Mowrey, im Meer der Schatten

»Segel ahoi!«

Auf dem Deck der Brigg stürzten alle durcheinander, um an die Posten zu gelangen.

Es war ein großes, gut gebautes Schiff. Obwohl es einen kleinen Hilfsmotor für Notfälle, etwa Windstille und dergleichen, besaß, war es in erster Linie windgetrieben und für diesen Zweck gut konstruiert.

Die Besatzung war das übliche Rassengemisch, verfügte aber über einen sehr großen Prozentsatz einer bestimmten Rasse, von der man im Ozean der Schatten nach Erinnerung aller noch nie etwas gesehen hatte und die auch jetzt keinen Grund hatte, hier zu sein.

Eine junge Frau, Typ 41 menschlich, lief aus dem Ruderhaus zurück zu den Mannschaftskajüten. Die nackten Sohlen klatschten auf dem Holzdeck. Sie erreichte die erste Tür, zögerte kurz und klopfte an.

Sie hörte eine gedämpfte Antwort und rief:»Kapitän, da draußen ist ein Schiff, ein großes!«

Wieder hörte sie einen undeutlichen Laut, dann schlurften Schritte. Die Tür ging auf.

»Was gibt es, Lena?« fragte Nathan Brazil schläfrig und rieb sich die Augen, um ganz wach zu werden.

»Ein Schiff! Ein Schiff!« sagte sie aufgeregt und zeigte hinüber.

Er seufzte, ging kurz wieder hinein und spritzte sich Wasser aus einer Schüssel ins Gesicht.

»Verdammt! Man braucht nur einzuschlafen, schon klingelt das Telephon«, murrte er und trat zu dem Mädchen hinaus. Gemeinsam gingen sie zum Ruderhaus.

Am Ruder stand eine riesige, gallertartige Masse, die das Steuergerät scheinbar umhüllte. Sie war zumeist durchsichtig, aber von adernartigen Strängen durchzogen, und in der Mitte war eine pulsierende, rosarote Masse zu erkennen.

»Was haben wir da, Torry?« fragte Brazil den Maat.

Zwei Stiele schoben sich oben aus dem Wesen heraus; am Ende bildeten sich augenartige Knoten, und einer richtete sich auf Brazil, der andere auf das Meer.

»Dampfer«, erwiderte der Maat. »Sieht aus wie ein normales Kauffahrteischiff, aber man weiß nie. Das Glas liegt dort drüben.« Ein Fühler quoll aus der Masse und wies auf den Tisch.

Brazil ging hinüber, hob das Fernglas auf und schaute hindurch. Es war immer noch viel zu weit, um vom Schiff viel erkennen zu können, aber dem Rauch nach zu schließen, fuhr es ihnen eindeutig entgegen.

»Immer auf Kurs bleiben«, befahl er. »Wir scheinen sie zu passieren, so daß alles, was aus dem Rahmen fällt, Verdacht erregen würde — und wir sind in einem Hochtech-Hex, vergeßt das nicht. Einfach das Übliche. Henny kann wie gewohnt auftreten.« Er ging zu einem der Sprachtrichter, blies hinein und rief:»Henny, komm sofort rauf! Wir erhalten Gesellschaft!«

Bis der große Frachter deutlich zu erkennen war, stand Henny auf Deck und war bereit, obwohl sie nicht wenig schimpfte. Nach ihrer Wache hatte sie sich unter Deck gerade in ihrem Wasserbecken niedergelassen, als der Ruf gekommen war.

Sie war ein riesiges Wesen. Fettwülste hingen nicht nur von ihrem mächtigen braunen Körper, sondern auch von ihrem Gesicht herab, soweit ein solches vorhanden war. Aus der Masse guckten zwei winzig kleine schwarze Augen, und man mußte genau hinsehen, um die ebenso windige schwarze Knopfnase zu finden und zu bemerken, daß einer der Wülste in Wahrheit ein enorm breiter Mund war. Aus ihrem Rücken ragten scharfe Flossen, und sie zog sich mit zwei gigantischen vorderen Schwimmflossen vorwärts, die aus einer Anzahl langer, flacher Greiffinger bestanden — zwei Reihen, um genau zu sein. Sie war das einzige Wesen seiner Bekanntschaft, das sechs Finger und sechs opponierende lange, flache Daumen besaß. Wieder einmal sagte er sich, daß Henny dem Ausdruck ›häßlich‹ einen neuen Sinn verlieh, obwohl sie behauptete, zu Hause in Achrin gelte sie als echte Schönheit. Er hatte keine Möglichkeit, die Wahrheit dieser Behauptung nachzuprüfen.

Sie schaute hinaus, und er wußte, daß ihre schwachen Augen unterstützt wurden durch eine Art angeborenen inneren Sonars, das sowohl in der Luft wie im Wasser wirksam war.

»Scheint was Übliches zu sein«, meinte sie.

Er nickte.

»Mag sein, aber zur Zeit sind alle Begegnungen eine Gefahr. Das weißt du.«

»Signale, Sir!« rief Torry. »Ich lese sie als ›WELCHES SCHIFF UND WOHIN UNTERWEGS?‹«

Brazil wandte sich an die Frau, die immer noch geduldig wartete.

»Lena, geh an den Blinker«, befahl er, dann setzte er sich auf das Dach des Ruderhauses, was ihn vor den Blicken Neugieriger auf dem herankommenden Schiff schützte, obwohl er weiterhin die Lage überblicken konnte.

Die Frau ging hinaus und schaltete die Lampe ein. Sie sah ihn erwartungsvoll an.

»Folgendes Signal«, sagte er. »›Windbreaker‹, Schiffsregister Achrin, unterwegs nach Betared.«

Sie betätigte den Signalhebel und gab die Nachricht weiter.

»Füg hinzu ›WER SEID IHR?‹«

Das ging ganz rasch, weil es sich um ein Kurzsignal handelte.

»›Königin von Chandur‹«, gab Torry an Brazil weiter. »Unterwegs nach Makiem.« Er erstarrte. »Ich glaube, es sind Truppen an Bord.«

Brazil nickte.

»War zu erwarten. Spezialtruppen und Kriegsmaterial. Am liebsten würde ich das Ding versenken, aber das ist, als wollte eine Mücke einen Riesen töten.«

»Ich könnte vielleicht etwas machen«, erklärte Henny.

»Die Mowrey sind nicht sehr freundlich, aber auch nicht sehr beweglich. Ich könnte eine Nachricht an unsere Leute schicken, um sie, sagen wir, in Kzuco versenken zu lassen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Zu riskant. Das braucht sich nur herumzusprechen, und sie werden alles unternehmen, um uns zu versenken, selbst wenn sie nicht vermuten, daß ich hier bin. Laß nur. Es spielt ohnehin keine Rolle.«

Sie sah ihn an.

»Aber die Fracht auf dem Schiff könnte ein paar tausend Leute das Leben kosten, vielleicht sogar unseren.«

Er zog die Schultern hoch.

»Henny, man verlangt von mir, daß ich ein paar Billionen den Garaus mache, vielleicht noch mehr.« Er beließ es dabei.

»Sie haben ihre Ferngläser auf uns gerichtet«, meldete Torry. »Ich weiß nicht, mir gefällt das nicht. Wir haben zu viele von Ihrer Art an Bord. Sie werden das weitergeben.« Er zuckte wieder mit den Achseln.

»Was können sie schon sagen? Lassen Sie sie das nur tun, Torry. In Jucapel findet ohnehin der Tausch statt. Da bin ich lange fort.«

»Ja, aber wir nicht«, meinte Henny trocken.

Sie warteten, bis das Schiff steuerbord vorbeigefahren und am fernen Horizont verschwunden war.

Endlich fühlte er sich so sicher, daß er aufstehen und sich recken konnte.

»Macht euch nicht so viel Sorgen«, sagte er. »Sie suchen mich, nicht euch. Das Schiff läuft legitim auf deinen Namen, Henny, und die Menschen an Bord sind dem Namen nach Besitz des Unternehmens, offen bei den Ambreza gekauft. Sie werden überschnappen, aber nicht dahinterkommen. Jedenfalls jetzt nicht.«

Er verließ das Ruderhaus und ging nach hinten, um auf einer Leiter zum Hauptdeck hinunterzusteigen. Dort lagen mehrere Wesen und sonnten sich. Es waren große, vogelartige Geschöpfe, auffallend nicht nur durch häßliche, herabhängende Schnäbel, sondern auch, weil jedes drei vollständige Köpfe besaß, jeweils an einem langen, dürren Hals.

»Schafft einer von euch eine weite Strecke?« fragte er sie.

Der mittlere Kopf von einem der Wesen schob sich hoch und betrachtete ihn mit zwei gelben Augen.

»Ich werde sie wohl schaffen«, sagte das Wesen.

Er lachte in sich hinein und schüttelte verwundert den Kopf.

»Ich weiß nie, mit welchem Kopf ich reden soll«, meinte er trocken. Er wußte sehr genau, daß die Geschöpfe nur ein einziges Gehirn besaßen, das in keinem der Köpfe steckte.

»Awbri liegt jetzt genau nordöstlich von uns. Sag Yua, sie soll sich marschbereit machen. Sag ihr, wir sind von einem feindlichen Dampfer bemerkt worden, der nach Makiem fährt. Wenn sie können, sollen sie eine Nachricht an die beiden anderen Armeen übermitteln, die sich in Makiem zu vereinigen versuchen, das ihr Versorgungsgebiet zu sein scheint. Sie werden wissen, was sie tun müssen.«

Das Wesen stand auf, breitete die mächtigen Flügel aus und fragte:»Was ist, wenn sie versuchen, Sie zu fassen?«

Er lächelte rätselhaft.

»Wenn sie es tun, dann werden die anderen das wissen, glaub mir.« Er schaute hinüber zu dem anderen dreiköpfigen Wesen. »Außerdem habe ich für Notfälle immer noch Rupt hier.«

»Also gut, dann mache ich mich auf den Weg«, erklärte der Kurier. »Paßt auf, daß sie euch keine Bombe an den Rumpf kleben oder dergleichen.«

Er lachte.

»Ich habe eine ordentliche kleine Schutzmacht von unseren Leuten unter uns. Das weißt du. Außerdem würden sie das Schiff nicht in die Luft sprengen. Sie könnten nie sicher sein, daß ich an Bord war. Also los!«

Mit einem heftigen Windstoß der riesigen Flügel, der Brazil beinahe umriß, schoß das Wesen davon.

Загрузка...