufbringst, wirst du diesen Geruch als exotisches Parfüm empfinden.«

»Das bezweifle ich«, murmelte sie, aber als er, die Tentakel als Beine benutzend, davonging, folgte sie ihm und staunte über die Leichtigkeit und Sicherheit seiner Bewegungen.

»Die Markovier mögen zwar fremdartig aussehen, sogar abstoßend, doch sie waren in mehr als nur geistiger Beziehung unsere Verwandten«, erklärte Brazil, als sie weitergingen. »Diese Lebensform atmete eine Atmosphäre, die verträglich ist mit dem, was du gewöhnt bist. Die Zusammensetzung ist ein wenig anders, aber nicht so sehr, wie man erwarten würde. Und die Zellstruktur, der ganze Organismus, beruht auf Kohlenstoff und funktioniert ganz ähnlich wie die anderen Kohlenstoff-Wesen, die wir so gut kennen. Er ißt, schläft, geht sogar auf die Toilette wie ganz normale Leute, obwohl in diesem Stadium Schlaf nicht unabdingbar bist. Sie sind darüber hinausgewachsen und erlangten die Fähigkeit zu willkürlichen Stillegungen, was denselben Zweck erfüllt. Jedenfalls waren sie uns biologisch so ähnlich, daß sie mit dem übereinstimmten, was wir von anderen Lebensformen wissen. Sie verstoßen gegen keine Gesetze.«

Er trat auf einen Gleitweg auf der anderen Seite einer einen Meter hohen Sperre. Als er sah, daß sie ihm gefolgt war, hieb er mit einem Greifarm auf die Sperre, und der Gleitweg setzte sich in Bewegung. Als sie davongetragen wurden, ging das Licht hinter ihnen aus, und die Lichter in ihrem Bereich und unmittelbar davor schalteten sich ein.

»Das ist der Gleitweg zum Schacht-Zugangstor«, sagte er. »Früher wechselte jeden Tag an jeder Avenue eine Schichtbesatzung. Die Arbeiter und Techniker kamen herein, wie jetzt wir, und fuhren zu ihren Arbeitsplätzen hinunter. Gegen das Ende zu, als nur die Projektleiter übrig waren, beschränkten sie den Zugang bei jeder Avenue auf Mitternacht, und jeweils auf kurze Zeit, vor allem dazu, daß die Grenz-Sechsecke mit ihrem eigenen Wachstum und ihrer Entwicklung fortfahren konnten. Die Zugänge wurden später nur auf die Projektleiter beschränkt, die sich den jeweiligen Rassen angeschlossen hatten, damit niemand hereinstürzen konnte, der es sich anders überlegt hatte. Als ich das letztemal hier war, stellte ich sie darauf ein, daß sie nur auf mich reagierten, weil es theoretisch möglich war, daß jemand das Problem der Schlösser löste.«

Sie fuhren in unheimlicher Stille weiter, während vor ihnen Lichter aufflammten und hinter ihnen die anderen erloschen. Der Gleitweg selbst leuchtete, so weit sie hinausblicken konnte, obwohl keine Lichtquelle erkennbar war. Sie bemerkte, daß der Gleitweg schneller wurde und sie jetzt nicht nur vorwärts, sondern auch hinabfuhren, in die Tiefen des Planeten hinein. Sie gelangten in eine schwach beleuchtete Kammer, und unter ihnen wurde ein von Licht umrandetes großes Sechseck sichtbar.

»Das ist das Zugangstor vom Schacht«, sagte er. »Eigentlich nur eines von sechs. Es kann dich hinführen, wohin du auf der Sechseck-Welt oder im Schacht willst. Wir gehen zum großen Kontrollraum und zu den Überwachungsstationen. Ich muß zuerst alles überprüfen und feststellen, ob alles wie geplant ablaufen wird, und dann natürlich klären, wie stark der Schacht beschädigt ist. Vielleicht hat Obie sich geirrt, und wir brauchen nichts Drastisches zu tun.«

Er stieg vom Gleitweg, als er das Sechseck erreichte, und trat hinein. Sie zögerte kurz, dann folgte sie ihm. Alles Licht verschwand, und einen Augenblick lang glaubte sie zu fallen, dann war die ganze Welt plötzlich wieder von hellem Licht überflutet, und sie stand abermals auf festem Boden.

Es war eine riesige Kammer, vielleicht einen Kilometer im Durchmesser weit, halbkreisförmig, und die Decke wölbte sich hinauf und über ihnen. Hunderte von Korridoren führten in alle Richtungen. Das Tor befand sich in der Mitte der Kuppel, und Brazil trat rasch hinaus, gefolgt von Mavra, die nervös war, weil sie befürchtete, das Tor könnte sie an irgendeinen entlegenen Ort des Komplexes befördern, wo man sie nie mehr finden würde.

Wände, Decke, sogar der Boden, alles schien aus winzigen, sechseckigen Kristallen aus poliertem weißem Glimmer zu bestehen, die das Licht zurückwarfen und wie Millionen Diamantensplitter glitzerten.

Brazil blieb stehen und zeigte mit einem Tentakel über die Schulter zum Tor. Von Kraftfeldern gehalten, mitten zwischen Tor und Kuppeldach, schwebte ein riesiges Modell der Sechseck-Welt, das sich ganz langsam drehte. Es besaß eine Tag/Nacht-Grenze, war auf der einen Halbkugel dunkel, und schien aus demselben Material wie die Wände zu bestehen, obwohl die Sechsecke an dem Modell sehr groß waren und es an den Polen dunkle Stellen und ein dunkles Band rund um den Äquator gab. Die Kugel war bedeckt von einer dünnen, durchsichtigen Schale, die ebenfalls in Abschnitte aufgeteilt zu sein schien. Die durchsichtigen Sechsecke paßten genau auf die darunterliegenden.

»Es sieht nicht so hübsch aus wie die echte Welt vom Weltraum aus«, meinte Mavra, »aber eindrucksvoll ist es doch.«

»Man sieht die kleinen Unterschiede in zurückgespiegeltem Licht auf jedem Sechseck«, erklärte er. »Das ist markovische Schrift. Die Nummern gehen von 1 bis 1560, in einer Mathematik, die auf der Sechs beruht, versteht sich. Die Ziffern sind aber nicht in irgendeiner Reihenfolge angebracht, weil hier über eine Million Rassen geschaffen wurden, und nur die letzte Gruppe, die letzten 1560, verblieben ist. Sobald eine Rasse gebilligt wurde, nahm man sie heraus, baute das Rechteck für den neuen Versuch um und teilte eine neue Ziffer aus den geleerten Sechsecken zu. So kann Glathriel Nummer 41 sein und Ambreza, gleich daneben, 386. Ein bißchen unübersichtlich, aber es spielte ja keine Rolle.«

»Sehr eindrucksvoll und dekorativ«, erklärte sie lobend.

Er lachte.

»Ach, das ist nicht nur Dekoration. Das ist das Gehirn, das die Sechseck-Welt betreibt. Das Arbeitsmodell für den Schacht der Seelen. Eigentlich das Herz des Ganzen, weil es auch die Hauptenergiequelle für den Schacht ist und die Grundgleichungen liefert, die nötig sind, damit die Welt richtig funktionieren kann. In gewissem Sinn ist das ein gigantisches Computerprogramm. Es bezieht seine Energie aus einer Singularität, die bis in ein Alternativ-Universum reicht. Wenn der Schacht nicht leicht zu reparieren ist, müssen wir ihn von dort ablösen. Das wird sich auf die Sechseck-Welt nicht auswirken, aber alle Programme im Schacht selbst löschen. Wenn wir den Anschluß wiederherstellen, nimmt er alles auf, als handele es sich um völlig neue Daten. Da das langsam und stufenweise zugeführt wird, wartet das Programm, wenn es beschädigte Bereiche findet, und es setzen Notprogramme ein, um das zu reparieren oder zu ersetzen, was nötig ist.«

»Sie können es nicht nur bei den beschädigten Stellen abschalten?«

»Nein. Das wäre eine gute Idee und theoretisch vielleicht sogar ausführbar, aber wir brauchten hier das gesamte Computerpersonal der Markovier, um das zu bewältigen. Es würde bedeuten, daß alles völlig neu programmiert werden muß — also ein neues Programm zu schreiben ist. Das kann man bei der Sechseck-Welt tun, aber nicht bei dem großen Computer, weil sie nie geglaubt haben, das müßte ein zweitesmal geschehen.«

»Wir werden also mehr oder weniger in der Zeit zurückgehen, die Bedingungen wiederherstellen, die existiert haben, kurz bevor der große Computer eingeschaltet wurde, und dann praktisch wiederholen, was sie getan haben«, sagte sie, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.

»Richtig. Und die Eigenreparatur- und Korrektur-Schaltungen werden sich mit dem Schaden befassen. Sie sind eingebaut worden, weil niemand wußte, ob wirklich alles hundertprozentig in Ordnung war, ob man nicht irgendeinen Fehler bei der Konstruktion oder beim Bau gemacht hatte. Das Programm ist deshalb selbstkorrigierend; wenn es auf eine Stelle trifft, die nicht korrekt ist, verändert es sie so, daß sie dem Programm entspricht.«

»Und was machen wir zuerst?« fragte sie.

Er lachte wieder.

»Zuerst gehen wir durch diesen Korridor da. Es gibt einen großen Kontrollraum, nicht weit von hier — alle Korridore führen zu Kontrollräumen, für jede Rasse, die von hier ausgeschickt wurde, einer.« Wieder ging er voraus, und sie folgte ihm.

Sie erreichten eine sechseckige Tür, die sich wie eine Iris öffnete, und im Inneren wurde es hell. Sie sahen eine Art Kontrollraum mit vielen Schaltern, Knöpfen, Hebeln, Tasten und dergleichen, und mit einem großen, schwarzen Projektionsschirm, Riesige Skalen und Meßinstrumente zeichneten auf; sie wußte nicht, was; es gab keine Möglichkeit, sich darüber klarzuwerden, was irgendeine der Anlagen leistete.

Ein Tentakel berührte eine kleine Tafel an einer Steuerkonsole und schaltete ein Gerät ein, das ein Sichtschirm zu sein schien, in Wirklichkeit aber ein versenkter ovaler Tunnel war, hineinreichend, so weit man blicken konnte, ein gelblichweißes Licht mit Milliarden winziger schwarzer Punktchen. Zwischen allen schossen starke kleine Stromblitze oder ähnliches hin und her, einen heftigen Energiesturm erzeugend, ein zuckendes Spinnengewebe belebter Energie.

»Zuerst kommst du dran«, murmelte Brazil.

Man hörte plötzlich das Geräusch einer mächtigen Pumpe tief im Inneren des Planeten oder das Schließen und Öffnen eines Relais. Es klang beinahe wie das schlagende Herz eines gigantischen Tieres.

»Ich steigere nur die Energiezufuhr«, erklärte er. »Keine Angst. Die Skalen, Schalter und so weiter hier sind Steuerelemente für die Mechanismen. Kleinere Arbeiten wie die kann ich ohne Steuerung ausführen, aber später werden wir sie brauchen. So, das müßte genügen.«

Im ganzen Kontrollraum war ein gleichmäßiges, alles durchdringendes Pochen zu hören.

»Gut, großer Kontrollraum volle Energiezufuhr«, murmelte er vor sich hin. »In… Betrieb!«

Die Welt schien rings um Mavra zu explodieren. Das Gesichtsfeld erweiterte sich auf fast 360 Grad, Gehör, Geruch, alle Sinne schnellten zu einer neuen Intensität hinauf, wie sie das noch nie erlebt hatte. Sie konnte die Energien ringsum fühlen und wahrnehmen, die ungeheuren Spannungsanstiege spüren, die plötzlich so greifbar waren, daß es schien, als könnte sie die Hände ausstrecken und sie festhalten, sie drehen und wenden, wie sie wollte. Es war ein ungeheures, berauschendes, zu Kopf steigendes Gefühl, ein Auffluten von Kraft und Macht ohne Grenzen. Sie war Superfrau, sie war eine Göttin, sie war das Allerhöchste…

Sie richtete ihre neuen Sinne auf Brazil und sah nicht länger das häßliche, mißgestaltete Wesen, das er geworden war, sondern einen gleißenden Strahl schier unerträglichen Lichts, eine hochragende Gestalt von fast unfaßbarer Schönheit, Kraft und Energie.

Sie griff nach ihm, nicht mit ihrem Körper, sondern mit ihrem Denken, und er schien zu antworten mit einem Strom wissender Energie, begegnete ihr und verschmolz mit ihrer Ausstrahlung.

Dann zuckte sie einen kurzen Augenblick zurück oder versuchte es zu tun. Die ersten Empfindungen, die sie von ihm erhielt, waren nicht die eines gottähnlichen Geschöpfes gewesen, das er ohne Zweifel war, sondern sie vermittelten eine unfaßbar tiefe, qualvolle Einsamkeit, so schmerzhaft, daß sie kaum zu ertragen war. Mitleid überwältigte sie, und sie trauerte darum, daß solche Größe so viel Elend und Qual zu tragen hatte. Die Tiefe des Elends war so unermeßlich wie seine gottgleiche Größe und Macht, so stark, daß sie davor zurückscheute, wieder hinauszugreifen, Verbindung herzustellen, aus Angst, die grauenhafte Qual könnte sie vernichten. Da weinte sie um Nathan Brazil, und im Weinen begriff sie endlich die Wesenstragik in ihm.

»Hab keine Angst«, sagte er leise, sich wieder darbietend. »Ich habe es jetzt besser in der Hand. Aber du mußtest es wissen. Du mußtest begreifen.«

Zögernd griff sie wieder hinaus, und diesmal war es erträglicher. Aber es war ein viel zu großer Teil von ihm, um ganz verdrängt zu werden; es durchtränkte sein ganzes Wesen, das Innerste seiner Seele, und selbst der Anhauch war beinahe zu vernichtend.

Nun begann er zu sprechen. Nein, nicht zu sprechen, zu übertragen, direkt auf sie, mit der Schnelligkeit seines Denkens, das gesammelte Wissen von Nathan Brazil über das Funktionieren des Schachtes der Seelen, die Markovier-Physik, die Geschichte der Experimente, alles über Gesellschaft, Unternehmen und Ziele der Markovier. Und sie begriff, was er mit ihr getan hatte, erkannte zum erstenmal, daß auch sie eine Markovierin war und, was die reinen Erkenntnisse über den Schacht betraf, ihm gleichgestellt. Erkenntnisse, ja, aber keine Erfahrung, niemals Erfahrung. Denn die Erfahrung war untrennbar verwoben mit der grauenhaften Qual, die er durchlitt, und vor der er sie schützte, so gut er konnte.

Endlich war es vorbei, und er zog sich aus ihr zurück. Sie wußte nie genau, wie lange es gedauert hatte; einen Augenblick, eine Million Jahre, man konnte es nicht sagen. Aber nun kannte sie sich aus, wußte, womit er sich auseinandersetzen mußte, begriff, was ihr bevorstand, und wußte genau, was sie zu tun hatte. Sie begriff auch, daß er, um sie zu einer Markovierin zu machen, sie unmittelbar in den Primärcomputer eingespeist hatte, in das große Computerprogramm selbst. Sie war jetzt wie er und würde es bleiben, bis sie selbst die Daten im Supergehirn der Markovier löschte.

»Ich möchte, daß du kurze Zeit hier bleibst, bevor wir weitermachen«, sagte er. »Überprüf die Kontrollräume, lies die Meßergebnisse ab, sieh dir den Schacht der Seelen und das, was er hervorbringt, an. Bevor wir abschalten, mußt du wissen, was du zerstörst.«

Sie kannte die Regler nun, wußte sie zu gebrauchen. Langsam betrachteten sie gemeinsam das Universum.

Die Anlagen waren unfaßbar komplex und sprachen zu ihrem neuen Markovier-Gehirn mit seiner scheinbar unbegrenzten Aufnahmefähigkeit für Daten und ihre blitzschnelle Verarbeitung, so daß es leichtfiel, das Bekannte und das Unbekannte zu überblicken. Die Zeit verlor jeden Sinn für sie, und sie begriff, daß sie an sich keinen besaß, jedenfalls nicht für einen Markovier. Der Begriff allein war nicht mehr als ein mathematischer Behelf, anwendbar nur für einzelne umgrenzte Bereiche zu Meßzwecken. Sie hatte für sie beide keine Wirkung und damit keinen Sinn mehr, jetzt nicht mehr.

Sie sah Rassen, die quälend vertraut erschienen, und Rassen, fremdartiger als alles, was sie je gekannt oder erlebt hatte. Sie sah auch solche, die sie kannte: die Dreel, die dies alles ausgelöst hatten, die Menschheit, die Rhone, die Chugach und alle anderen. Es gab auch noch mehr, eine unglaubliche Zahl von ihnen, so viele einzelne denkende Wesen, daß es bedeutungslos wurde, sie aufzuführen.

Aber sie waren das Leben. Sie wurden geboren und wuchsen auf, lernten und liebten, und wenn sie starben, hinterließen sie ihren Kindern und diese den ihren ein Vermächtnis. Vermächtnisse der Größe, Vermächtnisse von Niedergang und Tod, Dinge, die ebenso herrlich wie grauenhaft waren, und das oft zur gleichen Zeit. Was sie sah, war Geschichte und Vermächtnis des markovischen Menschen.

Aber es gab Bereiche rund um den großen Kontrollraum der menschlichen Sechsecke, die zerstört oder ausgebrannt waren. Andere Abschnitte hatten umgeschaltet, darum bemüht, die Leistung mit zu übernehmen, aber die Belastung war zu groß für sie, und auch sie brannten aus und vergrößerten die Beanspruchung der anderen noch mehr. Im Schacht der Seelen wucherte ein Krebs, den er selbst nicht mehr aufzuhalten vermochte, und er wuchs weiter. Mit ihm dehnte sich der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum aus, schneller, immer schneller. Sie begriff, daß das Weltraumgebiet, aus dem sie kam, in einem relativen Augenblick verschwunden sein würde, und dann mußte sich der Defekt immer weiter ausdehnen.

Obie hatte recht gehabt, begriff sie. Während Abschnitte, die für andere Teile des Universums zuständig waren, die zunehmende Beanspruchung durch die aufschießende Flut des Nichts zu tragen hatten, fanden Zusammenbrüche immer rascher statt, in einer gefährlichen Progression.

Der Schacht konnte das Universum vernichten oder heilen, aber nicht sich selbst retten. In diesem Augenblick war fast ein Sechstel der in Betrieb befindlichen Kontrollzentren zerstört, ausgebrannt, nicht mehr wiederherzustellen. Sobald ein Drittel der Kapazität erreicht war, würde der Schacht nicht mehr in der Lage sein, den Ausfall auszugleichen; aber er würde es verzweifelt versuchen, bis es den letzten, nicht mehr gutzumachenden Kurzschluß gab. Der Schacht brauchte Hilfe und brauchte sie rasch, sonst konnte er nicht Bestand haben, nicht überleben. In gewissem Sinn war er selbst ein lebender Organismus, begriff sie, und der Krebs schritt unaufhaltsam gegen sein Herz vor. Der letzte Kurzschluß würde eine schützende Stillegung durch das Hauptprogramm und die Energiequellen auslösen, damit diese sich selbst zu retten vermochten, aber dann würde es zu spät sein, die Fähigkeit der kleineren Anlage instand zu setzen oder auszuwechseln. Im ganzen Universum würde nur die Sechseck-Welt bleiben, für immer und ewig, nur sie und nichts sonst.

Aber Mavra verstand auch Brazil. Die tiefe Qual, mit der er lebte, ein Gott, für immer von seinesgleichen abgeschnitten, weil er jm ganzen Universum, vielleicht in allen Welten, die es jemals geben konnte, einzigartig war, dazu verurteilt, auf der Erde und zwischen den Sternen zu wandern als einer, der niemals sterben, sich niemals verändern, nie Gesellschaft finden konnte, aber auch ein Mann, der fühlte, daß er eine geheiligte Aufgabe erfüllen mußte.

Hier konnte er auch diese zahllosen denkenden Wesen fühlen und sehen und kennen, deren ganze Geschichte ausgelöscht werden würde, die, wenn die Reparaturen vorgenommen werden sollten, nicht einmal eine Erinnerung sein würden.

»Das ist nicht das erstemal, daß das geschieht, nicht wahr?« fragte sie.

»Nein«, gab er zu. »Dreimal weiß ich es. Kannst du verstehen, wie schrecklich schwer es für mich ist, einfach abzuschalten?«

»Dreimal…«, wiederholte sie staunend. Dreimal in den Schacht der Seelen, dreimal das Massaker an so vielen, vielen Unschuldigen, die nichts Schlimmeres getan hatten, als zu leben.

»Und dreimal bist du es gewesen?« fragte sie.

»Nein«, gab er zurück. »Nur das letztemal. Ich bin auf einer jetzt toten Welt geboren, in einem Volk, das längst tot und jeder Erinnerung entrückt ist, aber diese Welt glich sehr der Alten Erde. Es war eine Theokratengruppe, die für ihre Religion und ihren Glauben lebte und dafür auf die uralte Weise litt, wie solche Wesen durch andere leiden müssen. Ich wuchs darin auf und wurde selbst ein Geistlicher, ein religiöser Lehrer und Fachmann, ein religiöser Führer, könnte man sagen. Ich war unter meinesgleichen sehr berühmt dafür. Ich hatte eine Frau und sieben Kinder, drei Jungen und vier Mädchen — Menschen vom Typ 41, keine ausgefallenen Formen. Nun, in der Nähe entstand eine andere Religion, die Bekehrung durch Gewalt vertrat, und da die Gesellschaft inzwischen hochtechnologisch und fortgeschritten war, wurden wir aufgespürt, als dieser technokratische Glaube unser Land erfaßte, aufgespürt und bekehrt oder getötet. Obwohl ihre Religion eine Abwandlung der unsrigen war, trauten sie uns nicht. Wir waren eine kleine verschworene geheime Gruppe und suchten nicht einmal Anhänger. Wir waren gut geeignet. Wir waren schwach und vergleichsweise wohlhabend, passende Sündenböcke für eine diktatorische Gesellschaft. Eines Nachts, als sie sich ganz sicher fühlten, holten sie mich und meine Familie. Ich war schließlich der Führer. Ich hatte wenige Hinweise, aber es gelang mir, durch einen Zufall — ob günstig oder nicht, magst du entscheiden — in dieser Nacht nicht zu Hause zu sein. Sie holten meine Frau und die Kinder und ließen mir eine Nachricht zukommen: Entweder verriete ich mein Volk und meinen Glauben, oder meine Familie würde ein schlimmeres Schicksal erleiden als den Tod. Man würde ihre Gehirne löschen und sie als Spielzeug für die herrschenden Familien gebrauchen. Es gab keine Garantien für mich, wenn ich mich ergab, auch nicht für sie, aber auch keinen Weg, sie zu befreien. Ich entfloh, ging hinaus in die Wüste, wurde eine Art Eremit, schleuste aber auch Flüchtlinge aus meinem Volk, denen es gelang, zu entkommen, in sicheren Unterschlupf.«

»Du hast keinen Rachefeldzug geplant?« fragte sie.

Er lachte rauh.

»Rache? Man kann Rache an einem einzelnen, sogar an einer Gruppe nehmen, aber wie macht man das bei der Mehrheit der Welt? Oh, ich haßte sie freilich, aber die einzige echte Rache, die ich nehmen konnte, war die, mein Volk und meinen Glauben in diesen furchtbaren Zeiten am Leben zu erhalten, den Versuch einer historischen Rache zu unternehmen, wenn man es so ausdrücken will. Und einmal nachts, während ich versteckte Pfade in dieser Wüste erkundete, blieb ich an einer Oase vor einer Felsklippe stehen und sah etwas, das ich für unmöglich hielt.«

»Was war das?«

»Ein Zentaur, halb Mensch, halb Pferd, der aus einer Höhle herausschlich, um zu trinken. Du mußt dir darüber klar sein, daß das zu einer technologischen Zeit war, als ich Hubschrauberfahndung, Radar, Gehirnsonden und dergleichen auszuweichen hatte und auf beiden Monden und dem nächsten Planeten Kolonien errichtet worden waren. Nun, er entdeckte mich, und statt sich zu verstecken oder mich anzugreifen, rief er meinen Namen. Er kannte mich, obwohl ich seinesgleichen noch nie gesehen hatte. Er erklärte mir, er sei von einer anderen, fremden Zivilisation weit von hier zwischen den Sternen, und es gäbe diese Zivilisation nicht mehr. Er sei der letzte seiner Art. Er erzählte mir als erster von den Markoviern, von der Sechseck-Welt und dem Computer im Schacht der Seelen. Er hatte da auch eine tolle Einrichtung, sage ich dir, ein technologisches Wunderland in diesem Berg in der Wüste. Er wußte viel über mich. Er hatte mich offenbar geraume Zeit beobachtet, aus Gründen, die ich damals nicht begriff. Er erklärte mir, daß das ganze Universum durch einen Unfall beim Experimentieren in Gefahr schwebe, völlig und total vernichtet zu werden, und daß er Hilfe brauche, um das abzuwenden. Er hatte mich für diese Aufgabe ausgesucht.«

»Warum dich — einen religiösen Führer auf der Flucht?«

Brazil lachte leise.

»Nun, einmal konnte er mir Bücher zeigen, fremde Bücher von drei oder vier verschiedenen Zivilisationen. Er hatte eine Lernmaschine, die mir diese Sprachen beibrachte — du kennst die Methode, wenn auch nicht genau dieses Gerät. Und als ich sie las, Bücher von nicht-menschlichen Zivilisationen draußen zwischen den Sternen, die mein eigenes Volk noch nicht erreicht hatte, ging mir etwas auf, das mich beinahe betäubte. Ich las Bearbeitungen fremder Wiedergaben meiner eigenen heiligen Schriften. Die Einzelheiten waren natürlich alle unterschiedlich, aber die Grundwahrheiten waren da, der Grundbegriff eines einzigen, monotheistischen Gottes, einer Schöpfung und vieler Gesetze. In allen Büchern gab es, was man mühelos als die Zehn Gebote auslegen konnte, selbst in der Reihenfolge fast gleich, wenn auch die Art, wie sie verkündet wurden, verschieden war. Ich begriff auf der Stelle, was er mir damit sagen wollte.«

»Was denn?« fragte sie.

»Daß es so etwas wie eine Universalreligion gibt«, erwiderte er, »wesentliche Glaubenssätze und Begriffe, so übereinstimmend, daß sie von so vielen verschiedenen Rassen einfach nicht unabhängig entwickelt worden sein konnten. Der Zentaur selbst hing einem solchen Glauben an, und es war die Ähnlichkeit mit meinem eigenen, für den ich die höchste noch lebende Autorität war, die ihn zu mir geführt hatte. Verstehst du?«

Sie zögerte.

»Aber… du hast gesagt, die Reparaturen seien schon dreimal ausgeführt worden. Wie konnte dann wieder eine solche Religion entstehen?«

»Dann hast du begriffen. Das war nicht möglich — es sei denn, ihr lag eine wesentliche Wahrheit zugrunde. Nun, ich konnte ihm praktisch nichts abschlagen. Er verlangte, daß jemand zur Sechseck-Welt, in den Schacht ging, wo wir jetzt sind, und ihm half, abzuschalten und wieder neu anzufangen. Da das auch eine geistige Leistung ist, wollte er jemanden haben, der seiner eigenen Weltanschauung nahestand, weil auch von den Prinzipien dieser Weltanschauung etwas in die künftigen Dinge eingehen würde. Nun, das war natürlich der springende Punkt. Er hat mich hereingelegt, der Halunke.«

»Was?«

»Er war der Wächter, der Erbe des Projektleiters. Ich weiß nicht, ob er nicht vielleicht selbst ein Projektleiter war oder, wie ich, in der fernen Vergangenheit hereingelegt worden war, aber was er wollte, war jedenfalls kein Assistent. Nun, seit das Programm völlig gespeichert ist, braucht man nämlich nur eine Person, um die Umstellung zu steuern, auch wenn zwei Personen vielleicht praktischer wären. Er schickte mich hindurch, mit viel weniger Vorbereitung, als dir in deinem Leben zuteil geworden ist, und löschte sich aus dem Programm. Er hängte mir die Arbeit an und brachte sich um.«

Sie verspürte Unruhe, als sie an Zigeuners Prophezeiungen über Brazil und sie selbst dachte, aber statt sie auszusprechen, fragte sie:»Und was geschah danach?«

»Nun, ich schloß die Arbeit ab, machte den Laden dicht und erkannte plötzlich, daß ich von dem, was vorging, eigentlich sehr wenig wußte. Ich ging also nach Hause, zur Erde, und als die richtige Zeit gekommen war, bot ich — in erster Linie mit Tricks, wie ich zugebe — meinen uralten Glauben zwölf Stämmen miteinander verbundener Leute an. Es war die richtige Entscheidung. Aus diesem Glauben erwuchsen viele von den übrigen Religionen und Gesetzessammlungen dieser Welt. Ich gab ihnen die Vorschriften. Ich bekenne, daß sie sich an diese nicht viel besser hielten, als vorher die Leute auf meiner eigenen Welt, aber es gab sie, und insgesamt gesehen war das etwas Gutes. Allein die daraus abgesplitterten Religionen waren entscheidend für die Geschichte unseres Volkes. Der Islam rettete die Gelehrsamkeit und die Größe der Alten vor einer barbarischen Welt; das Christentum verhinderte, daß eine kulturelle Dunkelheit sich völlig ausbreitete, und hielt ein Gefühl der Einheit aufrecht, das die schlimmen Zeiten überdauerte und sich in alle Winkel der Erde ausbreitete. Mein neues Volk litt bedauerlicherweise so sehr wie vorher mein altes. Verfolgt, zu Sündenböcken gemacht, hielten sie trotzdem Glauben und Überlieferung aufrecht. Sie hielten sich am Ende viel besser als meine alte Gruppe.«

»Brazil«, sagte sie zögernd, »du sagst, die geistige Leistung färbt die neu geschaffenen Welten. Ließe sich das nicht damit erklären, daß der letzte, der das tat, diese Religion hatte und sie, ohne es selbst zu merken, in das kollektive Unbewußte der geschaffenen Rassen einpflanzte?«

»Das könnte sein«, gab er zu. »Ich habe ab und zu daran gedacht. Aber es kann nicht schaden, auch an das andere zu glauben, nicht wahr? Oder vielleicht daran, daß das Gottes Art und Weise ist, bei allem den Zusammenhang zu wahren.«

»Ich habe mir dich nie als Mann Gottes vorgestellt«, erklärte sie. »Und ich scheine mich zu erinnern, daß du meinen Großeltern gegenüber behauptet hast, du wärst Gott.«

»Ich habe ein Talent dafür, die Leute zu veranlassen, daß sie ernst nehmen, was ich sage, wenn ich es nur ernst genug ausspreche«, gab er zurück. »Und ich bin ein zwanghafter Lügner.«

»Woher weiß ich dann, daß wahr ist, was du mir jetzt alles erzählt hast?« fragte sie belustigt. »Vielleicht war das die Lüge, um jeden Verdacht bei mir auszuräumen, du könntest vielleicht doch Gott sein.«

»Du wirst es nie wirklich wissen, nicht?« spottete er. »Ich mache mir keine Gedanken darüber. Die Leute glauben ohnehin, was sie glauben wollen.«

»Wirst du dich aus dem Programm löschen, Brazil? Wirst du dich umbringen und mir alles überlassen? Zigeuner hat es behauptet.«

Er schwieg lange Zeit.

»Das war ursprünglich meine Absicht, wenn du einverstanden gewesen wärst«, sagte er zögernd. »Glaub mir, ich will sterben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich sterben möchte.«

»Ich glaube, ich kann es«, erwiderte sie leise. »Ich habe es am Anfang gespürt, erinnerst du dich?«

»Du kannst es nicht wissen, nicht wirklich wissen«, sagte er. »Du hast nur die Oberfläche berührt und besitzt keine Vorstellung von der Tiefe. Nein, eigentlich wollte ich dir das alles erzählen und dich dann allein entscheiden lassen, ob du die Aufgabe übernehmen willst, mit dem Wissen, daß du schließlich im Inneren millionenmal sterben, aber nie den Tod erleiden wirst. Aber nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Was bedeuten jetzt noch ein paar Millionen Jahre? Ich habe in dich hineingeschaut, Mavra, viel tiefer, als du in mich. Du hast nicht die Übung darin wie ich. Und je länger ich hineinschaute, desto klarer wurde mir, daß du die geeignetste Person bist, die ich kenne, um das zu übernehmen — die beste, aber beinahe aus eben diesem Grund kann ich es nicht tun. Ich kann dich dieser Einsamkeit nicht überantworten. Ich kann es einem anderen einfach nicht antun, verdammt noch mal!«

Sie betrachtete das fremdartige, schimmernde Wesen mit erneuertem Interesse, mit Neugierde.

»Du hast sie nie wirklich verloren, nicht wahr? Nicht tief innen. Du bist sehr müde, Nathan, und alles hat dich zutiefst gequält, aber tief innen lodert noch die Flamme in dir. Du glaubst noch immer an etwas, an deine alten Ideale. Du glaubst immer noch, daß es einem Wesen möglich ist, zu Gott zu gelangen, zu einem Gott, an den du fest glaubst, selbst wenn du nicht er selbst bist.«

»Ich will dir nur soviel sagen«, erwiderte er ernsthaft. »Es gibt jenseits von allem, was wir sehen können, allem, was wir wissen, etwas, das über den Schacht der Seelen hinaus überlebt. Vielleicht befindet es sich in einem Parallel-Universum, vielleicht umgibt es uns auf unsichtbare Weise, wie die Primärenergie der Markovier. Aber es ist da, Mavra, es ist da. Drei Gedemondaner haben die Hände auf uns gelegt und unser Denken ging in sie über. Das ist selbst unter diesen Regeln nicht möglich, Mavra. Was ist in Wahrheit übertragen worden? Was es auch sein mag, es ist das einzig Wichtige an uns, und es genügte völlig, daß der Schacht mich zweimal als den erkannt hat, der ich bin, obwohl ich mich beide Male im Körper eines Tieres befand. Kannst du es erfassen, es erkennen, selbst hier im Schacht, in der markovischen Form? Kannst du es sehen, hell strahlend, wie ich es in dir sehe? Was ist es? Die Seele? Was ist ›Seele‹ anderes als ein Ausdruck, um zu beschreiben, was wir jetzt erkennen können und was andere durch die Zeiten gelegentlich erkannten, ohne es wirklich festhalten zu können? Welchen Regeln gehorchen diese Dinge in uns? Sterben sie, wenn unsere Körper sterben, erstickt wie Kerzendochte? Die unseren haben es gewiß nicht getan. Dein Körper ist tot, der meine ist es vermutlich auch. Es spielt keine Rolle, siehst du.«

»Kennst du die Antwort?« fragte sie.

»Natürlich nicht, weil ich nie gestorben bin«, erwiderte er. »Und es sieht so aus, als würde es noch sehr lange dauern, bis ich es tue.«

Sie zögerte.

»Nathan, wenn du gehen willst, mache ich es. Ich übernehme die Verantwortung von dir. Du bist von diesem Augenblick an frei. Zum erstenmal in deinem Leben bist du frei, Nathan.«

Er stutzte kurz, dann sagte er:»Nein, Mavra, ich bin nicht frei. Ich bin es nicht, weil du vorhin recht hattest. So wahr mir Gott helfe, es bedeutet mir immer noch etwas!« Er schwieg kurze Zeit. »Schalten wir ab?«

»Wir müssen«, gab sie zurück. »Du weißt es.«

»Bevor wir es tun, will ich etwas versuchen, das beim letztenmal Erfolg hatte«, erklärte er ihr. »Es ist klar, daß es viel mehr Rassen als Sechsecke gibt. Wir könnten die meisten von ihnen retten, wenigstens im selben Maß wie hier. Manche werden natürlich nicht überleben, entweder wegen der Schäden oder wegen einer Fehlberechnung, wegen der Naturgesetze und vieler anderer Gründe, aber es besteht eine Chance. Beim letztenmal ging das. Es könnte wieder funktionieren, vor allem bei den Rassen mit den Fähigkeiten, in den Weltraum vorzustoßen.«

Sie kehrten in den Kontrollraum zurück, und er betätigte eine Reihe von Reglern. Sie begriff zuerst nicht, was er tat, dann konnte sie langsam verstehen, was vorging.

»Ohne Seelen geht es nicht, Mavra«, rief er ihr ins Gedächtnis zurück. »Wir brauchen etwas, womit wir arbeiten können.«

Draußen im Weltraum, in den grenzenlosen Weiten des Universums, setzten die Schacht-Tore sich in Betrieb — mehr noch, sie bewegten sich. Riesige, klaffende, sechseckige Umrisse der Schwärze stiegen von ihren Heimatwelten empor, hoben ab und flogen in den Weltraum hinaus. Sie besaßen nur zwei Dimensionen, Diskontinuitäten im Gefüge der Wirklichkeit, denn ihre Tiefe befand sich hier, am anderen Ende, im Schacht.

»Es kommt auf die zeitliche Abstimmung an«, sagte er zu ihr. »Ich stelle sie ein, so gut ich kann, damit sie gleichzeitig wirken, aber ich kann hier an diesem Ende höchstens einige Sekunden zurückhalten. Wenn ich es dir sage, mußt du abschalten, verstehst du?«

Sie begriff jetzt. Begriff sehr viel. Begriff, warum so viele Rassen das damals überlebt haben konnten, begriff, woher es kam, daß eine Reihe von Rassen durcheinandergewürfelt auf derselben Welt leben konnte. Es war einfach nicht möglich, das vollkommen zu beherrschen.

Die Tore begaben sich an ihre Plätze. Natürlich würden nicht alle benützt werden, aber wenn alles gutging, würden es genug sein. Er würde trotzdem Rassen verlieren, ganze Zivilisationen und Ideen für immer verlieren, aber er konnte sehr viele von ihnen retten.

Nach einer Weile — wer wußte oder konnte sagen, ob es einige Minuten oder einige Jahrhunderte waren? — erklärte er:»Alles an seinem Platz. Besser geht es nicht. Wir werden ein paar tausend Zivilisationen verlieren, verdammt, aber immer noch besser, als wenn es alle wären. Ich gehe jetzt hin, zum nächsten bewohnten Planeten in jeder Region.«

Auf einer Million verschiedener Welten wurden eine Million Rassen erschreckt von der kleinen, klaffenden Schwärze, die aus dem Himmel auf ihre Welten herabsank, eine Schwärze, die vollständig war, absolut, und jedem Versuch trotzte, ihr Schaden zuzufügen, sie in die Luft zu sprengen. Es gab Panik, verstärkt noch durch das, was das klaffende Sechseck tat, wenn es auf die Welt herabsank. Es begann sich sehr rasch, blitzschnell, zu bewegen, zu schnell, als daß man dagegen etwas tun konnte, und Bewohner in Massen zu schlucken.

»Sie sind drin! Verdammt! Was für Kopfschmerzen! Ich kann hier nicht mehr lange zurückhalten. Himmel! Nicht genug! Nicht jede Rasse hat genug durchgemacht! Mist! Ich muß aufhören! Um Himmels willen, Mavra, schalt jetzt ab!«

Ein Gedanke, ein Impuls, ein einzelner exakter, bewußter mathematischer Befehl ging hinaus. Sie erteilte ihn, sie selbst, ganz allein. Sie tötete sie alle — alle, bis auf die auf der Sechseck-Welt und jene im Übergang.

Auf der Nachtseite der Sechseck-Welt würden die Bewohner zu den Sternen hinaufblicken und etwas Wundersames erleben. Das gigantische, funkelnde, herrliche Sternenfeld des Nachthimmels flackerte und erlosch. Es war nur Schwärze, wo es gewesen, eine Schwärze, so absolut, wie noch keiner sie gesehen.

Es wurde von einem Ende der Sechseck-Welt bis zum anderen berichtet, erzählt und wiedererzählt, und die nervöse Panik begann.

Brazil ist im Schacht der Seelen. Die Sterne sind erloschen.

Manche starben von eigener Hand, andere verloren den Verstand, aber die meisten schauten nur hinauf und warteten, starrten auf den grauenhaft leeren Himmel, auf das einsame, trostlose Nichts, das sie umgab und sie fast zu zermalmen schien.

In Nord- und Süd-Zone hörte das Schacht-Tor auf zu arbeiten. Siegel, die noch keiner gekannt hatte, gelangten automatisch an ihre Plätze, schlagartig und ohne Vorwarnung. Viele saßen im Inneren fest und hatten keine andere Wahl, als abzuwarten. Diejenigen, die sich auskannten, sperrten blitzschnell die Zone-Tore in ihren Sechsecken ab, damit niemand verlorenging, denn durch diese Tore gelangte man nicht nach Zone, nicht, solange der Schacht mit seinen Toren geschlossen war. Sie wurden umgelenkt, das Tor im Schacht umgestülpt. Jeder, der jetzt durch ein Zone-Tor ging, würde die Sechseck-Welt nie wiedersehen.

Aber in den verschiedenen Sechsecken in Nord und Süd wußten die Leute, vor allem die Machthaber, daß sie eine Frist gesetzt bekommen hatten, daß sie ungefähr die Hälfte ihrer Bevölkerung für das Tor aufbieten mußten, und daß die Tore, wenn sie das nicht taten, sich in Bewegung setzen und es selbst übernehmen würden, ohne Überlegung. Die Nachricht ging automatisch an alle Wesen der Sechseck-Welt, die Nachricht, die sie bis zu diesem Tag für einen bedeutungslosen, mythischen oder veralteten Ausdruck gehalten hatten, die nun aber von allen begriffen wurde.

Es war Mitternacht im Schacht der Seelen.

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