Dahir

Die Ranch lag kaum zwanzig Kilometer unterhalb der Grenze, aber einsam und weit genug entfernt, um für ihre Zwecke geeignet zu sein. Zwei waren Dahbi, die anderen Krithier, deren riesige, schlagende Schwingen ihre Zurufe untermalten. Sie trugen zwischen sich eine riesengroße Decke, in der ihre schwere Last lag, noch immer bewußtlos von den Schlafmitteln, die man ihr, als sie in den Hinterhalt geraten war, eingespritzt hatte.

Sie hatten schwer geatmet, als sie zur Grenze gelangt waren, nur mit Mühe fähig, sie so weit zu schleppen, aber stolz darauf, es mit einer solchen Last zu schaffen. In Dahir war ihnen die Zauberei der einheimischen Priester zu Hilfe gekommen, und das Fliegen fiel leicht. Sie schien jetzt gar nichts mehr zu wiegen, und sie spürten neue Kräfte in sich.

Die Priester waren unter ihnen auf ihren Hakaks geritten, einhornartigen Reittieren, die leicht Schritt hielten und den fliegenden Geschöpfen vermittelten, was man als den richtigen Energiezufluß bezeichnete. Sie konnten auch in anderer Beziehung wirksam werden, sollte ein feindlicher Beobachter sie durch Zufall bemerken.

Zwei Dahir standen bereit, um die Last aufzunehmen, als sie landeten. Sie begrüßten die Priester mit erhobenen Armen, dann wandten sie sich der bewußtlosen Gestalt zu, die vor den Hakak-Ställen abgelegt wurde. Es war eine klare Nacht; das dichte, wirbelnde Sternenfeld leuchtete mit voller Kraft und schien sich auf ihren hellen, schimmernden Hautskeletten widerzuspiegeln, als die humanoiden Insekten sich an die Arbeit machten. Zuerst stellten sie sie auf ihre vier Beine, dann halfen sie den anderen, sie in eine große Scheune zu ziehen. Sie war immer noch ohne Bewußtsein und ahnte nichts davon.

»Sollen wir sie fesseln?« fragte ein Dahir den Dahbi in der Nähe. »Wir dürfen nicht zulassen, daß sie entkommt.«

»Fesseln können gelockert oder abgestreift werden«, gab das weiße Wesen zurück. »Wir dürfen kein Risiko eingehen.«

»Sollen wir sie also töten?« wollte das schimmernde Wesen wissen.

»Nein. Wir haben versprochen, sie lebend auszutauschen. Wir werden das Versprechen halten müssen.«

»Ein einfacher Zauber«, schlug einer der Priester vor. »Er wäre vollauf wirksam — und wir müssen sie tarnen, wenn wir sie morgen zum Tor bringen.«

»Das ist eure Sache«, erklärte der Dahbi. »Hier sollte das nicht schwierig sein. Aber eure Zaubersprüche wirken nur hier. Das Tor würde sie zunichte machen.«

»Sie könnten, sobald wir in Zone sind, erneuert werden«, betonte der Priester. »Unser Zauber wirkt dort, zumindest in begrenzter Weise.«

»Zu riskant«, gab der Dahbi zurück. »Wir dürfen ihr keinen Fluchtweg offenlassen. Unser Herr, Seine Heiligkeit Gunit Sangh, hat außerdem ein geeignetes Mittel empfohlen. Hier«, das Wesen zeigte auf die Stelle, »am Nacken verlaufen die wichtigsten Nervenverbindungen vom Gehirn zum Rückenmark. Wenn man sie durchtrennt, ist der Oberkörper gelähmt.« Bei diesen Worten gebrauchte das Wesen das rechte Vorderbein mit der scharfen, messerartigen Chitinplatte und stieß die Schneide tief, aber mit Überlegung hinein. Es spritzte Blut heraus, doch nicht sehr viel, und man behandelte die Wunde sofort mit Salbe und Verband.

»Und hier, am unteren Ende des Oberkörpers, eine Verbindung für die andere, größere Hälfte, beinahe ein zweites, wenn auch nichtbewußtes Gehirn, das vom ersten aus gesteuert wird«, stellte der Dahbi fest, und wieder stieß die Klinge zu und drehte sich im Inneren. Sie wurde, befleckt mit dunkelrotem Blut, herausgezogen, und man kümmerte sich auch um diese Wunde.

»Die Dillianerin ist jetzt völlig gelähmt«, erklärte das weiße Geschöpf, während es sich das blutverschmierte Vorderbein abwischte. »Die Wirkung ist von Dauer, der Schaden nicht zu beheben. Beachten Sie, wie Arme und Beine erstarrt sind, ein biologischer Schutzmechanismus, wenn Nerven geschädigt sind. Sie können sterben, wenn sie nicht auf den Beinen stehen, also erstarren sie, wenn die Nerven durchtrennt oder geschädigt werden, um das zu vermeiden. Die autonomen Funktionen sind nicht betroffen; sie werden von einem anderen Nervensystem auf der anderen Seite des Knorpels gesteuert. Ich habe darauf geachtet, diese Stellen nicht zu verletzen.«

»Sie werden das nicht hinnehmen«, erklärte der Dahir-Priester düster. »Sie werden Brazil für jemanden in einem solchen Zustand nicht austauschen.«

Der Dahbi lachte leise.

»Euer Zauber konnte sie hier zur Statue erstarren lassen. Kann euer Zauber sie nicht auch zum Gehen bringen?«

Der Dahir legte den Kopf ein wenig auf die Seite und dachte nach.

»Aber ja, versteht sich.«

»Und in Zone erneut?«

»Ah!« Die Miene des Priesters hellte sich auf.

»Sehen Sie? Keine Möglichkeit zur Flucht, denn ohne Ihre Zaubersprüche ist sie starr und hilflos. Aussehen wird es aber anders. Das wird mitgeteilt werden, der Austausch wird stattfinden, und die Frau wird nach Dillia zurückkehren.«

»In Dillia wirkt der Zauber nicht«, erklärte der Priester. »Sie wird als hilfloser Krüppel ankommen.«

»Genau«, sagte der Dahbi. »Unsere Abmachung sah vor, daß sie lebend übergeben wird. Nicht mehr. Wir halten unser Wort — buchstabengetreu.«

»Es erscheint aber ein wenig grausam«, meinte der Dahir, ohne den Eindruck zu machen, als störe ihn das.

»Seine Heiligkeit Gunit Sangh, mein Herr, hat mit dem, der sie liebt, eine Rechnung zu begleichen«, teilte der Dahbi mit. »Ihn zu töten, wäre so… endgültig. Und es ginge viel zu schnell. Er ist auch nicht leicht zu töten. Das wird ihn viel mehr zermürben als alles andere. Seine Geliebte für den Rest ihres Lebens ein hilfloser Krüppel und er ein Verräter seiner Sache, an dem Vertrauen, das ihm geschenkt wurde, für immer gebrandmarkt in Geschichte und Legende, ohne daß er dafür etwas bekommen hätte.«

Der Priester nickte bewundernd.

»Unglaublich. Eine Rechnung so zu begleichen, kann nur noch Bewunderung erregen.« Er blickte auf Mavra. »Und wieviel Macht hat sie noch über sich?«

»Sie ist eine Statue, wie aus Stein, vom Hals abwärts«, versicherte ihm der Dahbi. »Sie wird nur Augen, Ohren, Nase und Mund gebrauchen können. Alles andere ist für immer gelähmt.«

»Sie kann also sprechen«, stellte der Priester fest.

»Nur, wenn wir das zulassen«, erwiderte der Dahbi.

Sie erwachte, bevor es hell wurde, und begriff fast augenblicklich, was geschehen sein mußte. Wütend, aus der Fassung gebracht, mit verletztem Stolz, war sie davongegangen und schließlich zum Fluß hinuntergelaufen, wo sie dahingeschlendert war, diesem oder jenem Fußtritte versetzt hatte oder einfach zu den Sternen hinaufgeblickt hatte.

Sie hatten sich nicht einmal gründlich versteckt. Sie wußte, daß vor ihr zwischen den Bäumen Wesen waren, konnte hier und dort eine Bewegung erkennen und sogar Geflüster hören. Man glaubte einfach nicht an eine Gefahr, wenn man von zehntausend eigenen Leuten umgeben war.

Sie hatten irgendeine Betäubungswaffe verwendet, wie man sie bei gefährlichen wilden Tieren benützte, wenn man sie fangen, aber nicht töten wollte. Sie wußte nicht, um welchen Stoff es sich handelte, aber er wirkte jedenfalls sehr rasch; sie hatte den Knall gehört, den Stich gespürt, war herumgefahren und hatte aufschreien wollen, aber zuerst das Gleichgewicht und dann das Bewußtsein verloren; das alles binnen weniger Sekunden.

Sie versuchte sich zu bewegen, um festzustellen, wie sie gefesselt worden war und wo sie sein mochte, stellte aber fest, daß das nicht ging. Es kam ihr plötzlich auf erschreckende Weise so vor, als hätte sie das alles schon einmal erlebt. Auf dieser fremdartigen Welt war sie schon einmal gefangen, gelähmt und in einem Stall untergebracht worden. Damals war sie ein Opfer an den Schacht von jenen gewesen, die ihn anbeteten, und deshalb in ein verunstaltetes Monster verwandelt worden.

Es gab nicht viel Licht hier, aber sie hörte die Bewegungen offenbar großer Tiere. Es lag wohl an den Nachwirkungen der Droge, daß sie immer noch nicht klar denken konnte.

Sie stand da, unfähig, irgend etwas zu tun, und wagte geraume Zeit nicht zu sprechen. Einmal war jemand gekommen, hatte an der Seite eine Tür geöffnet und kurz hereingeschaut, aber die Person war außerhalb ihres Gesichtsfeldes geblieben und nicht hereingekommen. Lange Zeit hatte sie jetzt steif stehenbleiben müssen, während sie sich bemühte, das Grauen in ihrem Inneren zu bekämpfen.

Nun hörte sie ein Rascheln, als bewege sich etwas im Stroh und nähere sich ihr. Sie war überrascht, denn sie hätte wetten mögen, daß bis jetzt nur Tiere im Stall gewesen waren. Sie wartete, eher neugierig als angstvoll, bis sie feststellen konnte, wer — und was — das sein mochte. Daß man sie töten würde, war unwahrscheinlich; sie erkannte eine Geisel auf Anhieb, auch wenn sie es selbst war.

Das Wesen trat aus den Schatten und kam ganz nah heran. Ihre Miene hellte sich auf, als sie es sah, und das Geschöpf legte einen zottigen Finger an die Schnauze, damit sie still blieb.

»Wir müssen rasch handeln«, flüsterte der Gedemondaner. »Wir haben sehr wenig Zeit und viel zu tun.«

»Wie… wie lange sind Sie schon hier?« fragte sie leise.

»Seit Gedemondas«, sagte das Wesen. »Wir haben uns ferngehalten, wie das unsere Art ist. Wir dachten, sie würden sich auf Brazil stürzen, nicht auf dich, deshalb konnten wir das hier nicht verhindern. Der Schaden am Schacht behindert unser Denken.«

»Sie hatten keine Gewißheit, daß er es wirklich ist«, erklärte sie. »Deshalb wollen sie ihn mit mir erpressen. Sie werden sich wundern.«

»Nichtsdestoweniger bist du für ihn unverzichtbar«, behauptete der Gedemondaner. »Er wird ohne dich die Reparatur nicht ausführen. Und vielleicht bekommt er gar keine Gelegenheit dazu. Meine Brüder und Schwestern bei euren Truppen berichten mir, daß es nicht Brazil ist, der sehr an dir hängt und erpreßt wird.«

Sie sah ihn verwundert an.

»Asam? Aber — was könnte er tun?«

»Brazil im Austausch für dich ausliefern«, kam die Antwort. »Und wir glauben, daß er das tut.« Der Gedemondaner erklärte ihr kurz die sadistische Verschwörung, die er vor wenigen Stunden in dieser Scheune belauscht hatte.

»Aber was können wir dagegen tun?« fragte sie mit gepreßter Stimme. »Wenn wahr ist, was Sie sagen, bin ich… gelähmt, völlig gelähmt.« Ihre Stimme schwankte.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, erklärte der Gedemondaner. »Die erste ist die, Sie zu töten. Das würde sie einer Geisel berauben und Brazil wenigstens eine Chance geben, das Richtige zu tun.«

Sie dachte darüber nach.

»Ich glaube, ich will lieber tot sein, als… in dieser Verfassung… auf lange Zeit.« Sie meinte es ernst, aber es wirkte beinahe abstrakt, als bespräche sie ein theoretisches Problem, von dem sie selbst gar nicht betroffen war. Sie brauchte mehr Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie eine Statue war, ein lebender Klumpen regungsloses Fleisch.

»Es gibt nur eine andere Möglichkeit, die Risiko und Experiment zugleich ist«, sagte der Gedemondaner. »Bitte, glaub mir, daß sie sehr geschickt vorgegangen sind. Dein Körper kann sich außer unter dem Zauber der Dahir nicht mehr bewegen.«

Sie dachte beunruhigt an kleine, eselartige Wesen.

»Wie sieht die Möglichkeit aus?«

»Es gibt eine Prozedur, eine sehr seltsame, die von einigen Sechseck-Welten-Rassen benützt wird, meistens im Norden«, erklärte ihr das weiße, zottige Geschöpf. »Man kennt das hier im Süden nur an einem einzigen Ort — und es ist für den, der es versucht, ebenso gefährlich wie für den Betroffenen. Es handelt sich um die Übertragung der Seele.«

Sie starrte ihn an.

»Sie meinen, ein Überwechseln in einen anderen Körper?«

Der Gedemondaner nickte.

»Genau das. Der Intellekt ist etwas, das unter bestimmten Bedingungen aus dem Körper gerissen werden kann. Wir haben das selbst schon getan, sind aber immer wieder in unser eigenes körperliches Ich zurückgekehrt. In deinem Fall ist das natürlich nicht möglich, und wir könnten es dir in den Stunden, vielleicht nur Minuten, die uns noch bleiben, auch nicht beibringen.«

»Sie meinen, ich würde den Körper tauschen? Mit einem von Ihnen — oder den Dahir oder einem anderen Wesen?« Sie war fasziniert.

»Nicht direkt«, erwiderte der Gedemondaner behutsam. »Zwei Seelen können nur auf Kosten völligen Wahnsinns denselben Körper bewohnen. Ein Austausch ist theoretisch möglich, aber noch nie versucht worden. Es geht etwas verloren. Der Körper stößt den Neuankömmling ab, wie die Einpflanzung eines anderen Herzens oder sonstigen Organs abgestoßen wird.«

Ihre Hoffnung sank.

»Wovon sprechen Sie dann?«

»Ein Austausch ist zwar sowenig möglich wie eine Doppelexistenz, aber die komplexe Seele eines komplexen Wesens könnte in den Körper eines Tieres versetzt werden, dessen eigenes Ich so schwach ist, daß es wenig oder keinen Widerstand leistet.«

»Die Wuckl haben mich einmal chirurgisch in ein Schwein verwandelt«, erinnerte sie sich dumpf. »Was könnte schlimmer sein als das?«

Der Gedemondaner nickte.

»Also gut. Du mußt dir aber über verschiedene Dinge im klaren sein. Erstens: Was das Tier an Seele besitzt, bleibt bestehen. Es wird sich gegen dich wehren, aber du solltest leicht gewinnen und eine Art Verschmelzung erzwingen. Zweitens: Du wirst nicht sprechen können, weil du keinen Übersetzer-Kristall mehr hast — und wenn du ihn hättest, könntest du ihn vermutlich nicht richtig gebrauchen. Aber merk dir auch dies: Innerhalb des Schachtes kann Brazil dich wiederherstellen, wie es ihm gefällt, was gewiß so sein wird, wie du es dir wünschst.«

»Also tun wir das«, sagte sie entschieden.

Der Gedemondaner nickte, drehte sich um, sagte plötzlich:»Da kommt jemand!« und verschwand. Sie starrte auf die Stelle, wo das Wesen gestanden hatte; es war auf seine eigene Weise staunenerregend — noch mehr als Zigeuner. Jetzt, wo sie wußte, daß das Wesen hier war, konnte sie es beinahe sehen, es beinahe atmen hören und etwas Undeutliches erkennen. Beinahe. Die Gedemondaner machen sich nicht unsichtbar; sie sorgten nur dafür, daß man sie aus irgendeinem Grund nicht wahrnahm.

Die Tür ging auf, und zwei Dahir kamen herein. Im Licht kleiner Öllampen sahen sie seltsam aus. Sie kamen nicht weit herein und schauten sich nur um.

»Ich bin sicher, daß ich jemanden reden hörte«, sagte der eine zum anderen. Sie gingen weiter, blickten in jeden Stall, wobei die einzelnen Tiere sich regten, dann gelangten sie zu ihr. Sie tat so, als sei sie immer noch nicht bei Sinnen, und hielt die Augen geschlossen.

Sie hielten lange ein Licht auf sie gerichtet, dann wandten sie sich ab.

»Jetzt ist jedenfalls nichts mehr hier«, stellte der andere Dahir fest. »Vermutlich hat die Gefangene gelallt, weil die Drogenwirkung nachläßt. Du bist zu nervös, Yogastha.«

»Wer wäre das nicht, wenn diese Gespenster sich hier herumtreiben?« murrte der Wächter. Sie gingen zur Tür zurück, traten hinaus und schlossen sie hinter sich.

Der Gedemondaner war plötzlich wieder da, und eine zottige kleine Polsterhand hob sich zu einer kleinen Geste. Zwei andere Gedemondaner traten aus den Schatten und starrten sie an.

»Es wird leichter sein, wenn du bewußtlos bist und dein Geist sich uns öffnet«, sagte der Sprecher. Die kleinen, weichen Hände ergriffen ihren Kopf. Sie wußte und fühlte nichts mehr.

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