Bache, an der Grenze nach Dahir

Zigeuner zog stark an einer Zigarette, und der Widerschein der Glut erhellte auf unheimliche Weise sein Gesicht. Sonst kam Licht nur von dem rötlichen Glühen der fremdartigen Augen in Marquoz’ Kopf.

Nathan Brazil zündete eine kleine Fackel an und betrachtete die Umgebung.

»Ich glaube, hier ist es sicher genug«, sagte er zu den anderen.

Sie gaben ihm recht.

Die Gedemondaner hatten Mavra ›eine Art Kuh‹ genannt, aber für Brazil schien es wenig Einschränkungen zu geben. Braun und weiß gefleckt, besaß sie alle äußeren Eigenschaften eines Rindes und war, obschon ein wenig zottig und im Besitz von zwei kleinen Hörnern, die wie bei den Hakaks spiralförmig gewunden waren, dieselbe Art von Tier wie zuvor. Sie hatte sein Mitgefühl. Im Lichtschein drehte sie den mächtigen Kopf, um sie mit Augen zu betrachten, die, wie er wußte, sehr kurzsichtig und farbenblind waren.

Die Übertragung hatte sie weniger tief getroffen, als das bei den meisten anderen Leuten der Fall gewesen wäre; sie hatte dergleichen schon öfter erlebt, und es war nicht immer mit Absicht oder schmerzlos geschehen. Sie hatte gewartet, bis man im Morgengrauen erschienen war, um die Kühe auf die Weide zu treiben. Es war ihr leichtgefallen, der Herde zu folgen, indem sie der Kuh in sich das Kommando überließ, und hinaus in die Berge zu laufen. Von diesem Augenblick an hatte es einen innerlichen Kampf mit dem Kuhhirn gegeben, als sie versuchte, die Kontrolle zu übernehmen und das dumpfe Tiergemüt abzudrängen, bemüht, so langsam und bedächtig vorzugehen, wie sie konnte.

Die Gedemondaner hatten sich mit ihr an einer vorher bezeichneten Stelle getroffen, an einem kleinen Teich, den Kühe und anderes Vieh außerhalb der Sichtweite der Ranch benützten. Sie hatten sie begleitet, den Zaun für sie aufgebrochen und mit ihr über einen verlassenen Pfad den Weg zur Grenze eingeschlagen.

Die Gedemondaner wirkten schwach, wie ihr auffiel, schienen sich oft nicht zurechtzufinden und mußten häufig rasten. Zuerst hatte sie geglaubt, das liege an der nervlichen Belastung dieser Nacht, bis sie begriff, daß viel mehr dahintersteckte. Was sie auch getan haben mochten, um sie in dieses Tier zu versetzen, es hatte ungeheure Kraft und Konzentration erfordert. Sie wirkten alle in irgendeiner Weise gealtert.

Ihre Verfassung besserte sich in der Dunkelheit nach Mitternacht nicht. Selbst Brazil und die anderen, die mit Gedemondanern keine Erfahrung und also auch keine Vergleichsmöglichkeit besaßen, stellten eine Veränderung fest. Brazil dachte an die Murnies vor so langer Zeit und erinnerte sich, daß die Ältesten, die zur Übertragung imstande waren, ihr halbes Leben damit verbrachten, die Fähigkeit zu erlernen, und trotzdem völlig ausgelaugt waren, wenn sie sich des Verfahrens auch nur ein- oder zweimal bedienten. Immerhin regte sich ein Gedanke in seinem Gehirn, der mit einem winzigen Lichtfünkchen begonnen hatte, als er das erstemal von Mavras Verwandlung erfuhr. Obwohl es sich durchaus lohnte, dergleichen zu versuchen, wünschte er sich jetzt doch, das nicht so leichtfertig verlangt zu haben, seitdem er den Preis kannte, der dafür zu entrichten war.

»Wie viele von euch sind hier?« fragte er den Sprecher der Gedemondaner.

»Zwölf im ganzen«, erwiderte das zottige Geschöpf, »mich und den anderen Sprecher dort eingeschlossen.«

»Und es müssen mindestens drei von euch sein, damit ihr die Übertragung bewältigen könnt?«

Der Gedemondaner nickte.

»Ja, drei.«

Er schaute hinüber zu den erschöpften Begleitern des Sprechers, die an den Bäumen lehnten.

»Würde es, äh, leichter fallen, wenn mehr von euch sich damit befassen würden?«

Der Sprecher erkannte, worauf er hinauswollte.

»Nein, das glaube ich nicht. An wen von euch denkst du?«

Er zog überrascht die Brauen hoch.

»Du meinst, ihr könntet sie noch einmal versetzen? Ich dachte, die Anstrengung wäre zu groß.«

»Es wäre sogar eher leichter«, erklärte der Gedemondaner. »Sie ist kein natürlicher Bestandteil des Wesens und befindet sich noch nicht lange genug darin, um ihm völlig verhaftet zu sein. Das Problem besteht zum Teil darin, die ganze Seele zu erfassen und zu sammeln — es geht viel leichter bei einem ihr fremden Körper als bei einem damit verwachsenen.«

Brazil nickte, zögerte aber und blickte wieder auf die erschöpften, ausgelaugten Gedemondaner, die so viel von sich eingesetzt hatten, um die Rettung zu ermöglichen. Er verlangte nicht gerne von anderen, das über sich ergehen zu lassen.

Der Sprecher verstand ihn.

»Es ist gut«, tröstete er leise. »Siehst du, wir glauben an das, was ihr tut. Es ist notwendig, es ist wichtig. Wir haben Abstand vom Rest der Sechseck-Welt gehalten, gewiß, und würden es noch tun, wenn alles seinen normalen Gang ginge. So ist es aber nicht. Selbst so wären wir vielleicht imstande gewesen, uns fernzuhalten, wie wir das bei allen anderen Konflikten getan haben, aber hier besteht ein Grund von überragender Bedeutung. Er zwingt uns, alles zu tun, um dafür zu sorgen, daß du Erfolg hast.«

Brazil sah verwundert zu dem Wesen auf.

»Ein Grund von überragender Bedeutung?«

Der andere nickte.

»Wir haben die ganze Energie unserer Rasse der Aufgabe gewidmet, die Eigenschaften des Universums und die des Schachtes zu erkunden, und vor allem, was das Wichtigste ist, das Innerste jedes denkenden Wesens, die Seele, zu erforschen. Wir haben viel gelernt, aber auch erfahren, daß es Dinge gibt, die sich uns entziehen, weil wir hier auf der Sechseck-Welt festsitzen. Eine ganze Welt für uns allein, eine riesige Rasse, die Mühen, Schwierigkeiten und die Wirklichkeit des restlichen Universums außerhalb dieses winzigen künstlichen Kügelchens hinaus kennen und begreifen lernen — das ist der einzige Weg zum Fortschritt, dazu, die echte Wahrheit über uns zu erlangen.«

»Aber irgendwo habt ihr doch eine solche Welt«, wandte Brazil ein.

»Nein«, sagte der Gedemondaner traurig. »Es gab einen Fehler oder irgend etwas in dieser Art, einen Faktor, der bei unserer Vorbereitung hier für ein echtes Dasein außerhalb übersehen wurde. Wir sind ausgestorben — und zwar sehr rasch. Es scheint nicht einmal eine zweite Generation gegeben zu haben.«

»Woher wißt ihr das alles?« fragte Brazil. »Ich meine, das weiß nicht einmal ich und könnte es nicht erfahren, wenn ich nicht tief in die Maschine vorstoße. Ihr könnt das einfach nicht wissen.«

»Wir wissen es«, versicherte ihm das Wesen. »Jedes entworfene Gebilde im Universum verfügt über seine eigenen komplizierten mathematischen Verschlüsselungen. Wir können diese Codes spüren, sie sozusagen lesen. Wir wissen, daß sie übereinstimmen, und können einzelnen Rassen von ihren Modellen auf der Sechseck-Welt aus draußen nachspüren, sogar eine große Zahl von Rassen erkennen, die es auf der Sechseck-Welt überhaupt nicht mehr gibt, zumindest in mathematischem Sinne. Und wenn die Rasse nicht mehr existiert, besteht eine Lücke, eine merkbare Diskontinuität.«

Brazil war fasziniert.

»Sie meinen, ihr könnt den Code des Schachtes tatsächlich lesen

»Bis zu einem gewissen Punkt, ja«, gab der Gedemondaner zu. »Infolge dieser Fähigkeit können wir einen kleinen Teil vom Potential des Schachtes selbst nutzen, mehr oder weniger auf die Art und Weise der Markovier. Daher kommt es, daß wir manchmal Zukunftsströmungen wahrnehmen, Schlüsselfiguren erkennen und Dinge bewältigen können, wie die Übertragung und Blendung vom Denken anderer. Du kannst dir vorstellen, wie enttäuschend das ist. Den markovischen Fähigkeiten und Erkenntnissen so nah zu sein — so nah und nicht näher, denn wir breiten uns nicht aus, wachsen nicht, gelangen nicht in eine Lage, wo wir die Situation vom anderen Ende, vom Universum aus betrachten können. Und das ist der Grund, versteht sich, weshalb wir euch in jeder möglichen Beziehung helfen müssen.«

Nathan Brazil dachte eine Weile nach, dann lächelte er schwach. Er schüttelte langsam den Kopf und richtete vorwurfsvoll den Zeigefinger auf den Sprecher.

»Ihr wollt, daß ich neu anfange«, sagte er, halb verblüfft, halb belustigt. »Ihr wollt es noch einmal versuchen.« Soviel zur reinen Menschenfreundlichkeit, dachte er. Die versnobten Burschen dachten in erster Linie an sich selbst. Er fragte sich, wie groß der Unterschied bei Gesellschaft und Kultur der Gedemondaner zu manchen alten Kom-Welten eigentlich war. Immerhin, das erleichterte manches.

»Hören Sie«, sagte er, »wir haben es hier mit zwei Problemen zu tun. Zum einen ist Mavra zur Zeit nicht reisefähig, und wenn sie bleibt, was sie ist, wird sie vermutlich an irgendeinem Bratspieß landen. Zweitens wird Gunit Sangh darauf warten, daß ich jetzt einen Ausbruchsversuch unternehme, und es wird deshalb von Streifen und allen möglichen Sperren nur so wimmeln. Wäre nicht plötzlich alles auseinandergefallen, dann hätte ich es wohl mit nur kleinen Schwierigkeiten schaffen können. Der Anfangsplan, soweit er reicht, ist immer noch haltbar. Wir kommen nur hinein, wenn wir fliegen.«

»Sie wollen also, sagen wir, Agitar werden und Mavra zu Ihrem Pegasus machen?« erriet Zigeuner. »Keine schlechte Idee, wenn sie einverstanden ist.«

Mavra drehte den Kopf und gab einen tiefen Muhlaut von sich, bei dem man sich denken konnte, was man wollte.

»Das wäre eine gute Idee gewesen, wenn wir uns noch an die ursprüngliche Idee halten würden, aber ich glaube, auf solche Dinge sind sie schon gefaßt. Ich verfüge hier nicht über die Möglichkeiten wie auf den Kom-Welten, schon gar nicht hier in dieser gottverlassenen Gegend. Keine Tarnung, die wir uns einfallen lassen würden, könnte einer gründlichen Überprüfung standhalten, und Sangh ist kein Dummkopf. Er wird jedes Wesen, das auch nur entfernt ich sein könnte, zur Sicherheit herunterholen. Nein, wir müssen uns schon etwas Raffinierteres einfallen lassen. Machen wir Mavra und mich zu Pegasussen.«

»Aber da werden Sie nicht sprechen können«, stellte Marquoz fest. »Für jeden anderen werden Sie dumpfe Tiere sein.«

»Dann werden wir eben Reiter haben«, gab Brazil zurück.

»Die wenigen Wesen dieser Art, die wir hatten, sind alle gestohlen worden«, erklärte der Hakazit. »Ich weiß nicht, wieviel Vertrauen wir den Agitar-Reitern schenken können.«

»Nicht Agitar«, sagte er. »Einen Gedemondaner, versteht sich, weil wir eine Methode finden müssen, mit der wir uns im Notfall verständigen können.« Er sah den Sprecher an. »Ich nehme an, daß etwas in dieser Art möglich ist.«

Der andere nickte.

»Der Gedemondaner könnte dann durch Handauflegen eine Art Leitung für das Gespräch werden«, meinte er langsam. »Ich glaube, das würde gehen. Aber warum nicht zwei von uns?«

»Ihr seid nützlich, aber keine Kämpfer«, sagte Brazil knapp. »Es muß jemand dabeisein, der mit Waffen umgehen kann.«

»Wir sind nicht wehrlos, aber es trifft zu, daß wir nur in Notwehr handeln können, wo es um denkendes Leben geht«, räumte der Gedemondaner ein.

»Ich glaube, ich bin ein bißchen zu groß und zu schwer für einen Pegasus«, warf Marquoz ein. »Aber ich muß schon sagen, wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, wäre ich am Ende schon zu gern dabei.«

Brazil nickte.

»Also gut, dann müssen wir einem der Agitar vertrauen. Sucht den Besten aus, den es gibt, und schafft ihn und zwei von den geflügelten Pferden her, so rasch es geht.«

»Das mache ich«, sagte Zigeuner und verschwand.

Sie starrten alle auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, und es war Brazil, der fassungslos den Kopf schüttelte.

»Wie macht er das nur?« fragte er verwundert.

»Er sagt dem Schacht, was er will, und dieser leistet das für ihn«, gab der Sprecher der Gedemondaner zurück.

Sie sahen das Wesen an.

»Soll das heißen, der Schacht reagiert auf seinen Willen?« wollte Brazil wissen.

Der Sprecher nickte.

»Er ist praktisch ein Markovier«, sagte er tonlos.

Brazil schüttelte den Kopf.

»Nein, ist er nicht. Markovier hatten auf der Sechseck-Welt keinen Zugang zum Hauptcomputer. Das hätte den Sinn des ganzen Experiments verfälscht.«

»Das macht er aber«, behauptete das Wesen. »Ich konnte es fühlen, beinahe sehen.«

Brazil starrte in die Dunkelheit hinein.

»Wer, zum Teufel, kann das gelernt haben — und wie?« murmelte er.


* * *

Der Agitar war ein Neuzugang namens Prola, eine ehemalige Olympierin mit großem Selbstvertrauen. Als Agitar-Mann fühlte sich die ehemalige Amazone nicht sonderlich wohl, betrachtete die neue Aufgabe aber als eine vom Himmel geschenkte Gelegenheit.

»Ich bedaure nur, daß ich diese Tiere nicht so gut reiten kann«, sagte Prola.

»Keine Sorge«, antwortete Brazil. »Sie halten sich nur fest und lassen mich fliegen. Wird schon gehen«, fügte er halblaut hinzu.

Sie versammelten sich ein letztes Mal um das Licht. Brazil zog eine Karte heraus und breitete sie auf dem Boden aus.

»Also, Sangh wird fast mit Gewißheit heute früh angreifen. Ich will nicht, daß ihr kämpft. Zigeuner, sobald wir fort sind, sagen Sie Asam, er soll mit allen direkt zur Ellerbanta-Verion-Avenue ziehen. Sangh wird euch auf den Fersen sein, aber ihr führt nur Rückzugsgefechte. Marquoz, Ihre Leute können das wohl am besten. Je schneller ihr marschiert, desto geringer ist die Bedrohung der Nachhut, weil der Feind damit rechnet, daß ihr euch hier stellt und kämpft und nicht davonlauft. Auf eine Verfolgungsjagd wird er logistisch nicht eingerichtet sein. Wenn Sie können, Zigeuner, gehen Sie anschließend zu Yua hinunter und sagen ihr dasselbe.«

»Aber dann prallt sie direkt auf Khutirs Armee«, wandte der fremdartige Mann mit dem dunklen Teint ein. »Das wird ein Gemetzel. Khutir ist ihr zahlenmäßig und an Erfahrung weit überlegen.«

»Aber er wird ganz schnell erfahren, daß die Hauptarmee von seiner Flanke her auf die Avenue vorstößt. Ich wette, er wird entlang der breiten Front alles auf Abwehr umstellen und sie zu halten versuchen, bis Sangh hinter eurer Armee auftauchen kann. Er muß mit seiner Armee beide Verbände aufhalten, vergeßt das nicht, und dadurch ist er ausschließlich in die Defensive gedrängt, zahlenmäßig und waffentechnisch überlegenen Truppen gegenüber.«

»Während Sie inzwischen über seinen Kopf dahinfliegen«, meinte Marquoz leise lachend. »Nicht schlecht. Durchaus nicht schlecht.«

»Und nicht so einfach, wie es sich anhört«, warnte Brazil. »Es kann immer noch sein, daß ihr uns aus den Händen der Gegner befreien müßt, aber das ist trotzdem unsere beste Möglichkeit. Wenn eine der beiden Armeen Khutirs Abwehrfront durchstoßen kann, schön und gut. Marschiert zur Avenue, sucht euch die beste Stellung aus und führt notfalls ein Nachhutgefecht.«

»Wie… wie werden wir es erfahren, ob Sie es geschafft haben?« wollte Zigeuner wissen.

Brazil lachte leise.

»Nun, die Gedemondaner könnten es euch sagen, aber es wird einen einfacheren Weg geben, vor allem, wenn es dunkel ist.«

»Hm?«

»Wenn Mavra mir den Auftrag gibt, schalte ich ab«, erklärte er. »Dann erlöschen die Sterne.«

Zigeuner schluckte nervös.

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