Das Land Awbri war ein fremdartiger, wuchernder Regenurwald mit riesigen Bäumen, die aus einem dichtbewachsenen Sumpf emporragten und sich Tausende, vielleicht Zehntausende von Metern in die Luft erhoben. Die Luft war schwer und feucht; sie schien ständig von kleinen Tröpfchen erfüllt zu sein, und es gab im Grunde nichts als Wasser, Wasser, Wasser… Wasser von Wasserfällen, die an den Bäumen und über breites Laub in einer Reihe von Kaskaden herabstürzten, hinab, ewig hinab auf den Waldboden tief unten. Und doch gab es ein wenig Sonnenlicht; die gigantischen Bäume blockierten es irgendwo da oben, in den allgegenwärtigen grauen Wolken selbst, vielleicht sogar über diesen Wolken. Die Bewohner von Awbri schienen sich, wenn sie es wußten, nicht darum zu kümmern.
Und unten, tief, tief unten, lag der Boden, der Sockel des Waldes und das Ziel dieser vielstufigen Wasserfälle. Dort unten, so hieß es, befinde sich ein grauenhafter Sumpf, mit Treibsand und Morast und mit Sumpfgeschöpfen, Wesen sowohl Tier wie Schmarotzerpflanze — und sogar fleischfressende Pflanze —, die einander in unaufhörlichem Krieg bekämpften und alles verschlangen, was in ihre Nähe kam.
Doch keines davon konnte klettern, und selbst die Parasiten schienen aufgehalten zu werden, während sie emporwuchsen, von Absonderungen der Riesenbäume zum Stillstand gebracht. Die Insekten waren zumeist Symbioten, oder, wenn parasitär, dann bei Tieren und nicht bei den Bäumen. Von Insekten schien es eine unendliche Vielzahl zu geben. Manche konnten selbst die Körper der Awbrier durchdringen und lebenspendendes Blut heraussaugen, aber auch das war nur gerecht: Zusätzlich zu den Früchten der Bäume und den Pflanzen der Ranken, die sich um gewaltige Äste schlangen, verzehrten die Awbrier ungeheure Mengen von diesen Insekten.
Die Awbrier selbst lebten nur in den Bäumen, ab einer Höhe von etwa hundert Metern bis zu einer solchen von ungefähr fünfzehnhundert Metern. Sie besaßen komisch aussehende kurze Entenschnäbel, die in gewisser Weise biegsam waren, angebracht an dünnen, flachen Köpfen, deren lange Stützhälse sie mit elastischen, beinahe unendlich wendigen Nagetierkörpern verbanden. Ihre vier Gliedmaßen endeten allesamt in gleichgroßen Affenhänden, eine jede davon mit opponierendem Daumen ausgestattet; es gab keinen Unterschied zwischen Hand und Fuß, und sie wurden angesichts des unendlich biegsamen Rückgrats und ebensolcher Gliedmaßen der Awbri jeweils nach Lage der Dinge gebraucht. Abgesehen von den nackten grauen Handflächen und langen, flachen, fast starren, papierdrachenartigen Schwänzen, waren ihre Leiber mit einem dichten Pelz bedeckt, dessen Öle wasserabweisend waren. Alle Gliedmaßen waren durch pelzumhüllte Membranen miteinander verbunden, und ihre Knochen waren hohl, was ihnen in der Luft beträchtlichen vogelartigen Auftrieb verlieh, etwas, das sie brauchten, damit die Wesen mit ausgestreckten Armen und Beinen, den Schwanz als Ruder benutzend, zwischen den Bäumen dahinfliegen und weite Strecken segeln konnten, hurtig um Äste, Laub und andere Hindernisse herumschießend. Im Gegensatz zu Vögeln waren sie letzten Endes Opfer der Schwerkraft, eher Gleiter als durch Körperkraft angetriebene Flieger. Durch das Erspüren der Luftströmungen, von Geschwindigkeiten und Entfernungen konnten sie aber wie Segelflugzeuge sehr lange in der Luft bleiben.
Solcherart war die äußere Welt, in der Yua, ehemals Hohepriesterin von Olympus, durch den Schacht der Seelen wiedergeboren worden war. Die kulturelle Welt war für sie von größerer Schockwirkung gewesen.
Wie bei ihrem eigenen Volk wurden hier viel mehr Frauen als Männer geboren, vielleicht zehnmal soviel oder noch mehr. Aber hier herrschten allein die Männer, während sie in ihrer eigenen Welt lediglich als verzärtelte Kurtisanen eine Funktion gehabt hatten. Sie hatte die Führung des Landes hier gesucht, als sie erwacht war, und war schließlich an den örtlichen Rat verwiesen worden, der seinen Sitz in einem gigantischen Baum ein wenig abseits von den anderen hatte. Bis jetzt war sie unhöflich, ja ausgesprochen grob behandelt worden, und empfand wenig Zuneigung zu ihrem neuen Volk, ein Gefühl, das noch unheilschwangerer wurde, als sie dahinterkam, daß sie einer Familie von niedrigem Rang zugeteilt werden sollte. Sie war eine praktisch denkende Person und nahm die Herrschaft der anderen zunächst hin, weil sie nichts anderes tun konnte und weil die Alternative darin bestand, mit Drogen oder einem Eingriff ins Gehirn zu Zustimmung und Unterwerfung gezwungen zu werden.
Awbri besaß keine Zentralregierung. Das Hex bestand aus Klans, von denen jeder eine ausgedehnte Familie war, in der alle zusammenlebten und arbeiteten. Jeder Baum konnte zwischen zwölf und zwanzig Awbrier versorgen; Klans breiteten sich auf benachbarten Bäumen aus, und ihre jeweilige Macht und ihre soziale Stellung beruhten auf der Anzahl der Mitglieder des Klans und dadurch auf der Zahl der Bäume, die er bewohnte und beherrschte. Innerhalb der Klans, die von so wenig Mitgliedern wie hundert bis zu über fünftausend umfaßten, war der männliche Rang eine Kombination von Alter, Geburt und Proben von Kraft und Ausdauer. Der weibliche Rang hing mehr vom Alter und der Beziehung zum obersten männlichen Mitglied des Klans als von irgendwelchen anderen Dingen ab, allerdings stand die Frau mit dem höchsten Rang immer noch weit unter dem Mann mit dem niedrigsten.
Eine junge Awbrier-Frau holte sie am Morgen. Sie sei Dhutu von Tokar, erklärte sie der Neuen, und wolle Yua helfen, zu ihrem neuen Heim zu gelangen, und wolle sie bei der Eingewöhnung unterstützen.
Dhutu war wenigstens freundlich und half ihr bei den Feinheiten des Fliegens, wobei Yua feststellte, daß sie rasche Fortschritte machte. Sie schien instinktiv Entfernungen schätzen und die träge Luft ›fühlen‹ und ›sehen‹ zu können. Trotzdem fehlte es ihr noch an völligem Zutrauen zu ihrer Fähigkeit, so daß sie sich immer wieder an Bäume klammerte und ihren Weg häufig unterbrach. Dhutu war belustigt, aber geduldig, und bei den Zwischenaufenthalten erfuhr Yua mehr über die Kultur der Awbri.
Die Männer verbrachten ihre Zeit offenbar zumeist bei sportlichen Wettkämpfen und maßen sich auf andere Art miteinander, überwachten aber auch Wirtschaft und Handel und tauschten, was ihr Klan an Gütern hervorbrachte, aus gegen das, was benötigt wurde. Sie entschieden, was an den Asten und in den mit Dünger ausgefüllten Hohlräumen von Zweigen angebaut wurde; sie entschieden praktisch über alles. Nur Männer erhielten überhaupt eine Ausbildung. Yua empfand Dhutus Unwissenheit als beinahe schreckenerregend. Die Awbri-Frau betrachtete Lesen und Schreiben als Zauberei; Bücher und Schrift waren geheimnisvolle Symbole, die nur zu Männern ›sprachen‹. Sie hatte keine Ahnung, was im nächsten Hain außerhalb ihrer eigenen Nachbarschaft lag, und wußte auch nicht, daß sie sich auf einem Planeten befand — oder auch nur, was ein Planet sei. Sie wußte natürlich, daß es andere Rassen gab; die Sechsecke waren zu klein, als daß dies hätte verborgen bleiben können. Aber sie besaß keine näheren Kenntnisse von ihnen, denn sie waren alle Ungeheuer und zu begreifen nur von Klanführern. Und außerdem kannte sie keine Neugier.
Die Frauen verrichteten, wie sich zeigte, die Arbeit. Sie brachten nicht nur die Jungen zur Welt und zogen sie auf, sie ernteten die Äste ab, brachten die Ranken und Früchte ein, stellten den Spezialdünger für besseren Ertrag her und waren auch die Handwerker und Warenerzeuger. In Holz zu arbeiten, war hier komplizierte Arbeit, mußte aber geschehen, ohne den Baum abzutöten. Sie bauten und hielten verschachtelte Wohnungen im Inneren der Bäume instand und erzeugten die reichverzierten Holzarbeiten, die auffälligen Möbel, Kunstgegenstände und Haushaltgeräte, wie etwa Vasen. Sie bauten ferner fremdartige Musikinstrumente für kunstvoll gearbeitete Kompositionen — natürlich von Männern geschrieben — und die Werkzeuge und Waffen für ihre eigenen Arbeiten und die Sportarten der Männer.
Die beiden erreichten einen Baum — ihren Baum, erklärte ihr Dhutu — und landeten auf einem niedrigen Ast. »Das ist ein neuer Baum«, wurde Yua mitgeteilt, »das heißt, er ist bei einem Handel mit dem Mogid-Klan erworben worden, der zusätzliche Früchtepflanzungen benötigte. Wir hatten überzählige Fruchtbäume in der Nähe ihrer Grenze, sie besaßen einige freie Wohnbäume nahebei, und wir brauchten mehr Raum. Für uns war das sehr aufregend, weil so etwas vorher noch nie vorgekommen ist. Wir beginnen erst jetzt damit, den Baum richtig zu entwickeln, eine Arbeit, an der du dich beteiligen kannst.« Dhutu sagte es mit solcher Begeisterung, daß Yua vermutete, man erwarte von ihr, daß sie vor Freude außer sich sei.
Sie betraten eine große Höhlung und stiegen eine Leiter zu einem niedrigeren Geschoß hinunter, das schon stärker ausgebaut war. Die Bäume waren riesig; Yua vermutete, daß dieser hier einen Durchmesser von dreißig Metern und mehr haben mußte; das eigene Lebenssystem in seinem Außenbereich. Die Bäume schienen von Natur aus hohl zu sein, so daß sie wenig Schaden erlitten, wenn sie im Inneren bewohnt wurden, aber was dort getan worden war, erwies sich in der Tat als überaus eindrucksvoll.
Die neue Etage stand im Begriff, umgewandelt zu werden. Frauen waren eifrig damit beschäftigt, alles abzuschmirgeln. Sie gebrauchten Hobel und kleine Werkzeuge, um das Innere so umzubauen und umzugestalten, daß es eher von Hand gefertigt als natürlich gewachsen aussah. Sie taten das aber mit solchem Bedacht, daß die Konturen des Baumes und der verschiedenen natürlichen Gegebenheiten genutzt wurden. An verschiedenen Stellen wurde gleichzeitig geschmirgelt, gedrechselt, poliert und abgeschliffen, während Handwerkerinnen in das Holz komplizierte Muster einschnitten. Es war offensichtlich, daß auch der dicke Boden zum größten Teil natürlicher Art war, aber man hatte ihn so glatt gemacht, daß er völlig eben geworden war und wie poliertes Holz von Möbeln glänzte.
Dhutu blieb stehen und rief:»Meine Schwestern! Lernt unsere neue Schwester Yua kennen, die bei uns wohnen wird!« Die anderen unterbrachen ihre Arbeit, drehten sich herum, nickten ihr freundlich zu und arbeiteten weiter.
»Komm, daß wir dich unterbringen«, fuhr die Awbrierin fort, ging zu einer geschickt verborgenen Falltür, öffnete sie und kletterte hinunter. Yua folgte ihr. Es schien ihr nichts anderes übrigzubleiben.
Untere Geschosse waren fertig und wirkten dadurch noch eindrucksvoller. Das Faszinierendste schien die Art zu sein, wie ringsum eine Art Leuchtfirnis angebracht worden war, so daß das Licht ganz winziger, glasbedeckter Lampen die großen Räume zu erhellen vermochte. Der lebende Baum war so feucht, daß von den kleinen Öllampen fast überhaupt keine Brandgefahr ausging. Trotzdem wäre ein helleuchtendes Feuer, wie es unter normalen Umständen nötig gewesen wäre, um den Raum zu erhellen, viel zu gefährlich gewesen, selbst wenn es einen Rauchabzug gegeben hätte.
In einer bestimmten Etage hielten sie sich überhaupt nicht auf; diese war vom Boden bis zur Decke durch Vorhänge verhüllt. »Die Unterkunft der Männer«, erklärte Dhutu, als sie weiterstiegen. Das nächste Geschoß enthielt Unterkünfte für eine Reihe älterer Awbri-Frauen, den Aufseherinnen dieser Welt. »Alle über ihre Zeit hinaus«, flüsterte Dhutu geheimnisvoll. »Man muß ihnen stets Respekt bezeugen.«
Yua wurde zu einer alten Awbri-Frau geführt, die auf einem großen weichen Kissen lag wie eine Katze. Yua brauchte keinen Hinweis, um zu wissen, daß diese Frau sehr alt war; ihr Schnabel zeigte Altersflecken; ihre Hände waren faltig und runzlig, und sie war so dünn, daß sie beinahe wie ein Skelett aussah; ihre Haut, wegen der Membranen schon schlaff, schien überall, vom Gesicht bis zum Schwanz, herabzuhängen.
»Verehrte Großmutter«, sagte Dhutu mit einer leichten Verbeugung, »das ist die, deren Ankunft man uns mitgeteilt hat.«
Die alte Frau blickte kurzsichtig zum Neuzugang hinauf. Schließlich sagte sie mit spröder, brüchiger Stimme:»Du bist diejenige, die einmal ein anderes Wesen war?«
Yua entschied, daß es in diesem Stadium besser war, die führende Garnitur, vor allem die untere, nicht zu verärgern; sie nickte deshalb und schwieg.
Die Alte schien zufrieden zu sein.
»Es wird dir hier nicht gefallen«, sagte sie abrupt.
Yua fand, daß das nach einer Antwort verlangte.
»Es ist nicht das, was ich gewöhnt bin«, erwiderte sie. »Ich bewundere die Bäume und die Leistung, aber nicht alle Gebräuche, von denen ich höre, daß ihr sie hier habt.«
Die Alte nickte.
»Was hast du vorher gemacht?« fragte sie.
»Ich war eine Sprecherin, eine, die reiste, eine… eine religiöse Führerin«, erwiderte Yua, nach den richtigen Worten in der neuen Sprache suchend.
»Du könntest also ein Buch so halten, daß es zu dir spricht?«
Yua nickte.
»Das könnte ich — aber in meiner alten Sprache, versteht sich.«
Die ältere Frau seufzte.
»Dir wird es hier gar nicht gefallen«, wiederholte sie mit Nachdruck, dann verstummte sie für so lange Zeit, daß Yua verlegen wurde und fürchtete, die Alte sei eingeschlafen. Aber Dhutu blieb in achtungsvoller Haltung stehen, so das Yua es für angebracht hielt, ihrem Beispiel zu folgen.
Schließlich öffnete die alte Frau ihre Augen wieder und sah Yua an.
»Du wärst besser Zimmererin, Landwirtin oder Handwerkerin gewesen«, krächzte sie. »Du hast keine Fähigkeiten, die hier von Nutzen wären, so daß du nur für die langweiligste, eintönigste Hilfsarbeit zu gebrauchen bist. Sie wird dich wahnsinnig machen. Du wirst versuchen, deine Schlauheit zu zeigen, und wenn es etwas gibt, das die Männer von Frauen nicht hinnehmen, dann das. Du wirst eine Bedrohung sein, und Bedrohungen muß man ausschalten. Schließlich wird man dich zu einem Heilenden schicken, und dann wirst du nicht mehr denken.«
Yua überlegte.
»Du sprichst selbst nicht so dumm oder unwissend«, stellte sie fest.
Der Schnabel der Alten wölbte sich zu dem, was bei den Awbriern als Lächeln galt.
»Aber ich bin geübt im Überleben«, erwiderte sie stolz. »In dieser Gesellschaft aufgewachsen, fand ich Wege, klug zu sein und zu lernen, aber das die anderen nie merken zu lassen. Das entstammt der Erfahrung eines ganzen Lebens, und diese Zeit hast du nicht. Man nennt das Gerissenheit, glaube ich. Und was nützte sie? Daß ich meine letzten Tage auf einem Polster verbringe, Drogendämpfe einsauge und davon träume, wie sinnlos alles gewesen ist.«
Wenn Dhutu von diesen Worten entsetzt war, ließ sie sich das jedenfalls nicht anmerken. Sie regte sich kaum.
»Ich glaube«, flüsterte Yua, »daß an dieser Gesellschaft hier mehr ist, als einer Neuen — oder einem Mann — auf den ersten Blick auffällt.«
Wieder kam das Lächeln.
»Ja, so ist es. Innerhalb des Klans gibt es die Gilden, und innerhalb der Gilden Dinge, die — nützlich sind. Eine verborgene Schule, könnte man sagen. Ich verrate dir das nur, weil es für dich auffälliger sein wird als für die Männer, und du wirst besser bestehen, wenn du dich nicht verrätst, nicht die falschen Fragen stellst. Du wirst wissen, daß die Herrschaft der Männer hier eine absolute ist. Sie können mit dir tun, was sie wollen, und du hast keine Rechte und nichts zu bestimmen. Aus diesem Grund geschieht alles, was wir tun, unter großer Gefahr, und ist trotzdem notwendig. Wir haben dieselben Gehirne und Fähigkeiten wie die Männer und dürfen es nicht zeigen. Wir müssen weitab im Hintergrund arbeiten, damit unsere eigenen Ideen als die der Männer, nicht als unsere eigenen gelten.«
»Aber warum?« fragte Yua. »Warum ist das so? Das System scheint reif zu sein für eine Revolution.« Sie hatte Mühe mit diesem Begriff, weil es in der Sprache Awbris dafür keine Entsprechung gab. Der Ausdruck klang wie ›ändern, wie die Dinge stehen‹, aber was sie meinte, war klar.
Die Alte seufzte.
»Mein Kind, du weißt noch nichts und begreifst nicht. Wenn deine erste Zeit vorbei ist, wirst du einsehen, daß dieser Weg der einzige ist. Geh jetzt. Ich befreie dich bis zu deiner ersten Zeit und der Aufnahme in den Klan von der Arbeit. Danach wird dir manches klarer sein. Es mag sein, daß du dich danach wirst umbringen wollen.« Ihre Augen verengten sich. »Und merke dir, wenn irgendeine Gefahr besteht, daß du, und sei es zufällig, verraten könntest, was du jetzt weißt, wirst du einen noch leichteren und schnelleren Ausweg finden.«
Mit dieser Drohung war das Gespräch beendet. Die alte Frau ließ sich zurücksinken, griff nach einem kleinen Kästchen voll feinem, weißem Pulver, sog tief die Luft ein und schien in eine Art lustvoller Versunkenheit zu verfallen. Dhutu machte eine Geste, und sie gingen hinaus und stiegen eine Etage hinunter.
Die Frauen wohnten in spartanischen Unterkünften in verschiedenen Stockwerken, aufgeteilt nach Gilden — Zimmerei, Landwirtschaft, Handwerk und so weiter —, während die unterste Etage für die Frauen ohne Gilde oder Handwerk vorgesehen war. Sie sah aus wie die anderen, ein nackter Raum mit Strohkissen zum Schlafen, einem einfallsreichen Leitungssystem, das Wasserfälle im Freien anzapfte und das Wasser durch den dicken Stamm herein- und wieder hinausführte, sowie mit einer Toiletteneinrichtung für alle. Aber im Gegensatz zu dem Trog für Waschen, Baden und dergleichen, führte der Toilettenabfluß zu einer Stelle unterhalb des untersten Geschosses, wo ein natürliches System das Abwasser wegfilterte. Die Fäkalien der Awbrier trugen dazu bei, den Baum zu nähren, so daß es sich um ein kluges System handelte, aber die Etage genau darüber wurde dadurch zu einem von Gestank erfüllten Ort — und das war natürlich der Wohnraum für ungelernte und nicht einer Gilde zugehörigen Arbeiterinnen; Yuas Unterkunft.
»An den Gestank gewöhnst du dich«, versicherte ihr Dhutu. »Wenn du eine Zeit hier bist, merkst du ihn gar nicht mehr. Wir haben alle so angefangen. Die meisten deiner Schwestern werden sehr jung und noch keiner Gilde zugeteilt sein — oder sehr, sehr dumm. Du verstehst?«
Yua nickte wenig begeistert.
»Dhutu, etwas ist mir immer noch nicht klar: das mit meiner ›Zeit‹. Zuerst habe ich dich mißverstanden und dachte, du sprichst von der Zeit im allgemeinen. Aber so ist es nicht. Die Alte oben fing auch davon an. Was bedeutet das?«
Dhutu zögerte kurz.
»Am besten erlebst du das selbst. Es ist schwer zu beschreiben. Es ist einfach deine Zeit, das ist alles. Du wirst schon sehen. Dann brauchst du es dir nicht erklären zu lassen.«
Zufriedenstellend war das nicht, aber trotz ihrer Bemühungen war das alles, was sie erfahren konnte.
Die nächsten Tage vergingen langsam, doch sie erhielt ein wenig Freiheit, um zu sehen, welche Art von Arbeit dazugehörte, einen Baum bewohnbar zu machen, und sie wurde ein wenig in das Leben eingeführt, das hier stattfand. Nur manche der Bäume waren Wohnbäume, riesengroß, mit hohlem Inneren, um ganze Kolonien von Awbriern aufzunehmen; andere boten von sich nichts als flache Äste mit Vertiefungen, in denen der aus gekauter Rinde, Stroh, Insekten und allerhand anderen Dingen hergestellte Dünger, geknetet mit Speichel aus Drüsen, über welche nur die Frauen verfügten, untergebracht war und geschickt mit Saatgut versehen und liebevoll gepflegt wurde, bis irgendwelche Pflanzen darin wuchsen.
Yua machte sich auch immer mehr Gedanken über Obies großen Plan. Sie war sicher, daß etwas schiefgegangen sein mußte. Sie sollte eine Armee aufbauen und führen oder wenigstens Ansätze dazu unternehmen, unterwegs andere für ihre Sache zu begeistern, und sich schließlich in einem Hex namens Glathriel mit von Marquoz und Mavra Tschang aufgestellten Streitkräften treffen, wo immer die beiden jetzt sein mochten. Aber selbst wenn sie gewußt hätte, wo das war und wo sie selbst sich befand, machte das System von Awbri es ihr praktisch unmöglich, das Verlangte zu tun. Und sie konnte auch wahrlich nicht erkennen, welche Fähigkeiten die Awbrier besitzen sollten. Oder Obie brauchte die Awbrier wirklich aus irgendeinem Grund, als irgendeinen Ausgleich — da war etwa ihr Allesfressertum und das Flugvermögen —, und hatte bei ihrer Verschlüsselung vergessen, das richtige Geschlecht anzugeben. Vielleicht hätte sie ein Awbri-Mann werden sollen. Das hätte mehr Sinn ergeben.
Und die Zeit verrann. In ganz kurzer Zeit würde sich die Flut von Wesen in die Sechseck-Welt ergießen — wenn das nicht schon begonnen hatte. Die Bevölkerung der Sechseck-Welt würde sich verdoppeln, selbst in Awbri. In manchen Fällen würde das bestehende System völlig zusammenbrechen. Vielleicht würde, wenn die Neuzugänge von Olympus die Mehrheit gegenüber der Bevölkerung von Awbri ausmachten, die Revolution von selbst eintreten und sie dann in einer Lage sein, sie um sich zu scharen und zu führen, dachte Yua hoffnungsvoll. Sie konnte nur hoffen und warten, und das mit Ungeduld.
Mehrmals dachte sie an Flucht, aber das schien eine Sackgasse zu sein. Sie allein würde nichts bewegen; jedes Hex war ohnehin wie ein eigener fremder Planet, und sie hatte keine Ahnung, wo auf dieser Welt sie sich befand.
Aber es war trotzdem zum Wahnsinnigwerden, um so mehr, als das Dasein völlig entwürdigend erschien.
Eine Woche nach ihrer Ankunft bekam sie seltsame Gefühle und erlebte fremdartige Träume, die sie mit keiner Wirklichkeit in Verbindung zu bringen vermochte. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt. Sie fürchtete, daß sie krank geworden war, aber die anderen versicherten ihr, das, was sie erlebe, sei normal und natürlich. Sie nähere sich ihrer Zeit.
Und eines Morgens erwachte sie vollständig in ihr. Sie spürte ein ungeheures Verlangen, ein absolutes Bedürfnis, befriedigt zu werden, wie eine Rauschgiftsüchtige, die zu lange ohne ihre Droge gewesen war. Es war eine Gier ohne jede Vernunft, nicht zu glauben. Ihr ganzer Körper schmerzte vor Verlangen, und sie konnte überhaupt nicht denken, sie vermochte sich nicht zu beherrschen. Ihr ganzes Wesen wünschte, brauchte, begehrte nur eines, und nichts anderes war von Belang, bis sie es bekam. Die älteren Frauen wußten ebenfalls Bescheid und veranlaßten das Erforderliche.
Bald danach befand sie sich in den oberen Geschossen, in den Unterkünften der Männer, und sie gaben ihr, was sie wünschte, brauchte, begehrte. Sie hatte keine Ahnung, wie viele es waren oder wie lange es dauerte, und konnte sich danach auch an nichts erinnern, außer an die ungeheure, höchste Lust, die sie empfunden hatte, und daran, daß sie alles, wirklich alles, für sie getan hätte.
Später erfuhr sie, daß es zwei Tage und Nächte gedauert hatte — was, wie man ihr sagte, ungefähr dem Durchschnitt entsprach. Und das wiederholte sich alle sechs Wochen, außer während der Schwangerschaft — die Hormone, die durch die Schwangerschaft ausgeschüttet wurden, machten eine Person gefügig und ein wenig verträumt, zum Ende hin immer mehr.
Sie kam sich noch entwürdigter vor, nicht allein um der Dinge willen, die sie erlebt hatte, sondern ihrer eigenen unbeherrschbaren Leidenschaft wegen. Sie hatte als Olympierin auch schon sexuelle Beziehungen gehabt, aber nichts von dieser Art. Nicht annähernd. Das war an und für sich selbst eine Droge, ein so lustvoll starkes und umfassendes Gefühl, daß die Erinnerung als lusterregender Schmerz blieb und ihr Denken der nächsten ›Zeit‹ freudig entgegensah, während ihre Vernunft sie fürchtete und verabscheute.
Und das war die Falle, begriff sie jetzt. Das war gemeint gewesen mit der Behauptung, warum es keine Revolution gegeben hatte und keine geben würde, und weshalb die Männer in ihrer Stellung so gesichert waren. Die Frauen mochten ruhig rebellieren — die Männer brauchten nur zu warten, bis die ›Zeit‹ die Rebellen zwang, zurückzukriechen und zu flehen, so inbrünstig, daß sie vermutlich ihre beste Freundin getötet hätten, sollte diese versuchen, sie aufzuhalten. Diese Gesellschaft stand unter einer grausamen biologischen Diktatur, einer absoluten. Das weibliche Fortpflanzungssystem war dem Anschein nach mit seinen Eiern sehr geizig, und selbst bei diesem System kam eine Schwangerschaft alle zwei oder drei Jahre nur einmal vor. Die Bedingungen mußten bei Mann und Frau absolut vollkommen sein, wenn Junge aus ihrer Verbindung hervorgehen sollten.
Praktisch das einzig Positive daran war, daß alle Frauen sie jetzt ›Schwester‹ nannten und sie von allen im Klan viel besser behandelt wurde, sogar von den ganz wenigen Männern, denen sie begegnete. Sie war jetzt eine von ihnen.
Alle diese Dinge veranlaßten sie erneut, über die Bemerkungen und Warnungen der alten Matriarchin nachzudenken. Mit Obies Plänen stimmte entschieden etwas nicht, und sie saß in der Falle, endgültig in der Falle. Selbst eine Flucht kam nun nicht mehr in Frage, weil die ›Zeit‹ von selbst kein Ende nahm und sich fortsetzte, bis Erlösung kam, und dafür gab es nur den einen Weg.
In dieser Nacht schlief sie, völlig niedergeschlagen, endlich ein, dämmerte unruhig dahin und träumte. Sie war sich bewußt, daß sie träumte, und trotzdem erschien ihr alles so wirklich. Sie war wieder Olympierin und umflutet von einem fremdartigen, schimmernden, purpurnen Leuchten. Sie spürte, daß etwas in ihrer Nähe war, sie umgab, allumfassend.
»Obie?« rief ihr Traum-Ich.
»Ich bin hier, Yua«, ertönte die vertraute Tenorstimme des Supercomputers.
»Aber du bist tot«, wandte sie ein. »Ich träume das alles nur.«
»Hm, ja, ich muß tot oder wenigstens schwer beschädigt sein«, gab der Computer zu. »Sonst würden wir diese kleine Unterhaltung nicht führen. Meine Befürchtungen haben sich offenbar bestätigt — das Zusammengehen mit Brazil hat mich schwer beschädigt oder zerstört, und deshalb muß die Aufgabe auf die mühsame Art und Weise bewältigt werden. Sehr bedauerlich. Wenn er nicht so stur gewesen wäre, hätte ich ihn auf die Sechseck-Welt zu einer Avenue hinunterbeamen können, und wir hätten diese Probleme nicht.« Er machte eine Pause. »Na, wem rede ich das ein? Bei dem Riß im Raum-Zeit-Kontinuum war ich ohnehin zu kaputt, um das zu schaffen. Es spielt keine Rolle. Worauf es ankommt, ist, daß Sie, wenn wir uns so unterhalten, in Awbri sein müssen und Ihre erste Zeit hinter sich haben.«
Sie zuckte überrascht zusammen.
»Das weißt du? Aber — was sage ich? Das ist ein Traum. Wunscherfüllung, mehr nicht. Ich spreche nicht wirklich mit dir.«
»Sie haben in vielem recht, aber im letzten Punkt nicht«, gab der Computer zurück. »Ja, das ist ein Traum. Sie schlafen jetzt irgendwo unten in einem Baum in Awbri. Und ich bin auch nicht wirklich hier oder in der Nähe. Selbst wenn ich hingelangen könnte, bezweifle ich, daß ich die Kraft hätte, den nullifizierten Raum und diesen ungeheuren Kurzschluß markovischer Energie zu überwinden. Aber wir führen dieses Gespräch — wir haben es schon geführt, um genau zu sein. Als Sie das letztemal durch mich hindurchgegangen sind, ist das alles von mir tief in Ihr Unbewußtes eingepflanzt worden, um im richtigen Augenblick heraufzukommen. Das konnte erst geschehen, nachdem Sie das erstemal in Brunst gewesen waren. Sie mußten erfahren, womit Sie fertig werden müssen.«
»Ich glaube das einfach nicht«, erklärte sie sich und dem Geistercomputer. »Ich bilde mir nur ein, was ich mir verzweifelt wünsche.«
»Dann bilden Sie sich doch folgendes ein«, schlug der Computer vor. »In diesem Augenblick sehen Sie eine Karte Ihres Gebietes auf der Sechseck-Welt, und Sie können erkennen, wo Sie sich im Hinblick auf Glathriel befinden. In Ihrer Vorstellung befinden sich zur Zeit auch Instruktionen über die Lebensformen und dergleichen in den Sechsecken dazwischen. Und hier gebe ich Ihnen auch noch eine vollständige politischtopographische Karte von Awbri. Sie werden Sie bald brauchen.«
Und so war es wirklich. Da stand alles, in allen Einzelheiten klar und deutlich, nun so sehr Teil ihres Denkens, daß sie daran zweifelte, es jemals vergessen zu können. Sie begann einen Hoffnungsschimmer zu spüren, daß ihr Traum vielleicht doch Wirklichkeit sein mochte.
»Aber was nützt mir das alles, Obie?« fragte sie, immer noch geknickt. »Wenn du mich zu einem Mann gemacht hättest, wäre ich vielleicht in der Lage gewesen, etwas zu unternehmen, aber so!«
Obie lachte leise.
»Tut mir leid. Ich dachte, daß gerade Sie ein bißchen mehr aushalten. Überlegen Sie. Die Frauen sind zahlenmäßig schon einmal in der Mehrheit und genauso klug wie die Männer. Vielleicht sogar noch klüger. Und sie haben bei der Umwälzung natürlich am meisten zu gewinnen. Die Männer würden dich bekämpfen, vielleicht rundweg töten. Sie verfügen über eine hübsche, kleine, schön verpackte Welt, die zu ihrem eigenen Vergnügen und ihrem Genuß da ist. Sie sind gegen jede Veränderung eingestellt — konservativere Figuren können Sie sich nicht vorstellen. Fast alles an Schöpferischem und Fortschrittlichem in Awbri stammt in Wahrheit von den Frauen, insgeheim gefördert und danach hier und dort dem Gehirn des einen oder anderen jungen Mannes sozusagen eingepflanzt. Eine bei der Arbeit gepfiffene Komposition, die Idee zu einem einfachen Federmechanismus, einem männlichen Jungen eingegeben, während er noch seiner Mutter am Rockzipfel hängt. Er ›erfindet‹ das später auf wundersame Weise und bildet sich ein, das wäre wirklich sein Werk. So bei allem. Ohne die Frauen wäre dort alles in hirnlosen Animalismus versunken, Schluß. Aber wenn der Anstoß kommt und die Awbrier vor die Wahl gestellt sind, sich entweder den Streitkräften Brazils anzuschließen oder ihn um jeden Preis aufzuhalten, werden die Männer von Awbri ausnahmslos für das letztere sein. Sie können nicht anders. Er könnte ihnen alles verderben und ihre hübsche, kleine Welt auf den Kopf stellen.«
Sie begann langsam zu begreifen.
»Aber nicht die Frauen.«
»Genau! Sie haben von einem Wandel am meisten zu erwarten. Nie war ein Land reifer für die Revolution und hat sie mehr verdient. Sagen Sie, glauben Sie, die Frauen würden revoltieren, wenn sie könnten?«
Sie überlegte kurz und dachte vor allem an die Bemerkungen der alten Frau über verlorengegangene Gelegenheiten.
»Nicht alle, natürlich — aber gewiß die Führenden. Diejenigen, die ein bißchen Gehirn haben.«
»Also diejenigen, die zählen«, erklärte Obie. »Die übrigen werden sich wie eine Schafherde den Gewinnern anschließen und ihnen zujubeln. Und was hält sie zurück? Was hat verhindert, daß eine Revolution stattfinden konnte?«
»Die Zeit«, erwiderte sie sofort. »Wenn man alle sechs Wochen in unbezähmbare Brunst verfällt, gibt es nicht viel, was man tun kann.«
»Eben«, bestätigte der Computer. »Was müssen wir also einführen, um eine Revolution hervorzurufen, wie wir sie brauchen — nach Plan, kurz vor dem Erscheinen der vielen Neuzugänge?«
»Man würde alle Männer töten müssen«, antwortete sie, stutzte aber plötzlich. »Nein. Das würde nichts helfen. Wir wären dann alle nur von niemals aufhörender Brunst erfüllt.«
»Was ihr braucht«, fuhr Obie fort, »ist etwas, das verhindert, daß die Zeit sich einstellt. Ihr braucht das eine, woran eine Rasse, die sich so langsam fortpflanzt, daß die Frauen immer in der Brunst sind, niemals denken würde, nicht einmal die intelligenteste. Ihr braucht etwas zur Geburtenkontrolle — genauer, ein chemisches Mittel zur Geburtenkontrolle, das dem Körper vormacht, die Zeit sei gar nicht gekommen.«
Der Gedanke erregte sie.
»Ja! Natürlich!« Dann zögerte sie und überlegte. »Aber da tauchen zwei Probleme auf. Einmal die psychologische Sucht, die durch das Erlebnis erregt wird. Das ist unfaßbar. Obie! Das Lustzentrum im Gehirn wird direkt angesprochen. Ich weiß nicht, ob jemand, der das erlebt hat, sich jemals dazu überwinden könnte, sich das zu versagen.«
»Nicht einmal Sie?« gab der Computer sofort zurück.
Sie dachte nach.
»Ich natürlich schon, aber ich könnte mir vorstellen, daß ich so süchtig werde, daß ich nicht mehr aufhören kann. Die meisten Frauen in Awbri haben das so oft erlebt, daß es unmöglich für sie wäre, aufzuhören. Und dazu käme natürlich noch das andere Problem — bei einer Rasse, die sich so langsam fortpflanzt, würde man natürlich zögern, das Mittel an Frauen zu verabreichen, sogar bei den führenden. Sie würden nicht wollen, daß ihre Rasse ausstirbt.«
»Beides richtig«, räumte der Computer ein. »Ich habe Awbri nun aus mehreren Gründen ausgesucht. Der eine ist die geographische Lage — Sie können rasch dorthin gelangen, wo Sie hinmüssen. Ein anderer ist Bewegungsfähigkeit im Verein mit Behendigkeit. Unterschätzen Sie das Potential Ihrer Rasse als Kämpfer nicht, und ihre Flugfähigkeit verbindet sich mit einer Stärke und Wendigkeit, die man bei Vogelarten nicht findet. Im Gegensatz zum Vogel seid ihr nicht zerbrechlich. Ihr seid in vielem geschützt. Und der letzte Grund ist der, daß die Wahl von Awbri einen sicheren Feind in einen Verbündeten verwandelt. Um das zu erreichen, mußte ich die Biochemie von Awbri und das Biom des Sechsecks analysieren und feststellen, ob möglich war, was ich wollte. Wenn das nicht zuträfe, wären Sie nicht dort.«
»Es gibt also einen Ausweg!« Sie war jetzt ganz aufgeregt. Der Traum wurde wirklicher als ihre wahre Lage — schlafend auf einem Strohsack über einem Dunghaufen auf der Sechseck-Welt.
»Ja. Allerdings. Wenn das nicht der Fall wäre, hätte dieses Gespräch keinen Sinn, und Sie wären, offen gesagt, an einem anderen Ort und ein anderes Wesen.« Obie wurde von einer nervösen Pause unterbrochen. »Ähm, immer vorausgesetzt, Sie sind wirklich in Awbri, und ich habe keinen Fehler gemacht. Oje. Wenn das der Fall ist, sagen Sie mir, was Sie sind, und ich schalte auf andere Mitteilungen um, die vielleicht nicht so nützlich sind, aber doch einen Beitrag leisten sollten.«
»Ich bin in Awbri«, versicherte sie. »Wie hätten wir sonst das vorherige Gespräch führen können?«
»Meine Liebe, Sie begreifen nicht, daß für mich dieses Gespräch überhaupt nicht stattgefunden hat. Es handelt sich um eine Reiz-Antwort-Angelegenheit, wobei Ihr eigenes Denken durch meine vielen Hinweise die Lücken ausfüllt. Lassen Sie mich jedenfalls weitermachen. Erstens«, sagte Obie, »gibt es einen Trank aus sieben verschiedenen Pflanzen, der hervorrufen wird, was medizinisch gesehen ein Hormonzusammenbruch wäre, der Sie aber nicht wirklich schädigt und Sie von der Zeit befreit. Der Trank ist leicht herzustellen und wird gräßlich schmecken, aber solche Opfer für die Revolution sind notwendig.« Mit diesen Worten gelangten die vollständigen Zutaten in ihr Gehirn, nebst Angaben darüber, wo man sie beschaffen konnte und richtig zu mischen imstande war. Es war Hitze dafür erforderlich, stellte sie fest, und es gefiel ihr nicht, wo zwei der Pflanzen herkamen.
»Das sind Pilze vom Boden!« wandte sie ein. »Obie, weißt du überhaupt, wie gefährlich der Boden ist?«
»Nein«, erwiderte der Computer. »Sie etwa? Aber was macht das schon? Ein gewisses Risiko gehört sich. Um also fortzufahren: Ich muß Sie vor mehreren Nebenwirkungen warnen. Die eine ist die, daß man von dem Zeug süchtig wird. Aber ich würde mir da keine großen Gedanken machen — wie Sie dem Rezept entnehmen können, wirkt eine kleine Menge sehr lange Zeit. Nehmen Sie sechs Wochen lang jeden Tag etwas ein, und wenn die Zeit eintreten sollte und es nicht tut, werden Sie wissen, daß das Getränk wirkt. Die Wirkung auf die Frauen, die es trinken, sollte elektrisierend sein. Danach wird eine alle fünf bis sieben Tage getrunkene Menge den Zustand aufrechterhalten. Zum Glück braucht ihr keinen Kalender; eure Körper werden nach dem Zeug gieren, wenn es nötig wird — und nach der Anfangsperiode muß die Menge nicht mehr gesteigert werden. Ihr braucht einen Vorrat, wenn ihr unterwegs seid, aber ich füge für jede Zutat die vollständige chemische Formel bei. Biochemisch ist nichts so ausgefallen oder so selten, daß ein Hochtech-Hex nicht eine größere Menge herstellen könnte, vielleicht sogar in Pillenform, und das innerhalb von Wochen. Erheben Sie diese Forderung sofort, wenn Sie Verbindung mit den anderen herstellen, und sei es nur eine nachrichtliche. Und schließlich sollte ich noch warnend darauf hinweisen, daß die Droge körperliche Anziehungskraft zwischen Frauen erregt. Ich glaube nicht, daß Sie das stören würde, wenn ich an Olympus denke, und ich bezweifle, ob es bei den Awbrierinnen zu einem größeren Problem werden könnte. Es wird auf viel schwächere Weise die Lustzentren anregen und es erleichtern, die psychische Sucht loszuwerden.«
»Aber werden die Alten da mitmachen?« fragte sie, immer noch nicht überzeugt. »Ich meine, wir läuten doch das Ende ihrer Rasse ein.«
»Durchaus nicht«, gab Obie zurück. »Erstens werden sie darüber zu bestimmen haben, wer die Droge überhaupt bekommt, und zum anderen werden sie von der zusätzlich dadurch bewirkten Macht begeistert sein. Zweitens reguliert der Schacht die Bevölkerungszahl. Vor Jahrhunderten gab es einen Krieg — an dem ich beteiligt war —, und eine große Anzahl von ihnen kam um. Alles, was dann passierte, war, daß die Überlebenden sich wie die Fliegen vermehrten, bis der Normalstand wieder erreicht war. So wird es auch jetzt sein. Diejenigen, die das Mittel nicht erhalten, werden viel schneller schwanger werden, und es wird viel mehr Mehrlingsgeburten geben. Die Awbri-Frau ist dafür gedacht, sechs Junge auf einmal zur Welt zu bringen. Deshalb die sechs Brustwarzen. In planetarischem Maßstab und in einer sehr feindseligen Umwelt würden sie das brauchen, damit wenigstens wenige überleben. Hier würden sie Ihr kleines Hex überfluten, weshalb Geburten selten und schwer sind. Die Großmütter wissen das alles. Sie erinnern sich daran, wie es bei Hungersnöten, Überschwemmungen und dergleichen gewesen ist.«
Sie dachte darüber nach.
»Aber was ist mit den Männern? Sie werden nicht untätig zusehen, während sich das alles abspielt. Sie werden doch gewiß versuchen, das schwelende Feuer zu zertreten.«
»Hm… da überschätzen Sie sie«, erklärte der Computer. »Sie haben im Lauf der Jahre so wenig getan, daß sie ohne die Hilfe der Frauen kein Bad nehmen könnten. Wer bereitet ihre ganze Nahrung zu? Frauen. Tun Sie das in die Nahrung wichtiger Leute — das übel aussehende Gebräu sollte getarnt werden können, denke ich.«
Wieder fiel ihr etwas ein.
»Obie, was wird der Trank bei den Männern bewirken? Überhaupt etwas?«
»Er ist von zweifacher Wirkung«, teilte er mit. »Es bedarf nur einiger der Zutaten, um die Wirkung bei den Frauen hervorzurufen. Die anderen…? Drücken wir es so aus. Angenommen, die Dinge würden auf den Kopf gestellt werden. Angenommen, sie könnten wochenlang euch nicht aushalten und dann einige Tage lang nicht ohne euch auskommen? Ich meine, ein, zwei Abläufe dieser Art, und die Männer würden euch aus der Hand fressen.«
»Manche Matriarchen werden der Meinung sein, das genüge«, betonte sie. »Sie werden das Mittel vielleicht nur bei den Männern anwenden.«
»Ich kann nicht alles machen«, gab er zurück. »Sie müssen schon auch etwas tun, wissen Sie. Ein Teil ist natürlich politischer Art. Außerdem brauchen Sie die derzeitige Bevölkerungsmenge nicht. Sie brauchen nur die Neuzugänge, die auftauchen werden. Man sollte einen geeigneten Kompromiß finden können. Kein Grund, warum Awbri unseren Krieg führen sollte — aber wenn sie mithelfen wollen, sind sie willkommen. Dieser Teil ist Ihre Sache.«
Das klang vernünftig. Es gab nur noch eine weitere Frage, die sich aber aufdrängte.
»Obie, was geschieht, wenn uns trotz aller Vorsichtsmaßnahmen das Zeug ausgeht? Unterwegs, meine ich. Wie sähen die Entzugserscheinungen aus?«
»Unerfreulich«, sagte er ernsthaft. »Physisch wäre das zunehmend schmerzhaft, beinahe unerträglich. Der Stoff ersetzt nämlich vom Körper auf natürlichem Weg erzeugte Hormone. Der Körper hört als Reaktion darauf auf, sie hervorzubringen. Die Entziehung könnte einen Zusammenbruch hervorrufen, da sie schneller eintritt, als der Körper das verkraften und nicht nur die Hormone ersetzen, sondern auch die Zellenzyme beisteuern kann, die als Nebenwirkung der Droge ersetzt werden. Nach einigen Tagen würde er versagen und wieder überreagieren. Die ›Zeit‹ würde dann mit voller Kraft einsetzen, aber diesmal für sehr lange Zeit. Je nach Körper, Konstitution und dergleichen könnte es Wochen dauern. In wenigen Fällen würde sie nie verschwinden. Es besteht also ein Risiko.«
Sie fröstelte, und in ihr wunderte sich etwas darüber, daß man in einem solchen Traum frösteln konnte. Aber das war ein schrecklicher Gedanke — für jemanden, der das durchgemacht hatte, erst recht —, ewig in einer solchen Brunst zu sein.
»Das ist alles«, teilte Obie heiter mit. »Wenn ich Ihnen in Zukunft behilflich sein kann, tauche ich vielleicht wieder auf diese Weise auf. Ich habe für alle Fälle eine Reihe von Not-Situationen und möglichen Lösungen in Ihr Gehirn eingepflanzt, so daß wir uns vielleicht wieder begegnen. Aber hoffen wir, daß das nicht der Fall sein wird, denn wenn es dazu kommt, heißt das, daß wir vor schweren Problemen stehen.«
Yua fuhr aus dem Schlaf hoch und schaute sich um. Die anderen waren noch da und schnarchten. Es war noch nicht Morgen. Wie lange hat der ganze Traum gedauert? dachte sie. Wahrscheinlich nicht sehr lange — wenn er überhaupt Zeit in Anspruch genommen hatte. Sie ließ sich auf ihren Strohsack zurücksinken und versuchte sich zu beruhigen. Morgen hatte sie viel zu tun, sie brauchte ihren Schlaf. Zuerst würde sie an einem Komposthaufen arbeiten und später mit einer alten Frau darüber sprechen, wie man ihre ganze Gesellschaftsform untergraben könnte…