Mavra Tschang hatte sehr wenig Gelegenheit gehabt, sich zu den Vorgängen zu äußern, aber es blieb ihr auch kaum eine Wahl. Immerhin, alles war besser, als sein Leben in Kuhgestalt zu beschließen, soviel stand fest, und die Ereignisse hatten sie auf den Weg zum Schacht der Seelen gezwungen, ob sie hinwollte oder nicht.
Sie wußte selbst nicht mehr genau, was sie für Brazil empfand, aber die Nachricht von Asams Verrat an der Sache war niederschmetternd für sie gewesen. Sie konnte sich so etwas nicht vorstellen, es nicht begreifen und kam sich beschmutzt vor, weil es in ihrem Namen erwogen worden war. Wieder eine Illusion zerstört, wieder etwas Schönes plötzlich faulig geworden, verrottet. Sie fragte sich manchmal, ob sie nicht irgendeinen Fluch mit sich herumtrug, etwas, das alle verdarb oder zugrunde richtete, denen sie sich verbunden fühlte.
Die zweite Überraschung hatte der ersten geglichen; das Tier war zu ihr gebracht worden, und ein Gedemondaner hatte seine Hände auf ihren Kopf gelegt, ein zweiter die seinen auf den Pegasuskopf, ein dritter eine Hand auf die Köpfe seiner Genossen. Dann war sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf verfallen.
Diesmal war es schwerer für sie, vor allem deshalb, weil das Gehirn des Pegasus komplexer, wacher zu sein schien als das der Kuh. Seine eigene anfängliche Angst und Betroffenheit überwand sie nicht durch unbarmherzigen geistigen Druck wie bei der Kuh, sondern durch sanft beruhigende Einflußnahme, durch das Angebot einer Art Partnerschaft. Nach anfänglichem Widerstand und dem Wiederauffluten der Angst, hervorgerufen durch Verwirrung, schien das mächtige geflügelte Pferd sich zu beruhigen und sich mit dem Gedanken abzufinden. Als es sie annahm, schien es einen Augenblick des Schwindels zu geben, des Doppeldenkens und Doppeltsehens, bevor sich alles einrenkte. Sie war das Wesen, das Wesen war sie, und trotzdem gab es keine Unterdrückung, kein Auslöschen.
Auch Brazil erlebte das Neuartige, das ihn noch mehr erstaunte als Mavra. In gewissem Sinn trug sein Tier einen größeren Sieg davon, weil ihn mehr beschäftigte, was es für ihn tun konnte, als daß er auf lange Sicht der Pegasus hätte werden wollen.
Eine weitere Überraschung stellte die Sehfähigkeit der geflügelten Pferde dar. Sie sahen in helleuchtenden Farben, viel schärfer und mit stärkerer Auflösung, als Mavra oder Brazil das je erlebt hatten, und dazu kam ein fast unfaßbares Gefühl der Tiefe. Beide stellten fest, daß sie mit nur geringer Anstrengung den Blick mit außerordentlicher Klarheit auf ein Objekt an die vier Meter vor ihnen richten konnten, während die Schärfe ins Unendliche hinein erhalten blieb. Nur ganz Nahes war schwer zu sehen; die Augen waren entlang der Schnauze ein bißchen weit hinten angesetzt, aber wenn man ein Auge schloß, konnte man ein gutes, zweidimensionales Bild erhalten.
In der Ferne war die Armee bereits auf dem Marsch. Man konnte den Lärm bis hierher nach Süden hören, und im ersten Tageslicht waren große Schwärme von Flugwesen zu erkennen, die Wache hielten, während die Truppen nach Nordwesten vorstießen.
Prola rückte an Brazil noch einiges zurecht. Er hatte den Schock der Übertragung gerade überwunden, richtete sich in dem neuen Körper noch ein und versuchte mit der Tatsache zu leben, daß er von grellem Pastellrosa war, während Mavra in Hellblau erstrahlte. Die Reittiere der Agitar gab es in allen Farben. Obwohl dies ein Schlag für Brazils Experimentierlust war, handelte es sich bei beiden geflügelten Pferden um operierte Weibchen.
»Fertig für den Testflug?« fragte der Agitar nervös. Er hatte eigentlich nicht viel Erfahrung mit den Tieren und hatte sich auf die gute Ausbildung der Pferde verlassen. Seit Brazil darin steckte, waren beide Neulinge.
Brazil, der auch ziemlich nervös war, gab sich Mühe, das nicht zum Pegasus selbst durchdringen zu lassen. Er hatte alles geflogen, was der Mensch an Fliegendem jemals erfunden hatte, und flog mit Begeisterung — aber ganz allein für sich hatte er es noch nie versucht. Er spürte jetzt die Last auf seinem Rücken, als der Reiter sich auf dem eigens dafür gebauten Sattel niederließ, die Zügel ergriff und ihm die Fersen leicht in die Flanken stieß.
»Also«, sagte Prola heiser. »Traben wir zur Lichtung, damit wir feststellen können, ob das alles umsonst war.«
Brazil versuchte sich zu entspannen und dem Pferd die ganze Arbeit zu überlassen, aber das gelang ihm nur zum Teil. Die Augen zu schließen, nützte gar nichts, doch wenn er das nicht tat, fiel es schwer, abzuschalten und die Reflexe und die fremdartigen Gene das Kommando übernehmen zu lassen. Den Wind empfand er als so stark wie noch nie; die Wesen konnten offenbar die leichtesten Luftströmungen und -wirbel erspüren und sich ihrer bedienen. Er trabte hinaus und im Kreis herum, bis er im Wind stand. Fast bevor er einen Gedanken fassen konnte, spürte er, wie der Reiter die Schenkel zusammenpreßte, hörte er den Schrei»Hei!« und war unterwegs, über die Lichtung galoppierend. Er fühlte, wie die riesigen Flügel sich ausbreiteten, sich schräg in den Wind stellten, und begriff plötzlich, daß vieles von dem, was hier organisch vorging, seinen Erfahrungen als Flugzeugpilot entsprach.
Und verblüffenderweise konnte er den Wind sehen! Ganz transparent, freilich, und die Sehfähigkeit sonst nicht behindernd, aber es gab deutliche Unterschiede in den Luftströmungen, die er erkennen konnte.
Er spürte, wie er abhob, und unterdrückte seine Bedenken; seine Beine zappelten noch kurze Zeit, dann falteten sie sich wie ein Fahrwerk in am Boden nicht erkennbaren Höhlungen zusammen, wodurch Luftwiderstand und Hemmungen verringert wurden. Einmal in der Luft, ging es leicht, und das Gefühl zu fliegen war berauschend, hochzusteigen und mit den Winden, ja, manchmal gegen sie, dahinzusegeln, zu kreisen und sich frei hinauszuschwingen, ohne irgendein Gerät zwischen sich und den Elementen.
Der Agitar versetzte ihm ein paar leichte Stöße, um anzuzeigen, daß es Zeit war, wieder zu landen. Brazil wollte es nicht tun, wollte dieses unglaubliche Freiheitsgefühl nicht aufgeben, aber die Sonne stand schon fast über dem Horizont, und die Zeit wurde knapp.
Es gab erneut Unruhe, als der Boden ihm entgegenraste. Die Beine kamen heraus und wurden als eine Art Luftbremse eingesetzt, aber es waren in der Hauptsache die enorm manövrierbaren Flügel, mit denen er die Geschwindigkeit für eine Landung entsprechend herabsetzen konnte. Die Beine bewegten sich nun im gestreckten Galopp, dann setzten zuerst die Vorder—, danach die Hinterbeine auf, die Flügel drehten sich fast seitwärts und brachten ihn mühelos zum Stehen. Obwohl das zu Kopf steigende Gefühl noch eine Weile anhielt, stellte er verblüfft fest, daß er nicht einmal schwer atmete.
Dann war Mavra an der Reihe. Sie verriet ähnliche Unruhe und Nervosität wie er. Er bemerkte manches Unrichtige an Schritt und Ausrichtung und hoffte, daß sie sich so leicht hineinfinden würde wie er.
Er hielt den Atem an, bis sie abgehoben hatte und flog, zu einer erstaunlich stromlinienförmigen Form gelangte und in den Himmel hinaufstrebte. Erst dann ließ er die Luft in einem langen Seufzer hinaus und nickte anerkennend mit dem Pferdekopf. Sie war Pilot wie er, und zum Fliegen geboren.
Schließlich ließ er den Gedemondaner aufsitzen. Das größere Gewicht und die massigere Gestalt erwiesen sich als beträchtlicher Nachteil. Sie machten ihm Sorgen, und einen Augenblick lang fürchtete er, die Kombination werde sich nicht bewähren. Auch der Gedemondaner schien große Ängste auszustehen und brauchte eine Ewigkeit, um sich wieder und wieder zurechtzusetzen.
Diesmal bedurfte es einer sehr langen Galoppstrecke, um abzuheben, und er begann zu keuchen. Die Flügel mußten viel stärker schlagen, um fast das doppelte Gewicht des Agitar zu tragen, und er war erleichtert, als der Gedemondaner, wohl eher aus Furcht als aus Überlegung, sich vorbeugte, Kopf und Oberkörper auf den Sattel und Brazils Nacken legte.
Die Landung erwies sich als ebenso schwierig, und er verlor beinahe das Gleichgewicht dabei, schaffte es aber, kurz nachdem Mavra gelandet war. Nun war ihm eher danach zumute, daß er körperliche Arbeit geleistet hatte, und es wurde ihm klar, daß Mavra und er vermutlich in Abständen von ein, zwei Stunden sich würden abwechseln müssen, damit die Last ausgeglichen wurde.
Sie waren bereit, den letzten Teil ihrer Reise anzutreten.
Es gab eine kurze Verabschiedung, vor allem zwischen dem Gedemondaner und seinen Genossen, die zurückblieben. Sie sammelten sich und flogen hintereinander wieder in den Himmel hinauf. Brazil beschloß, den Gedemondaner so lange wie möglich zu tragen, sowohl, um seine Ausdauer zu prüfen, wie um sich zu vergewissern, daß sie die ganze Strecke zu bewältigen vermochten.
Es ging hinauf, bis sie fast tausend Meter in der Luft waren, dann kreisten sie einmal, warfen einen Blick auf die Szenerie im Norden, beschrieben einen Bogen und flogen nach Südwesten. Beide Armeen waren jetzt sichtbar, kaum einen Kilometer voneinander entfernt, aber beide auf dem Marsch. Er wünschte sich, Gunit Sanghs Gesicht zu sehen, wenn die Truppen über den letzten Hügel gelangten und das Lager verlassen vorfanden — aber seine fliegenden Spione würden ihn wohl bereits unterrichtet haben. Er fragte sich, was der Dahbi davon halten würde und was er dagegen zu unternehmen gedachte.
Sie flogen eine Weile nach Süden, nicht nur, weil das Gelände dort ebener war und sie niedriger fliegen konnten, was leichtfiel, sondern auch, weil sie sich von den Armeen entfernten und, selbst wenn sie bemerkt werden sollten, kaum Verfolgung zu befürchten hatten. Aus der Ferne würden sie als Kuriere erscheinen, kaum einer Verfolgungsjagd wert. Nach ungefähr einer Stunde, als sie sich von den Vorgängen am Boden weit genug entfernt glaubten, flogen sie langsam und vorsichtig zuerst nach Westen und schließlich nach Norden.
Mehrmals begegneten sie neugierigen Wesen, anderen wilden Vögeln oder anderen fliegenden Tieren, die mit Unruhe auf diese seltsam aussehenden Geschöpfe an ihrem Himmel reagierten. Einmal fürchteten sie, von einem riesigen habichtartigen Vogel mit spitzen Krallen und ebensolchem Schnabel und einer Flügelspannweite von mehr als drei Metern angegriffen zu werden, aber nach allerlei Gekreisch und vorgetäuschten Vorstößen hatte er sich abgesetzt, vielleicht, weil sie sein Revier verließen, möglicherweise aber auch deshalb, weil er zu der Entscheidung gelangt war, diese Neuankömmlinge seien einfach zu groß für ihn.
Mit geübtem Auge schätzte Brazil ihre Fluggeschwindigkeit auf ungefähr fünfundvierzig bis fünfzig Kilometer in der Stunde. Auf jeden Fall würden sie ihr Ziel auf diesem Weg nicht vor dreieinhalb bis vier Tagen erreichen.
Er hoffte, das durchhalten zu können.
Nach unruhigem Schlaf in der ersten Nacht und gierigem Grasrupfen von beiden waren sie wieder in der Luft. Diesmal trug Mavra den Gedemondaner, und Brazil empfand große Erleichterung, gedämpft nur durch Mitgefühl bei dem Gedanken an ihre schwere Last. Sie hielt sich aber gut, und auch der Gedemondaner hatte an Erfahrung gewonnen. Sie wirkte ein wenig kräftiger und größer als ihr Partner, was Brazil jedoch nicht im geringsten störte.
Der zweite Tag verging ganz wie der erste, obwohl er das Gefühl hatte, ein wenig zu optimistisch gewesen zu sein, was die zurückgelegte Strecke anging. Vor ihnen erhob sich Hochland und zwang sie, höherzusteigen. Das hieß, daß dieselbe Leistung mehr Arbeitsaufwand erforderte und die Atmung schneller wurde.
Plötzlich, am späten Nachmittag, wurden sie angegriffen. Die Wesen waren riesengroße, langgezogene Scheiben mit vorquellenden Augen und zahllosen schlangenartigen Tentakeln, die aus der Oberfläche ihrer Körper ragten. Sie besaßen keine erkennbaren Köpfe, und es war rasch ersichtlich, daß ihre graue Unterseite in der Hauptsache ein Mund war. Sie zeigten kein Mittel der Fortbewegung, und er vermochte nicht einmal zu vermuten, was sie in der Luft hielt, geschweige denn es ihnen ermöglichte, so abrupt zu wenden, hochzusteigen und hinabzufegen.
Sie reihten sich neben den zwei geflügelten Pferden auf, neun an der Zahl, jedes zwei Meter und mehr breit, an Häßlichkeit nicht zu überbieten, und zwangen sie, unten auf einer Bergebene zu landen. Die Wesen selbst landeten nicht, sondern schwebten zwei Meter in der Luft und betrachteten sie.
»Im Namen des Rates halten wir euch auf und fordern, daß ihr erklärt, was ihr hier zu suchen habt«, sagte der Anführer. Er besaß keinen Übersetzer-Kristall, und seine Worte klangen für sie unverständlich, aber der Gedemondaner schien sie zu verstehen und antwortete in der gleichen Sprache.
Brazil und Mavra Tschang standen zusammen mit dem Agitar Prola dabei, ohne irgend etwas tun oder auch nur erraten zu können. Der Gedemondaner nickte schließlich, und die Wesen erhoben sich in die Luft und fegten davon.
»Eine Streife von Khutirs Armee«, sagte das zottige Wesen. »Ich mußte mir allerhand einfallen lassen, um sie davon zu überzeugen, daß wir unverdächtig sind. Ihr könnt von Glück sagen, daß ihr mich dabeihabt. Wäre ich nicht in der Lage gewesen, in ihrer Akkokek-Sprache mit ihnen zu reden, dann hätte man uns zu einem Verhör mitgenommen. Fliegen wir weiter, bevor sie es sich anders überlegen.«
Sie starteten wieder, und die drei anderen fragten sich, was der Gedemondaner den Wesen erzählt haben mochte. Brazil nahm sich im stillen vor, mit einem Sprecher der Gedemondaner einmal Poker zu spielen.
Während sie Quilst überflogen, sahen sie wenig von einer großen Armee, was sie ein bißchen beunruhigte. Wo war der General Khutir? War er tatsächlich abgelenkt und so weit fortgelockt worden? Würde es in der Tat so einfach sein?
Andere Wesen stiegen gelegentlich aus verborgenen Vorposten auf, um sie zu überprüfen, aber der Gedemondaner brachte es jedesmal fertig, ihnen Nachteiliges entweder auszureden oder irgendein Zeichen oder eine Parole zu geben, die das Weiterfliegen erlaubten. Der Gedemondaner lachte nur leise, als sie nach seinen Fähigkeiten fragten, und sagte, nein, er könne keine Gedanken lesen, aber schwächere Gemüter dazu veranlassen, ihm mitzuteilen, was er wissen mußte. Das war alles, was sie aus ihm herausbrachten.
Das Land war wieder flach geworden, als sie Quilst überflogen, ein sumpfiges Gelände voller Laub und Vegetation aller Art, dazwischen stehendes Wasser und riesige Schlammteiche. Hier und dort konnte man die gigantischen Wesen sehen, die Brazil an humanoide Flußpferde erinnerten. Sie trieben dies und jenes, aber es gab praktisch keine Gebäude oder Hinweise auf Industrie. Solche Anlagen mußten sich verborgen in den Sümpfen oder unter dem Boden befinden.
Auf jeden Fall gab es ein weitverzweigtes Netz von breiten Straßen und Wegen, die praktisch jeden Punkt im Hex mit den anderen verbanden.
Sie überflogen die trockenste Stelle des Hexagons, wo das Land in einer Folge von Steppen wieder anstieg. Hier hatten sich Lager und Stab von Khutir befunden, wie man sehen konnte; die Spuren — und die Ausrüstung — waren deutlich sichtbar, und es hielten sich hier noch einige hundert Wesen verschiedener Art auf, die Vorräte bewachten oder wenigstens eine Art Stolperdrahtwache vor dem Zugang zur Avenue nördlich von ihnen hielten.
Sie schwenkten zum Süden des Lagers, in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, und hatten das Gebiet bald verlassen, um in den Westen der großen Avenue zu gelangen, die man in der Ferne schon beinahe zu erkennen vermochte.
Sie hatten nicht die Absicht, von Süden oder Osten heranzukommen, dort durch das feindliche Verion, sondern über Ellerbanta, sich, wenn das möglich war, stets westlich der Avenue haltend.
Es war nicht die beste Avenue für ihre Zwecke, und je näher sie herankamen, desto deutlicher gingen Brazil die Nachteile auf. Das Land war gebirgig, glich am ehesten noch Gedemondas, und obwohl es nicht übermäßig kalt war, nahm die Höhe doch ständig zu und erschwerte das Fliegen immer mehr.
Mavra erkannte die Probleme rascher als er. Sie wußte, daß die geflügelten Pferde in den höheren Gebieten von Gedemondas nicht flugfähig gewesen waren; für sie gab es eine eindeutige Obergrenze, die durch starke Gewichtsbelastung noch tiefer sank.
Sie mußten jetzt häufiger landen, und dafür geeignete Stellen waren immer schwerer zu finden. Sie flogen über der Schneegrenze, wo festen Halt zu finden schwierig war.
Sie holten die Karten des Gebietes heraus und betrachteten sie. Mavra konnte die Schrift nicht lesen, aber als man ihr die Karte erklärte, begriff sie rasch, daß sie nicht die Äquatorbarriere entlang zur Avenue fliegen konnten. Nicht zu dieser hier.
Mit Hilfe des gedemondanischen Sprechers, dessen Stimme außer ihm selbst bei diesen Gelegenheiten auch Mavra und Brazil diente, erklärte sie das Brazil eher vorwurfsvoll.
»Woher sollte ich denn wissen, wie hoch es hier hinaufgeht?« murrte er. »Ich kann mich an die richtigen Wesen überhaupt nicht erinnern. Auf der Erde überlebten sie nur als Teil der Kollektiverinnerung, als mythologische Wesen. Aber es bleibt einfach keine andere Wahl. Wir hätten nach Osten fliegen können, doch dann wären wir über Lamotien und Yaxa gekommen — und da hätten wir keine Chance gehabt. Im Westen liegt das nächste Sechseck völlig unter Wasser, was sehr schön ist, wenn man ein Unterwasser-Wesen ist, aber sonst nicht — und wir hätten dort Kämpfe bestehen müssen. Weiter östlich die Avenue unter dem Meer der Stürme. Das war also die einzige, die wir benützen konnten, und damit müssen wir uns eben abfinden.«
»Aber wir können nicht mehr lange und auch nicht höher fliegen«, wandte sie ein.
Er nickte mit seinem Pferdekopf.
»Richtig. Wir müssen also zur Avenue. Ich vermute, daß sie hinter der nächsten Bergkette da liegt, höchstens dreißig oder vierzig Kilometer entfernt. Das ist der einzige echte Bergpaß, den es hier gibt. Wir laufen, wo wir müssen, und fliegen, wo wir können. Also los!«
Es blieb keine andere Möglichkeit, aber alle waren der Meinung, daß diese Avenue der letzte Ort war, wo sie sich hinwenden sollten. Sie durften damit rechnen, hier auf Widerstand zu stoßen. Niemand zweifelte daran, daß die Befehle von Gunit Sangh und General Khutir für die hier eingesetzten Patrouillen eindeutig waren: alles töten, was die Avenue hinaufzugelangen versuchte. Alles, ohne Ausnahme — und Ellerbanta war ein Hochtech-Hex. Dort funktionierte alles.
Selbst der Gedemondaner, der sich in der hohen, weißen und kalten Bergwelt beinahe zu Hause fühlte, teilte ihre Sorge, aber es gab keine andere Wahl mehr.
Sie erreichten die Avenue schlagartig; vor ihnen stand eine massive Bergwand, und sie beschlossen, sie zu überwinden, in der Erwartung, vom Gipfel aus die Avenue wenigstens zu Gesicht zu bekommen.
Sie leisteten mehr. Brazil stemmte seinen großen Pegasuskörper hinüber und stürzte beinahe ins Leere. Er blickte hinunter, während die Vorderbeine über den Rand baumelten, auf einer fast senkrecht abstürzenden Felswand, die beinahe vier Kilometer hinab zur Avenue führte.
Er stieß einen angstvollen Wieherlaut aus, woraufhin die anderen rasch, aber vorsichtig herankamen, und es gelang ihnen, ihn von der Kante zurückzuziehen und selbst auch hinauszuschauen.
Man konnte die Avenue kaum erkennen; Wolken, Nebel und Fels behinderten die Sicht, aber da war sie, tief, tief unten, stellenweise erkennbar. Man konnte sie nur deshalb wahrnehmen, weil sie zu sein schien, was in der Natur praktisch kaum vorkam — völlig gerade, eine haarfeine, gerade Linie, nur mit den scharfen Augen eines Pegasus von hier aus überhaupt wahrnehmbar.
Aber weit im Norden, vielleicht über den Horizont herauflugend, konnten sie ein schwarzes Band sehen, das sich von Osten nach Westen dehnte, so weit das Auge reichte. Die Äquatorbarriere, der Zugang zum Schacht an den Avenuen, die feste, undurchdringliche Mauer, die den fremdartigen Norden vom ebenso fremdartigen Süden schied.
»Können Sie in diese Lücke hineinfliegen?« fragte sie der Agitar.
Brazil und Mavra schauten hinaus, sahen den Wind und die Luftströmungen, maßen die schmälsten Punkte der Lücke mit dem unbeirrbaren Sinn der fliegenden Pferde und schüttelten fast gleichzeitig die Köpfe.
»Ausgeschlossen«, erklärte Brazil durch den Sprecher. »Die Luftströmungen sind dort sehr gefährlich, das Tal ist an manchen Stellen zu schmal. Wir müssen hier laufen, soviel wir können, und versuchen, einen Weg nach unten zu finden.«
Mavra nickte.
»Ich bezweifle, ob irgendein fliegendes Wesen in der Luft dort in dem Paß zurechtkommt.«
»Aber wir sind für jeden hier oben lohnende Zielscheiben«, erklärte Brazil dumpf. »Und es ist aus, wenn es hier Wesen gibt, die in dieser Höhe fliegen können.«
Sie begannen zu marschieren.
Es ging nicht leicht, und man mußte oft Hindernisse umgehen oder weite Umwege machen, um auf Höhe der Avenue zu bleiben. Sie kamen nur langsam voran und verbrachten eine kalte Nacht auf dem Berg.
Am nächsten Morgen war es ein wenig besser. Die Temperatur lag weit unter dem Nullpunkt, und sie genossen eine herrliche Aussicht, als die Wolken unter ihnen fast alles verdeckten, seien es Senken, Täler oder Kare, so daß nur die Spitzen der höchsten Gipfel in eine grelle, blendende Sonne ragten. Hätte sich das Fliegen in dieser Höhe nicht wegen Sauerstoffmangel verboten, wäre es jetzt auch schon deshalb unmöglich gewesen, weil es praktisch keinen sicheren Landeplatz gab.
Der Gedemondaner ging weiter zu Fuß voraus, der Agitar, dick vermummt, ritt auf Brazil. Das zottige Wesen schien von Höhe und Kälte überhaupt nichts zu spüren und bewältigte den gefährlichen Weg mit leichtfüßiger Sicherheit.
Trotzdem geschah das nicht auf Kosten der Vorsicht, weil man sonst hier über den Wolken verloren gewesen wäre. Man kam noch langsamer voran als am Vortag. Mittags schätzte Mavra, daß sie nur wenige Kilometer zurückgelegt hatten; die schwarze Barriere im Norden war nicht nähergerückt, und sie hatten kaum die nächste Reihe von Gipfeln erreicht, die aus den Wolken herausstachen. Brazil war sogar noch pessimistischer gestimmt; er begann sich zu fragen, ob sie es überhaupt würden schaffen können. Es gab hier oben nichts zu essen, und der Hunger marterte ihn. Das dumme war, daß ihm alle Richtungen gleich schlecht vorkamen. Es mochte in diesem Augenblick nicht einmal mehr die Möglichkeit geben, den Plan zu streichen.
Gegen Abend fühlten sie sich alle bedrückt und niedergeschlagen. Sie reihten sich auf, um miteinander sprechen zu können, aber es gab eigentlich nicht viel zu sagen. Alle waren von ihren düsteren Gedanken beherrscht.
Ich habe versagt, schien jeder zu sich selbst oder zu den anderen zu sagen; wir haben versagt. Es ist uns gelungen, alles zu übertölpeln, zu überwinden oder niederzukämpfen, was die Sechseck-Welt uns entgegengeworfen hat, aber jetzt sterben wir, Opfer nicht von Armeen oder feindlichen Plänen, sondern der Natur.
Es wurde dunkel, und sie schlugen für eine weitere einsame, stürmische, kalte Nacht ohne Nahrung und nun auch ohne große Hoffnung ihr Lager auf.
»Wir haben alles versucht«, versuchte Brazil die anderen zu trösten, obwohl er selbst eher Trost brauchte, als ihn spenden zu können. »Wir machen weiter, solange es geht, und dann ist eben Schluß.«
»Ich sehe nur einen Ausweg«, erklärte Mavra. »Morgen in aller Frühe müssen wir, solange wir noch die Kraft haben, versuchen, in die Schlucht hinunterzufliegen.«
»Wie breit ist eine Avenue?« fragte Prola sorgenvoll.
Brazil überlegte.
»Dreißig Meter ungefähr«, erwiderte er. »Die Schlucht ist natürlich etwas breiter, aber wir wissen nicht, wie weit wir segeln und welchen Engstellen wir ausweichen müssen.«
»Unsere Flügelspannweite beträgt ungefähr acht oder neun Meter«, sagte Mavra. »Sehr manövrierfähig sind wir damit nicht — und bei den gefährlichen Auf- und Fallwinden und den Wolken…«
»Es war Ihre Idee, hinunterzufliegen«, gab er zurück. »Versuchen Sie jetzt nicht, mir das wieder auszureden. Das ist das einzige, was wir tun können — und ich habe so wenig Lust dazu, daß ich am liebsten hier erfrieren und verhungern möchte.«
»Also morgen gegen Mittag«, sagte sie resigniert, »wenn wir ein bißchen Sonne haben.«
Sie schliefen in dieser Nacht noch unruhiger. Als der erste von ihnen erwachte und sich umschaute, wurden die Hoffnungen noch mehr gedämpft. Die Wolken waren höher geklettert; die ganze Welt war jetzt ein Meer von wirbelndem Weiß, in allen Richtungen.
Sie aßen ein bißchen Schnee und blieben sitzen, unfähig, sich zu bewegen, bis die Sonne oder der Wind den Wolkennebel verjagte.
»In der Nähe von Avenuen ist das oft so«, sagte Brazil. »Ähnliche Bedingungen entstehen, wenn zwei jahreszeitlich völlig verschiedene Sechsecke aneinandergrenzen, und da draußen ist natürlich eine Grenze, eine mit einem dreißig Meter breiten Streifen dazwischen, der Wind und Wetter aus beiden Sechsecken ausgesetzt ist.«
Sie warteten fast den ganzen Vormittag, aber der Nebel wollte sich nicht verziehen. Brazil winkte schließlich dem Gedemondaner, er möge herankommen und sich ›dazwischenschalten‹, wie er das bezeichnete.
»Mavra — woran haben Sie gedacht?« fragte er leise, um sie abzulenken.
Sie lächelte schief.
»An andere Gegenden. An andere Leute«, erwiderte sie. »Möchte wissen, wie die Schlacht ausgegangen ist. Möchte wissen, wer gewonnen hat. Und ob es überhaupt noch ins Gewicht fällt. Möchte wissen, ob sie sich auf die leere Hülle von Körper gestürzt haben, der zurückgeblieben war, oder ob sie alle irgendwo aufmarschiert sind und aufeinander einschlagen. Es wäre schön zu wissen, was geschehen ist, bevor ich…«
»Sterbe?« ergänzte er. »Haben Sie wirklich Angst davor?«
»Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Ich bin nicht wie Sie, Brazil. Ich glaube, keiner ist das. Ich möchte dieses neue Universum sehen.«
Er zögerte kurz, dann sagte er:»Nun, das verrät mir etwas über Sie, worüber ich mir den Kopf zerbrochen habe.« Er ging nicht weiter darauf ein, aber für ihn klärte das eine lange, strittige Frage. Er fragte sich überlegt, jedenfalls bis zu diesem Augenblick, ob sie in ihrem Dillianer-Dasein glücklich gewesen war oder sich nach Glück gesehnt hatte. Asams Verrat mußte natürlich vieles davon zerstört haben, aber nur im Verhältnis zwischen den beiden. Es wäre jedoch nicht fair gewesen, jemandem solche Dinge anzutun, wie Brazil das tat, wenn der Betreffende in einem anderen Dasein glücklicher gewesen wäre.
Es war so oder so nicht fair, das wußte er, aber sie würde es nicht glauben, bis sie es selbst erlebte.
Der Gedemondaner unterbrach den Kontakt.
»Der Nebel lichtet sich«, sagte er.
Sie schauten sich um und stellten fest, daß das zutraf. Die Sonne war jetzt sichtbar, ungefähr ein Viertel des Weges am Himmel hinaufgekommen, und sie löste mit ihren Strahlen die dünnen, in dieser Höhe eigentlich seltenen Wolken auf.
»Ich glaube, ich sehe einen Gipfel!« rief Prola aufgeregt. »Und da noch einen! Ja! Ich glaube, es klart auf!«
Der Gedemondaner erstarrte plötzlich und sah sich nervös um.
»Ich glaube, da ist nicht alles in Ordnung«, flüsterte er. »Ich spüre, daß andere in der Nähe sind. Ich — ich habe mich durch meine persönlichen Empfindungen beirren lassen«, entschuldigte er sich. »Jetzt kann ich es spüren. Man beobachtet uns!«
Sie spannten die Muskeln an, und der Agitar zog seinen kupfernen, degenartigen Stab heraus, mit dem er Tausende Volt Elektrizität aus einem Körper übertragen konnte. Sie warteten angespannt, um zu sehen, wer diesen Nebel durchdrungen und sie in einer solchen Höhe gefunden haben konnte.
»Hallooooo…!« dröhnte eine Stimme irgendwo links von ihnen, ein Ruf, der zwischen den Felsgipfeln hin und her hallte. »He! Nate! Wo sind Sie?« schrie die Stimme. »Kommen Sie schon — ich habe gewonnen! Ich hab’ Sie erwischt. Sie sitzen fest. Ich hab’ Ihre Herausforderung angenommen und gewonnen, Nate! Ich hab’ gewonnen!«
Brazil machte eine Kopfbewegung, damit der Gedemondaner die Hand auf seinen Kopf legte, so daß er sprechen konnte.
»Hier bin ich!« rief er. »Wie, zum Teufel, haben Sie uns bloß gefunden?«
Eine riesige Gestalt glitt aus dem Nebel und kam vorsichtig heran, In zwei ihrer sechs Hände trug sie eine kleines elektronisches Gerät.
»Das hier ist ein Hochtech-Hex, Nate«, erklärte Serge Ortega. »Haben Sie noch nie was von Radar gehört?«