Sie studierten, bohrten, verhörten und untersuchten bis in die frühen Morgenstunden, ohne jeden Erfolg. Einige Dillianer nahebei glaubten etwas gehört zu haben, ein paar Hakazit erinnerten sich dunkel, in der Luft etwas vorbeifliegen gesehen zu haben, aber in Wirklichkeit hatten alle miteinander nur sehr wenig gehört und gesehen. Wie ihre Anführer fühlten sie sich im eigenen Lager sicher und neigten dazu, jede Art von Lärm oder Unruhe nicht auf sich zu beziehen und schon gar nicht für feindliche Einwirkung zu halten.
»Warum gerade sie?« stöhnte Asam immer wieder. »Warum nicht Sie, Brazil? Auf Sie hat man es abgesehen, nicht auf Mavra.«
»Aber an mich konnte man nicht heran«, erwiderte Brazil. »Es mußte ein kleines Unternehmen sein, vermutlich von nur ein paar Wesen, vor allem solchen, die man auch auf unserer Seite findet, damit sie nicht auffielen. Außerdem ist man in Bedrängnis. Was, wenn man mich gefaßt, ich sie ausgelacht, mich in etwas anderes verwandelt hätte und verschwunden wäre? Wie sähe man dann aus? Nein. Mavra einzufangen, ist eine ganz andere Sache. Die Dillianer betrachten sie als Idol — und Sie, ehrlich gesagt, auch —, so daß das demoralisierend auf Truppen und Befehlshaber wirken muß. Und sie kennen ihre Geschichte — auf jeden Fall von Ortega, wenn nicht aus anderen Quellen. Sie wissen, daß sie mir etwas bedeutet — die einzige Angehörige, die ich habe, könnte man sagen. Es ist möglich, daß man durch die Gefangennahme Eingeweihter in Erfahrung gebracht hat, was ich vorhabe, nämlich darauf zu bestehen, daß sie mit mir durch den Schacht geht. Erpressung, Rückversicherung, ich weiß nicht. Aber es liegt nahe.«
Asam starrte ihn zornig an.
»Und Sie? Was werden Sie jetzt tun?«
Brazil schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, Colonel. Im Augenblick kann ich nichts anderes tun, als unsere Leute zu veranlassen, daß sie sich damit beschäftigen, aber die Zeit wird knapp. Ich muß bis morgen abend entscheiden, soviel steht fest. Ich glaube immer noch, daß ich den Schacht erreichen kann, aber es ist klar, daß sie so etwas nur unternehmen würden, wenn sie schon hierher zielen. Ich kann es mir nicht leisten, abzuwarten, sonst schneiden sie mir den Weg ab.« Er schwieg kurze Zeit. »Ach, verdammt, es ist einfach nicht gut so! Ich will die Verantwortung nicht tragen, die Maschine abzuschalten. All die vielen Wesen… Alle fort, als hätte es sie nie gegeben. Die Großen und die Kleinen, alle miteinander. Ich weiß nicht, ob ich mich dazu überwinden könnte.«
»Dann nehmen Sie jemand anders mit«, antwortete Asam.
Brazil schaute sich um.
»Wer ist noch geeignet? Zigeuner? Er muß hier bleiben, damit die Täuschung wirkt. Sonst bin ich Freiwild. Und ich bin mir auch gar nicht sicher, was er wirklich ist. Vielleicht bedeutet ihm der Rest des Universums überhaupt nichts. Yua? Sie erwartet von mir, daß ich das Universum auslösche und das Paradies erschaffe. Marquoz? Ich glaube eigentlich nicht, daß Marquoz in seinem Innersten für andere etwas übrig hat, Zigeuner einmal ausgenommen. Sie? Aber Sie wissen nicht einmal, was Sie vernichten. Nur Mavra begreift die Verantwortung wirklich.«
Asam blickte streng auf ihn hinunter.
»In Ihrem Namen sind viele gute Leute im Kampf umgekommen. Haben Sie keine Verantwortung ihnen gegenüber?«
Brazil lächelte schief und schüttelte den Kopf.
»Sehen Sie? Sie begreifen überhaupt nichts. Zivilisationen, zahllose Wesen, Trillionen lebende Geschöpfe, ihre Größe, ihre Gedanken, Ideen und Errungenschaften… für Sie ist das etwas Abstraktes. Nur die wenigen, die hier gestorben sind, sagen Ihnen etwas, weil Sie sie gekannt haben. Die Sechseck-Welt ist zu eng. Es gibt hier keine Michelangelos oder Leonardo da Vincis, keinen Homer, Tolstoi oder auch nur Mark Twain. Keinen Händel oder Beethoven oder Strawinsky. Multipliziert mit all den Rassen im Universum, jede mit ihren eigenen unfaßbaren Schöpfungen. Sie begreifen in Wahrheit gar nicht, was es heißt, das alles auszulöschen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie sagen, das ist richtig«, erwiderte der Zentaur. »Aber ich glaube Sie recht gut zu durchschauen. Es sind nicht all die seltsamen Namen, die Sie in Wirklichkeit berühren, glaube ich. Es ist die Tatsache, daß Sie keinen Dummen haben, der weitermacht, damit Sie sterben können.«
Brazil sah ihn mit uralten Augen an, mit Augen, die Qual und Schmerzen über jede Marter hinaus zeigten, Qual, die Weisheit hervorbringt.
»Wenn Sie das glauben«, sagte er langsam, »dann verstehen Sie mich überhaupt nicht.«
Asam drehte sich um und ging zu seinem Zelt zurück. Es wirkte auf einmal leer, und er wußte selbst nicht genau, was er empfand; er spürte nur den Drang, alles kurz und klein zu schlagen. Er tat es aber nicht, sondern griff in sein Gepäck, holte eine große Flasche heraus und trank in großen Zügen.
Asam träumte nie; jedenfalls konnte er sich, abgesehen von ein paar außerordentlich lebensechten Alpträumen seiner Kindheit, nie an seine Träume erinnern. Aber jetzt schien ihm, als träume er, weil es keine andere Erklärung gab.
Ein Rascheln weckte ihn — jedenfalls glaubte er das —, aber zunächst sahen seine Augen in der Dunkelheit nichts. Dann schien sich das Zelt langsam mit einem geisterhaften weißen Licht zu füllen.
Der Schnaps, dachte er. Das mußte am Schnaps liegen. Und es war der Schnaps, der seine Erinnerung umwölkte, er und die Erschöpfung, die ihn erfaßt hatte. Beides hinderte ihn daran, sofort zu erkennen, was er lange Zeit nicht mehr gesehen hatte, trotzdem aber gut kannte.
Dann begriff er plötzlich, was es war, und seine Hand zuckte zum Schwert. Schußwaffen mochten bei den verdammten Wesen nur oberflächlichen Schaden anrichten, aber zerteilen konnte man sie so gut wie alle anderen.
»Lassen Sie das Schwert, Colonel. Ich bin hier, um mit Ihnen zu reden, nicht, um zu kämpfen«, sagte der Dahbi, als er die letzten Zentimeter aus dem Boden quoll und sich vor ihm, keine drei Meter entfernt, verfestigte.
Asams Hand löste sich nicht vom Schwertgriff, aber er spannte nur die Muskeln an, ohne die Waffe schon herauszuziehen.
»Was, zum Teufel, wollen Sie?« krächzte er.
»Was ich schon sagte; mit Ihnen reden, mehr nicht. Ich habe Ihnen in gewisser Weise schon mehr Schaden zugefügt, als hätte ich Ihnen ein Messer ins Herz gestoßen, wie Ihnen klar sein muß. Sie werden nie wissen, wieviel Befriedigung mir das verschafft hat und wie schmerzhaft es für mich ist, daß ich Ihnen anbieten muß, sie zurückzugeben.«
Asam atmete ein wenig auf, während gleichzeitig die Kälte an seinem Rücken hochkroch.
»Sangh. Gunit Sangh in Person!« stieß er hervor. »Sie haben Mut, das muß man Ihnen lassen.«
»Die Gefahr ist wirklich sehr gering«, gab der Dahbi zurück. »Ich kann durch das Gestein schwimmen, wie Sie wissen. Außerdem wollte ich Ihnen klarmachen, daß ich das kleine Unternehmen vorhin am Abend selbst geleitet habe. Es verleiht allem Nachdruck — und ein bißchen Gerechtigkeit —, finden Sie nicht?«
»Sie haben Nerven!« fauchte Asam. »Gerechtigkeit!«
»Beherrschung, Colonel, Beherrschung!« sagte Gunit Sangh höhnisch. »Ich habe etwas, das Sie wollen. Sie haben etwas, das ich will. Offensichtlich kann das, was ich habe, nicht weit entfernt sein — die Zeit hat nicht gereicht, und ihr seid, wie soll ich sagen, äh, reichlich umfangreich. Aber Sie werden sie nie finden. Sie könnten es vielleicht schaffen, wenn Sie ein paar Wochen Zeit hätten, aber wir rücken derzeit gegen Sie vor, und in Kürze werden Sie so beschäftigt sein, daß Ihnen dafür keine Zeit bleibt. Außerdem würde die Entdeckung nur ihren Tod bedeuten.«
»Sie Dreckskerl«, zischte Asam. »Woher weiß ich, daß ihr sie nicht schon umgebracht habt?«
Der Dahbi wirkte tief getroffen.
»Mein Wort ist nicht gut genug? Nun, mag sein. Aber ich brauche sie — lebend. Tot nützt sie keinem etwas. Lebend ist sie eine Geisel Ihnen und Brazil gegenüber.«
Asam lachte mürrisch.
»Für Brazil ist sie keine«, erwiderte er. »Der Kerl hat schon seit einer Ewigkeit für andere nichts mehr übrig. Er ist so eiskalt wie Sie, Sangh.«
»Sehr bedauerlich«, gab der Dahbi zurück. »Aber das vereinfacht die Dinge auf andere Weise. Wenn er sogar zu Ihnen unliebenswürdig ist, sollte Ihnen das, was ich verlange, um so leichter fallen.«
Der Zentaur sah den anderen argwöhnisch an.
»Was, zum Teufel, meinen Sie damit?«
»Ein Geschäft. Brazil vertraut Ihnen. Ich kann nur vermuten, daß er vorhat, vor dem Kampf Ihre Truppe zu verlassen, wobei er den Tod von Ihnen und Ihren Leuten zur Ablenkung benützt — vielleicht läßt er noch ein Ebenbild zurück, um uns zu täuschen. Aber das wird nicht funktionieren. Darauf sind wir gefaßt. Es spricht alles dafür, daß er nie die Avenue erreichen wird, geschweige denn den Schacht selbst.«
»Wozu brauchen Sie dann mich noch?« knurrte Asam.
»Wir könnten ihn trotzdem verfehlen. Alles spricht dagegen, aber es ist möglich. Er ist sehr schlau.« Er schwieg kurze Zeit. »Äh, wissen Sie genau, welcher der richtige Brazil ist?«
»Ich weiß, wer wer ist«, antwortete der Colonel.
»Deshalb berücksichtige ich auch die letzte Möglichkeit, verstehen Sie? Der Tausch ist ein ganz einfacher — Mavra Tschang gegen Brazil. Im Lauf des kommenden Tages. Sagen wir, spätestens bis morgen nacht um diese Zeit. Damit wird nicht nur das Hauptziel erreicht, sondern auch der kommende Kampf verhindert. Es wird nicht nötig sein, die Truppen in den Tod zu jagen, begreifen Sie?«
Asam runzelte die Stirn.
»Ich traue Ihnen nicht, Sangh. Seit wann kümmert es Sie, wer am Leben bleibt und wer stirbt, wenn es nicht Ihre eigene Person betrifft? Ich habe keine Garantien.«
»Sie haben mehrere«, erklärte Gunit Sangh. »Sie schaffen Brazil zu einem Zone-Tor und schleusen ihn durch. Diplomatische Immunität, ja? Obwohl der Rat gegen Sie ist, wird man in Zone nichts unternehmen. Bringen Sie ihn zu Ihrer eigenen Botschaft. Wir nehmen dort den Tausch vor. Besser noch, schicken Sie Kuriere voraus. Nehmen Sie Brazil mit, aber schleusen Sie ihn nicht durch, bis ein Kurier mit der Nachricht zurückkommt, daß sich Mavra Tschang lebend in meiner Botschaft in Zone befindet.«
Asam hatte sich völlig beruhigt und dachte nach. Schließlich sagte er:»Warum tun Sie das, Sangh? Warum haben Sie den Oberbefehl überhaupt übernommen? Was, zum Teufel, haben Sie davon?«
»Bedenken Sie, welche Ehre sich derjenige erwirbt, der Nathan Brazil dingfest macht«, erwiderte der Dahbi. »Ehre, Macht und Einfluß. Denken Sie an das ideale Gefängnis, Hunderte von Metern unter massivem Granit, der Tunnel, durch den er hinuntergebracht wurde, verschüttet bis auf ein kleines Loch für Nahrung und Wasser. Der Rat wird Brazil nicht bekommen. Die Dahbi — ich — wir werden Brazil haben. Sozusagen als stumme Geisel. Und ich werde die Dankbarkeit aller erwerben, die ihr Leben nicht in sinnlosen Schlachten verlieren mußten. Bedenken Sie die Wirkung auf Ortega, der nicht länger so gefürchtet sein, nicht länger die alleinige Macht besitzen wird. Er wird seine Stellung mir abtreten müssen, und die fette alte Schlange wird endlich sterben, der Einfluß auf Sechseck-Welt und Rat wird gebrochen sein. Es wird bereits gemunkelt, man könne ihm als einem alten Freund Brazils in dieser Sache nicht recht trauen. Die Möglichkeiten sind unabsehbar.«
Asam fröstelte ein wenig, als er sich Gunit Sangh ungezügelt an der Macht vorstellte, aber seltsamerweise beruhigte ihn dieser unheilvolle Plan auch. Sangh war aufrichtig zu ihm, teils aus Vertraulichkeit, teils aus seiner grenzenlosen Arroganz heraus.
»Wir bringen sie morgen, wenn es dunkel ist, nach Zone, und zwar so rasch wie möglich«, fuhr der Dahbi fort. »Wir werden jeden Abgesandten von Ihnen in unserer Botschaft dort empfangen, damit er sich vergewissern kann. Dann haben Sie acht Stunden Zeit, um sich an die Abmachung zu halten.«
»Und danach?« fragte Asam stirnrunzelnd.
»Sie können gemeinsam nach Dillia zurückkehren«, erklärte Sangh. »Zwischen uns persönlich ist damit aber noch nichts ausgestanden, versteht sich. Das bleibt offen — wie bisher. Sicheres Geleit für Sie und die Frau zurück nach Dillia, das ist alles, wofür ich garantieren kann. Danach besteht keine Abmachung mehr.«
Asam seufzte.
»Ich überlege es mir«, sagte er. »Und wenn ich nicht mitmache?«
»Dann wird die Frau das Hauptgericht eines rituellen Festmahls für mein Botschaftspersonal sein, und es wird von ihr keine Spur bleiben«, antwortete der Dahbi kalt.
»Sie gemeiner Kerl«, fluchte Asam wütend. »Sie gemeiner Dreckskerl. Sie und ich werden das eines Tages persönlich austragen.«
»Eines Tages«, bestätigte der Dahbi. »Aber nicht in den nächsten beiden Tagen.« Er verwandelte sich in den milchigweißen Zustand und versank langsam im Boden, bis er völlig verschwunden war.
»Gemeiner Dreckskerl«, sagte Asam in die Dunkelheit hinein, aber sein Gehirn arbeitete bereits fieberhaft. Pläne, Intrigen, Ideen bildeten sich heraus. Er dachte an Zigeuner — aber nein, das ging nicht. Er konnte nicht sicher sein, ob er dem seltsamen kleinen Mann trauen durfte. Es konnte etwas schiefgehen, sie mochten verraten werden. Sangh kannte den Plan ohnehin und würde einen fliehenden Brazil verfolgen. Nein, er mußte sich zwischen Mavra und Brazil entscheiden. Die Wahl fiel leicht.