An der Grenze Bahabi-Ambreza

»Die Leute sind ziemlich sauer, Sir«, meldete der Hakazit-General verärgert. »Ich meine, das ist nicht das, wofür sie sich gemeldet haben. Ich kann es selbst nicht glauben. Fast neunhundert Kilometer, und wir haben noch niemanden getötet.«

Marquoz hob die Schultern.

»Was soll ich machen? Die ganze Armee von Durbis hätte angreifen sollen — Kraftfeld-Projektoren, Kampfhubschrauber und alles —, und als wir über den Hügel da marschierten, kamen plötzlich alle zu dem Entschluß, sie wollten doch lieber ans Meer, um sich zu erholen. Ich gebe zu, es ist viel leichter gegangen, als ich dachte — bis jetzt. Sagen Sie den Leuten aber, es wird kein Sonntagsausflug werden, den Isthmus hinaufzumarschieren.«

»Wollen wir auch hoffen«, murrte der General. »Sonst bringen sie uns alle beide um und begeben sich aus Prinzip auf einen Vernichtungszug.«

Marquoz lachte in sich hinein und wandte sich der Grenze zu. Kinder, dachte er. Wie kleine Kinder, die ständig träumen und Krieg spielen. Der ruhmvolle Kampf und so. Innerlich war er dankbar dafür, daß ein Heer von fünfzehntausend Hakazit-Kämpfern im Präzisionsmarsch durch einen breiten Landstreifen die Einheimischen gehörig erschreckt hatte. Er würde diese Armee später brauchen, das wußte er, und war seiner Sache nicht sicher, ob die Romanze nicht vorbei sein mochte, wenn ringsum die Kameraden niedergemacht wurden.

Er baute einen geradezu religiösen Glauben um den Absolutismus der Genetik auf, entschied er, und konnte nur hoffen, daß das keine falsche Gottheit war.

Ambreza würde auch keine Mühe machen, vermutete er. Man brauchte ihn in Glathriel und würde nahezu alles tun, um ihn dort hineinzulassen. Wieder hinauszukommen, das würde das Problem sein.

Wie bei vielen anderen Rassen und den meisten Hexagons hier bedeutete eine weiße Flagge oder ein Stofftuch dieser Art, man möge nicht schießen. Eine logische Wahl. Man konnte dergleichen auf weite Entfernung eben besser sehen. Manchmal fragte er sich unbehaglich, was wohl geschehen würde, wenn er je einer Armee begegnete, deren Nationalflagge weiß war.

Er befestigte die Flagge an einem Stock und ging den Hügelhang hinunter zu der Gruppe, die unter einem ähnlichen Banner wartete. Das wurde langsam alltäglich.

Die Ambreza waren riesige Nagetiere, die entfernt zu groß geratenen Bibern glichen, bis hin zu den vorstehenden Zähnen und dem großen, breiten Schwanz. Sie gingen aber aufrecht, auf starken Hinterbeinen, gebrauchten ihre Schwänze zum zusätzlichen Halten des Gleichgewichts. Ihr Ausdruck äußerster Unschuld täuschte. Einmal war dieses Hex Glathriel gewesen und nicht Ambreza. Ein Hochtech-Hex, dessen ›Menschen‹ eine starke, mächtige Zivilisation aufgebaut hatten, eine, die allein aus ihrer Trägheit heraus über ihren Lebensraum hinauswuchs, so daß man zu dem Schluß kam, man brauche, um weiter bequem leben zu können, das üppige Ackerland der Ambreza nebenan. Statt einen Kampf zu führen, der aussichtslos war, hatten die Ambreza sich auf die Suche begeben und, wie üblich, wenn man bestimmte unmögliche Dinge brauchte, das Nötige im Norden gefunden, bei so seltsamen, fremdartigen Rassen, daß man sie dazu veranlassen konnte, bestimmte Dinge zu produzieren, wenn man die richtigen Handelswaren hatte. Sie kamen nie auf den Gedanken, eine Waffe hervorzubringen, in diesem Falle ein Gas von brutaler Wirkung, das für alle, außer Menschen vom Typ 41, harmlos war.

Die Menschen hatten sich schließlich an der Grenze zu Ambreza in Massen versammelt, als im ganzen Hex die Gaskanister geöffnet wurden. Die Ambreza mochten nichttechnisch gewesen sein, aber dumm waren sie nicht. Ihre eigene ›Friedens‹-Delegation für Verhandlungen in Glathriel hatte die Gasbehälter elektronisch gezündet.

Das Gas war farblos, geruchlos und sehr wirksam. In gewisser Beziehung, die selbst die Ambreza nicht ganz begriffen, wirkte es auf die menschliche Hirnrinde ein, und die Menschen waren ganz langsam immer weniger fähig gewesen, zu denken und vernünftig zu reagieren. Die großen Affen waren für Typ 41 die Modelle gewesen, und zumindest geistig wurden sie ihnen ähnlich. Das Gas verströmte auch nicht; es blieb dort und ging in das Gestein in den Boden und alles ein, wirkt auch auf die künftigen Generationen. Die meisten starben, die übrigen wurden bei der Ausdehnung der Ambreza nach Glathriel Haustiere für sie.

Brazil hatte das bei seinem letzten Aufenthalt alles geändert. Innerhalb des Schachtes hatte er nicht nur das Gas verändert, sondern auf unauffällige Weise auch die Gehirne vom Typ 41, die davon betroffen wurden. Während Mavra Tschangs Exil in Glathriel waren die Bewohner Wilde gewesen, ja, aber denkende Wilde. Marquoz fragte sich, was sie jetzt sein mochten.

Zur Stelle waren fünf Ambreza, jeder mit einer Art Medaillon, die der Hakazit für ein Rangabzeichen hielt. Sie waren begleitet von mehreren anderen Wesen, die entschieden sonderbar aussahen; es waren riesige, hochragende Gestalten in Weiß, mit nur zwei kleinen, schwarzen Ovalen.

Er blieb einige Meter vor der Gruppe stehen und steckte seine weiße Fahne in den Boden.

»Ich bin Marquoz von Hakazit«, erklärte er im drohendsten Ton.

»Ich bin Thoth, Kämmerer des Gebietes«, erwiderte einer der Ambreza. »Meine Mit-Ambreza kommen von den Zentralbehörden. Die anderen sind Vertreter des hierher gebetenen Ratsheeres, mit diesem da«, er deutete auf das weiße Gespenst, »als ihrem Befehlshaber, Gunit Sangh von Dahbi.«

Marquoz war beeindruckt. Er hatte von Gunit Sangh gehört, obwohl die Dahbi eine halbe Welt entfernt waren. Er schien sich zu erinnern, daß Sangh einmal denselben Versuch wie die Ambreza bei Glathriel unternommen hatte, aber gescheitert war.

»Ich komme zur Sache«, sagte er, ohne die anderen zu begrüßen.

»Wir haben nicht die Absicht, irgendwelche Bürger oder Gebiete zu schädigen. Wir möchten nur die unter Ihrer Herrschaft stehenden Gebiete Ambreza und Glathriel durchqueren, und zwar so rasch wie möglich, auf dem Weg nach Norden.«

»Sie sind hier willkommen«, antwortete Thoth, »aber Glathriel ist ein empfindliches Land. Wir würden es nicht schätzen, wenn dort große Truppenansammlungen hindurchkämen. Das würde das ökologische Gleichgewicht stören.«

»Wir müssen hindurch, um nach Norden zu gelangen, das wissen Sie sehr gut«, gab der Hakazit zurück. »Ginzin ist nur an der Nordostküste passierbar. Glathriel kann nicht umgangen werden. Wir werden möglichst geringen Schaden anrichten.«

»Glathriel ist nicht offen«, erklärte der Ambreza.

Marquoz fühlte, wie sein Magen sich ein wenig zusammenkrampfte. Er blickte nach hinten und zeigte den Hügel hinauf.

»Wie Sie wissen, kommen da oben fünfzehntausend Mann von meiner Sorte. Die meisten konventionellen Waffen können uns einfach nichts anhaben. Mir ist klar, daß Sie teilweise über hochmoderne Waffen verfügen, denen das gelänge, vor allem den Strahlen, aber Sie sollten sich auch im klaren darüber sein, daß wir ebenfalls aus einem Hochtech-Hex stammen und so etwas auch besitzen. Wir haben außerdem siebenhundert Mann zusätzlich als Verbündete verschiedener Erscheinungsformen, viele fliegend und manche giftig. Meine Rasse wird als kriegerisch geboren. Wir geben uns nicht mit Opfern oder Argumenten ab. Wenn Sie sich weigern, marschieren wir trotzdem und gebrauchen alle Waffen, die uns zur Verfügung stehen. Sollte uns Widerstand geleistet werden, vernichten wir ohne Gnade jeden und alles, Soldaten und Zivilisten, Pflanzen und Tiere, die uns im Weg stehen.«

»Sie sagen ›wir‹«, erwiderte Gunit Sangh. Selbst durch den Übersetzer klang seine Stimme bösartig und drohend. »Sie sind nicht von dieser Welt. Das sind nicht Ihre Leute. Ich neige zu der Ansicht, daß Ihre Armee, wenn wir über diplomatische Höflichkeit hinwegsähen und Sie hier an Ort und Stelle beseitigen würden, nicht mehr kämpfen könnte.«

Seinem Magen tat dieser Gedanke nichts Gutes, aber er behielt ausdruckslose Miene und Tonfall bei.

»Sie irren sich. Ich komme eben von einer Auseinandersetzung mit meinen Generälen, weil die Truppen unruhig sind. Sie sind hierher marschiert, ohne jemanden zu töten, und das stört sie. Sie wollen kämpfen. Sollte mir hier etwas zustoßen, dann würden Sie die einzige mäßigende Kraft gegen sich aufbringen, die es hier gibt. Sie würden natürlich auf der Stelle alle sterben — und danach wäre Ambreza nur noch eine Erinnerung. In diesem Augenblick befinden sich zwei Jorgasnovarier über wichtigen Bevölkerungszentren Ambrezas, mit Bomben, die nach von mir gelieferten Entwürfen gebaut wurden. Das sind alte Waffen aus meinem früheren Weltraumsektor, ziemlich leicht herzustellen, nachdem ich dahinterkam, daß es in Hakazit Uran gibt. Die Bomben sind Atomwaffen. Jede einzelne wird eine ganze Stadt vernichten und das Land auf Generationen hinaus mit Radioaktivität verseuchen. Mit dem Rest an Widerstand, den Sie noch bieten können, werden wir leicht fertig. Entschließen Sie sich gleich. Ja oder nein. Ich neige dazu, den Marschbefehl auf der Stelle zu geben. Wie er aussieht, hängt jetzt von Ihrer Entscheidung ab.«

Die Ambreza wirkten entsetzt. Einer drehte sich zu einem anderen herum und flüsterte:»Kann es eine solche Waffe geben?« Der Gefragte nickte.

Thoth, der das hörte, fröstelte ein wenig und sah Marquoz an.

»Wir brauchen Zeit, um darüber zu sprechen«, wandte er ein. »Bitte, wenigstens ein paar Minuten.«

»Sie haben keine Zeit. Ja oder nein? Ich verlange sofort Ihre Antwort«, sagte er kühl. Die Ambreza taten ihm sogar ein wenig leid; sie waren politisch so verdammt naiv. Das war der Trumpf bei dem ganzen Spiel. Eine Welt mit großen politischen und militärischen Erfahrungen aus der Vergangenheit wäre nicht so leicht zu überrumpeln gewesen.

»Er blufft«, fauchte Gunit Sangh. »Wir haben hier eine wirksame Streitmacht. Schließen wir uns ihr an, und machen wir der Sache ein Ende.«

Die Ambreza dagegen waren schon aus dem Konzept geraten. Nach einer kurzen geflüsterten Unterhaltung wurde genickt, und Thoth wandte sich an das fremdartige weiße Wesen.

»Das ist unser Hex, wissen Sie.« Er richtete den Blick auf Marquoz. »Sie können hindurchmarschieren«, sagte er heiser und schluckte ein paarmal. »Sie werden nicht aufgehalten.«

Gunit Sangh klappte sich auseinander. Er war ein eindrucksvolles, bösartig aussehendes Wesen mit drei Paaren klebriger Gliedmaßen und einem Gesicht, das verriet, daß hier ein Geschöpf war, das nur lebendes Fleisch aß. Die Tentakel zeigten scharfkantige, spiegelnde Knorpelschilde, die offensichtlich wie Messer alles zu durchtrennen vermochten. Das ganze Wesen, fast drei Meter lang, war auf seine Art ebenso eine Tötungsmaschine wie der Hakazit — und im Gegensatz zu dem Hakazit schien es sehr in Übung zu sein und nicht im geringsten zu bluffen.

»Ich kann nichts tun, wenn das gastgebende Land es verbietet«, zischte Sangh. »Aber Ihre unerprobte Armee wird sich der meinen noch stellen müssen, Fremdling. Denken Sie daran, ich bin der Feind, dem Sie eines Tages, und zwar bald, gegenüberstehen werden.«

»Jederzeit«, erwiderte Marquoz mit gespielter Lässigkeit. »Und für den Fall, daß Sie mich unterschätzen, nun, Colonel Asam läßt die besten Grüße übermitteln.«

»Asam!« fauchte der Dhabi. »Euch zwei zu verschlingen wird das größte Vergnügen in meinem langen Leben sein!« Und damit schien Gunit Sangh sich zum Erstaunen beider Seiten in der Farbe zu milchigerem Weiß zu verändern; er wurde ein bißchen weniger leuchtend, weniger körperhaft. Er klappte sich in seine geisterhafte Form zusammen und versank ohne ein weiteres Wort im Boden, als sei er Wasser.

Marquoz war hochzufrieden, obwohl die Truppen empört sein würden, weil der Kampf erneut vermieden worden war. Er hatte sich gegen die Ambreza durchgesetzt und eine weitere, möglicherweise gefährliche, Drohung ausgeschaltet, diese große, multirassische Streitkraft lahmgelegt und den feindlichen Befehlshaber verächtlich behandelt, alles auf einmal. Er war besonders froh darüber, Colonel Asam zufällig in Zone kennengelernt zu haben; von dieser Geschichte hätte er sonst nichts erfahren…

Er wandte sich ab, nickte einem Untergebenen zu, und man feuerte grüne Leuchtkugeln in die Luft. Die Armee setzte sich in Bewegung. Er und seine Adjutanten ließen sie an sich vorbeimarschieren. Sie sah enorm bedrohlich und eindrucksvoll aus. Die Ambreza und ihre Verbündeten verdrückten sich rasch; die meisten waren wohl bestrebt, aus nahen Funkzelten die Nachricht weiterzugeben.

Einer seiner Hakazit-Adjutanten schob sich heran, als die Soldaten vorbeistampften.

»Sir?«

»Ja?«

»Diese Bomben — Superbomben oder wie immer. War das wirklich wahr?«

Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf.

»General, ich würde sowenig bluffen wie eine Lüge äußern«, sagte er empört, und damit war der Fall erledigt.

Es dauerte natürlich eine Zeit, bis der General begriff, daß er im Grunde überhaupt keine Antwort bekommen hatte.

Der Marsch durch Ambreza war rasch und mühelos vonstatten gegangen. Die Straßen wurden für sie geräumt, ja, man stellte sogar Fahrzeuge zur Verfügung. Sie mieden die großen Städte, und die Ambreza und ihre Verbündeten, denen sie unterwegs begegneten, rissen nur die Augen auf, gafften und knipsten sie ab und zu sogar. Das kalte, frische Wetter ließ die Hakazit dampfen, und das verlieh allem ein noch unheimlicheres Aussehen. Marquoz freute sich darüber. Ein gutes Schauspiel.

Es war leicht zu sehen, wo Ambreza aufhörte und Glathriel anfing. In Ambreza war Winter, die Bäume waren unbelaubt, der Boden gefroren. Aber dort, ein wenig schimmernd, lag vor ihnen eine üppige, grüne Welt. Es war, als trete man durch einen unsichtbaren Vorhang aus dem Spätherbst in den wärmsten Sommer. Glathriel war ein Tropen-Hex und, wie sie sahen, kein Land, wo man alles liegen- und stehenließ, nur weil eine Armee durchmarschierte.

Sie waren überall, diese Wesen, die der herrschenden Rasse des Kom-Gebietes so ähnlich sahen. Und warum auch nicht? Das waren die Prototypen, kleiner als der durchschnittliche Kom-Mensch, aber das mochte am Klima, an der Ernährung oder an anderen Dingen liegen. Sie waren auch dunkelhäutiger, trotzdem jedoch sehr ›menschlich‹. Die meisten waren nackt oder trugen nur Lappen oder Lendenschurze — das, und Halsbänder.

Hier waren die großen Pflanzungen, von denen der Tabak Ambrezas kam, dazu gab es tropische Früchte, und Männer, Frauen und Kinder arbeiteten auf den Feldern, mühten sich ab und rackerten; menschliche Sklaven, überwacht von ihren Ambreza-Herren. Ab und zu hörten sie zu arbeiten auf und glotzten die Horden an, die auf den Straßen vorbeimarschierten, aber nicht sehr lange, und gewiß nicht, ohne sich vor Angst und Entsetzen zu ducken.

Über tausend Jahre lang war ihnen die Aggressivität ausgetrieben worden, sagte sich Marquoz, während man ihnen die für diese Arbeit erforderlichen Eigenschaften eingeprägt hatte.

Voraus gab es ein Getümmel, und Marquoz eilte hin, um den Grund zu erkunden. Zu seiner Überraschung entdeckte er drei sehr junge Menschenfrauen, die scheinbar bettelten oder flehten und sich nervös umschauten. Sie waren nackt, trugen kupferne Halsbänder und schienen sich von den anderen nicht zu unterscheiden — nur besaßen sie den Mut, sich der Marschkolonne zu nähern, von der niemand sie verstehen und auch nur zur Kenntnis nehmen wollte.

»Was hat das zu bedeuten?« brüllte er.

Die Frauen reagierten, als wären sie plötzlich wahnsinnig geworden.

»Du kannst uns hören!« riefen sie. »Du kannst uns verstehen! Gott sei Dank!«

Sie nickten. Er wandte sich den Offizieren zu.

»Gebt das weiter: Alle Glathrieliten, die sich an uns wenden, werden unter unseren Schutz gestellt und von mir persönlich in Augenschein genommen. Klar?«

Man gab den Befehl weiter. Sich nichts entgehen lassen, keine Soldaten abweisen, dachte er, gleichgültig, wie schwach oder klein sie aussahen. Außerdem mochte einer davon Zigeuner sein — äh, Nathan Brazil. Man durfte ihn keinesfalls zurücklassen, nachdem man sich solche Mühe gemacht hatte, ihn abzuholen, dachte er spöttisch.

Als man das Lager für die Nacht aufgeschlagen hatte, ließ er sie zu sich bringen. Man hatte unterwegs noch einige mehr aufgenommen — vielleicht insgesamt zwanzig —, zwei Männer, die übrigen Frauen. Sie waren natürlich wie alle anderen durch den Schacht gegangen und in Ambreza aufgewacht. Der Schacht berücksichtigte einen Hex-Tausch nicht, so daß Ambreza-Neuzugänge im alten Ambreza oder Glathriel auftauchten, während für Menschen das Umgekehrte galt. Sie fielen dadurch natürlich auf und waren rasch ergriffen und nach Glathriel gebracht worden, wo man sie auf die Felder geschickt und ihnen die Halsbänder angelegt hatte. Niemand konnte das schreckliche System fassen, und noch weniger begreiflich war die absolute Unterwürfigkeit der Einheimischen.

Sein Befehl hatte gelautet, die Nordwestkante von Glathriel zu erreichen und dort entlang zur Küste zu marschieren, dann weiter nördlich in Ginzin einzudringen und weiterzuziehen, bis er mit Mavras Armee zusammentraf, die genau nach Westen unterwegs war. Seine Nachrichtenverbindungen waren gut; Jorgasnovarier, riesengroße, häßliche platte Wesen, die aus irgendeinem Grund wie die Vögel fliegen konnten, rasten oft Hunderte von Kilometern weit zu einem zugänglichen Zone-Tor, um Nachrichten zu beschaffen, dann kamen sie zurück. Er erfuhr von der Schlacht in Olborn und dem Weitermarsch fast innerhalb von Stunden — und dort hörte man jetzt von ihm.

Vor ihnen erhob sich am Meer von Turagin jetzt Ginzin. Und noch immer keine Spur von Brazil. Das abstoßende, heiße, vulkanische Land war für die meisten ihrer Art ungastlich, aber hier, wo Land und See zusammenstießen, passierbar.

Er begann sich zu fragen, ob irgendein Fehler passiert war.

An der Küste hinauf ging es langsam voran, und sie hatten besondere Schwierigkeiten mit ihrem schweren Gerät. Trotzdem hatte er damit gerechnet, daß Brazil inzwischen auftauchen würde — oder vielmehr ein Brazil-Ebenbild, das er gut kannte, das aber für alle anderen Brazil sein würde. Wo blieb er?

Am letzten Abend in Ginzin kampierten sie schließlich, so gut sie konnten, am Strand hinauf und hinunter aufgereiht, und sahen die Sonne langsam untergehen. Er saß da und beobachtete müßig das Spiel des Sonnenscheins auf den anlaufenden Wellen, als er draußen etwas zu sehen glaubte. Er versuchte es zu erkennen. Ein Schiff — dort draußen war ein Schiff! Waynir war hochtechnologisch, und er konnte den aus den Schornsteinen quellenden Rauch sehen, als das große Schiff nach Nordwesten dampfte. Es schien jedoch der Küste seltsam nahe zu sein und ein gewisses Risiko einzugehen; im Seichtwasser hier waren Riffs und Untiefen verborgen. Er griff nach seinem Feldstecher, einem schutzbrillenartigen Gerät, eigens für seine eigenartigen Augen gebaut. Es war leistungsstark.

Er schaute hinaus und verfolgte, wie das geheimnisvolle Schiff, ohne die Fahrt zu verringern, ein kleines Boot zu Wasser ließ, das Kurs auf das Ufer nahm.

Argwöhnisch befahl Marquoz dem Posten, die anderen insgeheim zu alarmieren. Hier in einem nicht-technologischen Hex, auf der einen Seite mit dem Rücken zur See, auf der anderen zu den Vulkanklippen, schien der ideale Ort für einen Angriff zu sein.

Sie beobachteten wachsam und warteten, als das kleine Boot sich näherte. Schließlich erreichte es das Land, und zwei schattenhafte Gestalten sprangen heraus und zogen das Boot auf den Strand. Der dritte Insasse wartete noch, stand dann auch auf und sprang ins seichte Wasser. Er drückte den beiden anderen die Hand — Marquoz sah, daß sie wie Menschen von Typ 41 aussahen —, und als die beiden anderen das Boot wieder ins Wasser schoben und hineinsprangen, stieg der Passagier zu den wartenden Soldaten hinauf, die sichtlich aufatmeten.

Marquoz hörte die Menschen um sich herum den Atem anhalten, als sie die Gestalt erkannten, und zum erstenmal wurde er zuversichtlicher. Er ging der Gestalt entgegen.

»Willkommen beim Krieg, äh, Brazil!« rief er.

Die Gestalt blieb stehen und starrte das riesige, undeutlich aufragende Wesen mit den rotglühenden Augen, in der Dunkelheit nur verschwommen sichtbar, kurz an.

»Sind Sie das, Marquoz?«

»Ja, ich bin’s«, antwortete Marquoz. »Kommen Sie nur. Wir hatten Sie beinahe schon aufgegeben.«

Auf den Alarm hin waren alle Feuer gelöscht worden, aber nun loderten sie wieder auf. Der Neuankömmling trat an das erstbeste heran und nickte zufrieden.

Er trug Hose und Rock in Erbsengrün und Sandalen. Seine Haare waren ungewöhnlich lang, bis über die Schultern herabreichend, und er wirkte ein wenig wettergegerbt und etwas älter, als Marquoz ihn in Erinnerung hatte.

Marquoz vermutete, daß der echte Brazil wohl ganz genau so aussah, bis hin zur Kleidung.

»Irgendwelche Probleme?« fragte Brazil beiläufig.

»Nichts, was nicht zu bewältigen gewesen wäre«, erklärte Marquoz. »Glathriel würde Ihnen nicht gefallen. Sehr ungemütlich. Plantagensklaverei. Aber wir sind trotzdem hindurchgekommen, ohne einen Schuß abzugeben, sehr zur Enttäuschung mancher Soldaten. Ich erzähle Ihnen später alles genauer.«

Brazil nickte.

»Jetzt wird es zum Kampf kommen. Wenn ich die Gegenseite wäre, würde ich versuchen, ein Heer zwischen unseres und das von Mavra zu werfen, bevor wir uns vereinigen können. Es könnte haarig werden, wenn wir uns nicht beeilen.«

Marquoz starrte ihn argwöhnisch an. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob das wirklich Zigeuner war. Die Art, der Tonfall und die Aussprache, alles entsprach Brazil. Konnte es sein…?

Dann griff Brazil in seinen Rock, zog eine Zigarette heraus, griff nach einem brennenden Ast und zündete sie an.

Marquoz fühlte sich besser.

Brazil verzog das Gesicht, als er den Rauch einsog.

»Von hier«, murrte er. »Fast nur Zigarren- und Pfeifentabak. Das ist nicht das richtige für Zigaretten.«

»Im Krieg müssen wir alle Opfer bringen«, erwiderte Marquoz mit geheuchelter Anteilnahme.

Die Menschen, die dabei waren, ließen sich nicht mehr zurückhalten und liefen auf die kleine Gestalt am Feuer zu. Er hob bei dem Aufruhr den Kopf, seine Miene war ein Gemisch von Erschrecken und Abscheu.

Sie warfen sich vor ihm auf den Boden und riefen:»Nathan Brazil! Meister! Wir sind deine Diener! Sprich, und wir werden gehorchen!«

Er betrachtete sie, während der Ausdruck widerstreitender Gefühle über sein Gesicht huschte. Schließlich ging er auf sie zu.

»Seht mich an«, sagte er leise, und sie taten es.

Er betrachtete ihre jungen Gesichter und Gestalten nachdenklich. Schließlich sagte er wie zu sich selbst:»Vielleicht hat dieses Gott-Sein auch seine Vorteile…« Er blickte zu Marquoz hinüber. »Wie viele?« fragte er.

»Achtzehn weiblich, zwei männlich«, erwiderte der Hakazit.

Brazil nickte.

»Vielleicht wird der Marsch doch nicht so arg«, murmelte er. »Achtzehn…«

Zigeuner scheint doch ein bißchen durch, dachte Marquoz.

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