Es wurde nicht nur rasch kalt, sondern auch steil; die blauweißen Berge, von Dillia aus eine so herrliche und romantische Szenerie, verwandelten sich nur zu bald in eine ganz andere und fremdartige Landschaft. Nach nur wenigen Kilometern schrumpften die Bäume fast völlig zusammen, und der Wald machte nackter Tundra Platz, die lediglich von winterfestem Gras, Moos und Flechten bedeckt war. Selbst das hielt nicht lange vor; drei oder vier Kilometer weiter war das unaufhörlich ansteigende Gelände gefleckt mit nassem, schmutzigem Schnee; überall tosten Wasserfälle; zumeist kleine gab es überall dort, wo sich ein Felsvorsprung oder eine Klippe zeigte; allerorten schlängelten sich Rinnsale. Mit je fünfhundert Meter, die sie hinaufstiegen, wurde es um ungefähr zwei Grad kälter — und die Wege führten stets bergan.
Mavra begann im Verlauf des Marsches den Zentaurenkörper besser zu würdigen. Er besaß ganz gewiß mehr Kraft für solches Steigen und konnte außerordentlich schwere Lasten an Vorräten auf dem Pferderücken tragen, wenn sie gut verteilt waren. Sie trug zuerst eine weite Jacke, tauschte diese aber gegen eine dickere, nerzartige Pelzjacke und zog eine Strumpfmaske aus Pelz und dicke, lederartige Handschuhe mit Pelzfütterung über. Während der Pferdekörper der Dillianer durch zarte, jedoch dichte Behaarung und Fettschichten die Kälte abwehrte und Wärme speicherte, hielten die menschlicheren Teile kaum mehr aus als ihre frühere Haut und brauchten starken Schutz.
Colonel Asam war ihm Gegensatz zu ihr von dunklem Braun, das von der Sonne mehr Wärme aufzunehmen schien, und er blieb lose und bequem gekleidet, der Kälte gegenüber scheinbar unempfindlich. Selbst als der Anstieg mühsam wurde und sie entdeckte, daß ihre gewaltige Lunge zu brennen begann, führte er das Gespräch fast pausenlos weiter und berichtete von vielen seiner Abenteuer und den Leuten und Ländern, die er gesehen hatte. Sie ließ ihn reden, teils deshalb, weil ihm das Vergnügen zu machen schien — obwohl seine Genossen eher gelangweilt wirkten, da sie das vermutlich alles schon mehrmals gehört hatten —, und auch deshalb, weil er ein faszinierender Mann war. Gelegentlich bat er sie, ihre Meinung zu irgendeinem Punkt mitzuteilen oder eine ähnliche Episode aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, und es dauerte einige Zeit, bis sie begriff, daß er auf ganz verstohlene Weise versuchte, noch viel mehr Informationen aus ihr herauszuholen. Für wen? fragte sie sich. Für sich selbst? Für irgendeinen Auftraggeber? Asam war in starkem Maß das, was sie gewesen, was vor so langer Zeit ihr Mann gewesen war: ein Abenteurer, ein Freibeuter, aber auf dessen Wort Verlaß war und der getreu jeden einmal übernommenen Auftrag auszuführen pflegte. Sie kam zu dem Schluß, daß es das beste war, wenn vorwiegend er redete.
»Diese Sache mit der Pest«, sagte sie, ein Stichwort nennend. »Worum ging es da?«
Er lächelte, zufrieden, eine neue Zuhörerin zu haben.
»Tja, Kind, das liegt zwanzig oder noch mehr Jahre zurück, schätze ich. Da waren diese beiden Hexagons, Morghun und Dahbi, unmittelbar nebeneinander, und Morghun war ein fruchtbares Ackerland, wo alle möglichen Vieharten und Früchte und Gemüsesorten gezüchtet wurden — tonnenweise — und man die Produkte im Austausch gegen benötigte Dinge, in erster Linie Fabrikwaren, exportierte. Das ist ein nur teilweise technologisches Hex wie Dillia, und das verlieh den Leuten die Energie, die sie brauchten, um das Land zu bewässern, und was dergleichen mehr ist. Da Nahrungsmittel und Häute von dort im Laufe der Jahre fast allem anderen in der Umgebung weit überlegen waren, wurde Morghun zu einer Art großem Markt, den jedermann besuchte. Die meisten anderen Hexagons plagten sich mit Landwirtschaft und dergleichen! gar nicht mehr ab — sie hatten es nicht nötig. Die Hochtech-Hexagons vor allem denken ja immer gleich an Ausgefallenes. Die meisten, gleichgültig, welcher Art die Kultur, können kein schönes Stück Weideland sehen, ohne gleich davon zu träumen, wie man das zu irgendeinem Zweck schön teeren könnte. Sie stellten also die guten Speziallegierungen für die Maschinen von Morghun und andere Dinge her, die von den besten Maschinen am besten erzeugt werden — Kunstdünger, landwirtschaftliche Gebäude aus Fertigteilen, in dieser Richtung. Ganz zu schweigen von schönen Ferien für die Landwirte, wenn sie danach Lust hatten. Das hatte sich alles gut eingespielt.«
»Und Dahbi?« fragte sie interessiert.
»Eine Rasse von Halunken«, erwiderte er. »Alle miteinander. Abschaum der Erde. Davon gibt es auf dieser Welt einige, wenn auch zum Glück nicht sehr viele. Theokratie, beruhend auf Altenkult. Sehr brutal, ärgste Unterdrückung. Ritueller Kannibalismus, zum Beispiel — die übliche Hinrichtungsmethode. Sie werden von der Gemeinde bei einer religiösen Feier gegessen — und zwar lebendig. Sie glauben, daß sie auf diese Weise die Seele verzehren und der Betroffene deshalb als Ahnengeist nicht mehr herumlaufen wird. Eine Art großer Heuschrecken, das kommt der Sache wohl am nächsten — Albino-Heuschrecken, ganz weiß. Aber sie sind nicht wie Sie und ich und die meisten Rassen, denen man begegnet. In ihrer Beschaffenheit haben sie etwas ganz Verrücktes — sie gehen durch feste Wände.«
Sie starrte ihn an.
»Das soll wohl ein Witz sein!«
»Nein. In dem ganzen verdammten Hex gibt es keine einzige Tür. Sie quellen sozusagen nur durch die Ritzen und gehen auf der anderen Seite an der Wand herunter. Tja, jedenfalls ist eine Religion keine Religion mehr, wenn sie so lange so streng bleibt. So groß sind die Sechsecke nicht — früher oder später, vor allem, wenn man Handel treibt, sehen deine Leute, daß andere nicht so elend zu leben brauchen wie sie, und das bringt sie auf Gedanken. Sie sind nicht-technologisch, so daß sie, um Fertigwaren bekommen zu können, Handel treiben müssen. In erster Linie mit Mineralien. Wenn man Gestein durchdringen kann, ist man von Natur aus sozusagen Bergmann. Sie vermieten, über die Religion, versteht sich, sogar Arbeitstrupps, die anderswo schürfen, Brunnen graben und dergleichen. Was kann der Kult nun bieten? Ein schöneres Leben nach dem Tode? Das taugt eine Weile, aber wenn die Leute ringsum besser leben, als dein Nachleben dir verspricht, na, da fängst du an, dir Gedanken zu machen. Das taten viele Dahbi, und das ganze Volk kann man nicht gut ausrotten. Die Führer sind kluge Leute — üble Burschen, aber schlau. Um selbst zu überleben, beschlossen sie, zu produzieren — und das hieß, benachbarte Länder wie Morghun für Besiedelung, Beherrschung und Kontrolle durch Dahbi zu öffnen.«
»Aber ich dachte, das geht nicht«, wandte sie ein. »Ich meine, ob ich durch Wände gehen kann oder nicht, man kann doch nicht wirklich annehmen, daß ein nicht-technologisches Hex ein hochtechnologisches oder auch nur teilweise technologisches Hex in einem Krieg besiegt.«
»Ganz richtig«, bestätigte Asam. »Und die Dahbi wußten das auch, obwohl sie im Nahkampf enorm gut sind. Sie haben scharfe Klingen an den Beinen und scheußliche Mahlkiefer. Nein, was ihr Führer, das Größte an Schweinehund, den es je gegeben hat — er hieß Gunit Sangh —, zustande brachte, war eine Abmachung mit einem Hochtech-Hex im Norden, wo man überhaupt keine Ahnung davon hatte, wie es in Ländern bei uns steht. Sie erzeugten künstlich einen Erreger, ein Bakterium, mit dem die Morghuner hingerafft wurden. Das war nur der Anfang, wohlgemerkt. Die Dahbi wollten schließlich mit einer Art Wunder-Heilmittel, vermischt mit religiösem Gefasel, dahergestürzt kommen und den Rest der Bevölkerung von Morghun ›retten‹. Inzwischen wären die Dahbi natürlich in Massen angetreten und hätten das Kommando übernommen.«
»Und das haben Sie verhindert?«
Er nickte stolz.
»Sozusagen. Niemand wußte nämlich, daß die Dahbi dahintersteckten. In irgendeinem Hex brechen immer Seuchen aus, und die verdammten Wesen hatten sich aufgeführt wie alle besorgten Nachbarn — freundlich, hilfsbereit, Sie verstehen. Und da kein Erreger von einem Hex einer anderen Rasse schaden kann, liefen sie auch keine Gefahr. Der Botschafter von Morghun, der selbst daran auf den Tod erkrankt war, wandte sich an den Zone-Rat um Hilfe und bewog Czill, ein Hochtech-Hex mit wandelnden Pflanzen, wo in der Hauptsache reine Forschung betrieben wird — wie eine riesige Universität, sozusagen —, dazu, sich für die Sache zu interessieren. Man isolierte den Erreger, und als das geschehen war und man geklärt hatte, daß es sich um ein künstliches Produkt handelte, erfand man ein Gegenmittel. Das Problem dabei war nur, es gab keinen Morghun-Bewohner, der fähig gewesen wäre, auch nur zum Zone-Zugang zu gelangen und das Zeug abzuholen. Aus diesem Grund erboten sich zwei benachbarte Hexagons, das zu übernehmen. Es stellte sich heraus, daß die Lieferungen überhaupt nicht ankamen. Kein Zweifel daran, daß jemand sie aufhielt.«
»Und wie sind Sie hineingeraten?« fragte sie gebannt.
»Ich war in Dhutu, nicht weit von ihr. Ortega setzte sich mit mir in Verbindung und machte mir klar, worum es ging. Die Dhutu sind nicht sehr mobil — sie kriechen langsam dahin und brauchen einen ganzen Tag, um durch das Zimmer zu kommen, aber sie sind ungeheuer stark. Es machte keine Mühe, das Serum zu beschaffen, aber dann stellte ich eine Mannschaft auf, und wir begannen eine Reise von viertausend Kilometern nach Morghun. Eine haarige Sache, kann ich Ihnen sagen.«
Von dem Dutzend Angehörigen seines Trupps hatten nur vier überlebt. Dahbi hatte Söldner angeheuert, um sie zu überfallen, und als seine Leute sie abwehrten, waren sie selbst aufgetaucht, aus dem Boden oder Gestein gequollen; wenn man beschloß, eine Rast einzulegen, schlitzten sie still und leise Kehlen auf und verschwanden wieder im massiven Fels.
»Wie haben Sie sich dann doch durchgesetzt?« fragte sie.
Er lachte.
»Eigentlich durch Zufall. Einer kam aus einer Felswand heraus, als ich nicht hinsah, und erwischte mich beinahe, bevor ich ihn aus dem Augenwinkel bemerkte. Ich war nicht in der Nähe meiner Waffen, das einzige, was ich in der Hand hatte, war ein großer Eimer Wasser aus dem Fluß, den ich für Waschzwecke geholt hatte. Ich fuhr herum und schleuderte den Kübel auf den Halunken, verfehlte, traf den Fels über seinem Kopf, das Wasser schwappte heraus, und der Dahbi wurde von einem Teil getroffen. Es war ganz unheimlich, wissen Sie, ganz so, als wäre er dort, wo das Wasser ihn berührte, zu festem Fleisch geworden, wie wir. Ohne jede Vorwarnung. Der Teil, der naß wurde, schien ganz glatt zu werden und fiel dann ab. Er kreischte entsetzlich, und was noch von ihm übrig war, verschwand wieder im Gestein.«
»Aber — Wasser?« meinte sie ungläubig. »Ich meine, die müssen doch in ihrem Hex auch viel Wasser haben, ganz gewiß in den Bergwerken.«
Er zog die Schultern hoch.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, sie können vielleicht fest sein wie Sie oder ich, oder auch anders, etwa, wenn sie durch Gestein quellen. Vielleicht verändern sie ihre — wie sagt man dazu? — Molekularstruktur, glaube ich. Sie können das eine oder das andere sein, aber nicht beides auf einmal. Wenn sie fest sind, reagieren sie auf Wasser genau wie wir — und ich weiß, daß sie trinken.« Er grinste. »Sie bluten sogar — gelb, aber sie bluten. Wenn sie in den anderen Zustand umwechseln, wandelt sich auch das Wasser in ihnen — in ihren Zellen — in die neue Form um. Aber wenn das geschieht, führt eine größere Menge Flüssigkeit dazu, daß das Getroffene sich zurückverwandelt, und sie fallen auseinander. Es muß wohl ein richtiger Guß sein, nehme ich an, weil es selbst in Gestein Wasser gibt. Nun, danach nahmen wir einfach Eimer mit und erwischten eine ganze Reihe von ihnen. Erreichten Morghun, und was konnten die Dahbi noch sagen? Öffentlich dankten sie uns für die großartige Leistung, ihre lieben Freunde gerettet zu haben. Ganz privat wußten sie und wir, wer damit angefangen hatte, und alle anderen wußten es auch — aber beweisen konnte man nichts. Sie hatten ihre Spuren zu gut verwischt. Sie scheiterten und ließen das auf sich beruhen. Aber der alte Gunit Sangh belegte mich mit einem Fluch, und ich sah zu, daß ich nach Hause kam. Ich gebe zu, daß ich seitdem kaum noch in ihre Nähe gekommen bin. Nicht, solange Sangh noch lebt.«
»Sie glauben, daß er Sie nach all der Zeit immer noch haßt?« fragte sie.
»O ja. Jetzt mehr denn je. Blutrache. Seine Jungs haben es in den vergangenen zwanzig Jahren oft genug probiert. Oft genug. In letzter Zeit hat er aufgegeben, glaube ich, aber das heißt nicht, daß er vergessen hätte. Wenn er die Gelegenheit dazu bekäme, würde er mir die Kehle aufschlitzen und mich verzehren. Und wenn ich die Gelegenheit hätte, weiß ich ganz genau, daß ich ihn zerschnitzeln würde. Ich bezweifle jedoch, daß einer von uns beiden je dazu kommen wird. Aber wer weiß?«
Der Wind wurde stärker; Wolken waren aufgezogen, verhüllten teilweise die Sonne, und es war rasch einige Grade kälter geworden. Sie befanden sich jetzt in den unteren Schneefeldern, wo die Temperatur beim oder knapp unter dem Gefrierpunkt lag, und durch den Wind schien es noch viel kälter zu sein.
»Nicht mehr weit den Steig hinauf, und wir erreichen eine Schutzhütte«, erklärte er seinen Begleitern. »Wenn dort nicht schon jemand ist, übernachten wir da. Es wird spät, und der Wind kommt mächtig auf.«
Entlang der wichtigsten Steige in Gedemondas hatten Dillianer ein ganzes Netz von Schutzhütten für ihre Jagdgesellschaften errichtet. Wenn die einheimischen Bewohner Einwände hatten, waren diese nicht bekannt geworden, und sie hatten die Fremden auch nicht belästigt.
Die Hütte, ein großer Holzbau mit dem Kamin an der Rückseite, sah friedlich genug aus. Wenn die früheren Benutzer die Vorräte nicht aufgebraucht hatten, würden sich im Inneren Kornballen befinden, Kochtöpfe und Utensilien und sogar einige Klafter Holz, gestapelt von Versorgungsstreifen aus Dillia.
»Kein Rauch«, stellte Asam fest. »Wir scheinen Glück zu haben.« Trotzdem zog er die Brauen zusammen, und als sie weitergehen wollte, hielt er sie zurück. Sie schaute sich um und sah, daß die anderen Teilnehmer sich flach auf den ebenen, schneebedeckten Felsboden gelegt hatten und langsam nach ihren Bogen griffen.
»Was ist denn?« flüsterte sie, eher verwirrt als ängstlich.
Er bewegte den Kopf.
»Dort drüben. Drei oder vier Meter hinter der Hütte, direkt am Rand.«
Sie starrte in die angegebene Richtung. Ein dunkler Fleck. Nein, nicht dunkel. Im wolkenverhangenen Spätnachmittagslicht war schwer etwas zu erkennen, erst recht nicht durch die Schneebrille, die sie oberhalb der Schneegrenze sofort aufgesetzt hatte.
Vorsichtig schob sie die Brille hoch, um besser zu sehen. Rot — blutrot, ein roter Streifen im Schnee, ganz nah, nein, eigentlich am Rand. Und Schleifspuren.
»Könnte ein Unfall sein«, sagte sie leise. »Oder Überreste von der Beute eines Jägers.«
»Das könnte sein«, gab er zu, aber sein Bogen war schon gespannt. »Können Sie mit einer Waffe umgehen? Ich hatte vergessen, das zu fragen.«
»So etwa das einzige, mit dem ich halbwegs umgehen kann, wäre ein Säbel«, sagte sie seufzend.
»Warum nicht?« meinte er achselzuckend und griff in seine Traglast auf dem Rücken. Er zog eine metallene Scheide hervor — kein kleines, schlichtes Ding, sondern ein riesenhaftes, bedeckt mit fremdartigen, reichverzierten Mustern. Es war offensichtlich ein Breitschwert, der Griff massiv und fest, aber ebenfalls verziert mit den Nachbildungen von Wesen, deren wahre Form sie daraus nicht entnehmen konnte. Er gab ihr die Waffe. »Früher oder später ist alles nützlich«, war seine einzige Erklärung.
Sie schnallte sich die Waffe um die Hüften, dort, wo ihr humanoider Körperteil in den pferdeartigen überging, und zog die Klinge heraus. Sie war gut ausgewogen und lag trefflich in der Hand, schien so vollkommen zu sein, daß mit einer Hand mühelos Schwünge zu vollführen waren. Aber für ernsthafte Arbeit wie das Zerhauen von Schädeln war beidhändiger Gebrauch besser.
»Colonel?« Hodl, einer der Begleiter, flüsterte ihm etwas zu. Asam nickte, und der andere Zentaur schob sich langsam vorwärts, die Armbrust im Anschlag, die Augen auf die Hüttentür gerichtet.
Alle hatten ihre Traglasten abgelegt; bei einem Kampf würde Gepäck sie behindern. Der Mann, der die Vorhut übernahm, war vorsichtig, versuchte sich aber nicht zu verbergen. Er war schließlich über zweieinhalb Meter groß und über drei Meter lang, wog an die siebenhundert Kilogramm, konnte also kaum wie einer auftreten, der sich heimlich anschleicht.
»An wen denken Sie«, flüsterte sie Asam zu. »An einen Ihrer alten Feinde?«
Er antwortete mit einem Achselzucken, ohne den Blick von der Tür abzuwenden. Ein zweiter Mann machte sich auf den Weg, in einigem Abstand hinter dem anderen. Sie gedachten sich der Hütte von allen Seiten zu nähern und dafür zu sorgen, daß nur ein einziger von ihnen zunächst angegriffen wurde — wenn da wirklich Angreifer waren.
»Könnte alles mögliche sein«, sagte er leise. »Gedungene Meuchelmörder, Freibeuter, Verbrecher aus Dillia oder einem anderen Hex. Schwer zu sagen.«
Es erstaunte sie ein wenig, sich Dillianer als Verbrecher oder Mörder vorzustellen. Sie waren ein rauhes, aber liebenswertes und nüchtern denkendes Volk. Doch es mußte auch Übeltäter geben, wie überall.
Sie waren jetzt auf allen Seiten rings um die Hütte ausgeschwärmt und hielten einen Abstand von mindestens zehn Metern zur Hüttentür. Über andere Angriffsmöglichkeiten machten sie sich weniger Gedanken; von oben waren sie auf dem Felssims einigermaßen geschützt; der weitere Verlauf des Steigs war weit überblickbar, und die Hütte stand am Rand einer senkrecht abstürzenden Felswand. Sie dachte an die Dahbi und war der Meinung, daß ihre Nichtbeachtung der Felswand ein Fehler sein mochte. Wenn es auf dieser Welt Wesen gab, die massives Gestein durchdringen konnten, fand man Dutzende, die an senkrechten Felswänden kleben oder sich bis zur Unsichtbarkeit tarnen konnten. Einige von der letzteren Art hätten in der fernen Vergangenheit im weit entfernten Glathriel beinahe ihren Untergang bedeutet.
Der vorderste Jäger hatte die bewußte Stelle auf der anderen Seite der Hütte erreicht. Sie blieb hinter dem Halbkreis der Männer zurück, fühlte sich hilflos und ein wenig gereizt, weil sie diesen Dingen nicht gewachsen war. Und trotz ihrer großen Masse war sie immer noch kleiner, aber nicht wendiger als die Männer.
Immerhin bildete sie die Nachhut, das Schwert in Bereitschaft, und zog die Brille wieder über die Augen, die schon ein wenig zu schmerzen begannen.
»Colonel!« rief der vorderste Mann. Seine Stimme hallte von den Felswänden nah und fern schwach wider. »Drei Leute. Jäger. Von uns. Übel zugerichtet. Man hat sie zerstückelt und dann über die Felswand geworfen. Sie liegen vierzig, fünfzig Meter weiter unten, wo der Hang flacher wird.« Er versuchte nicht zu flüstern. Wenn die Mörder noch in der Nähe waren, wußten sie gewiß, wo die Leichen lagen.
Asam überlegte, dann drehte er sich nach Mavra um.
»Könnten es Gedemondaner gewesen sein, die das getan haben?«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Ausgeschlossen. Wenn sie dich töten wollen, richten sie einfach den Finger auf dich, du rollst dich zusammen und stirbst.«
»Dachte ich mir fast«, murmelte der Colonel und blickte wieder auf die Hütte. »Also, Jungs, machen wir einen Besuch.«
Sie näherten sich der Hütte langsam und bedächtig von allen Seiten, bis der vorderste nur noch wenige Meter von der Eingangstür entfernt war. Es war Mavra, die zum erstenmal sah, daß sie sich zwanzig oder dreißig Meter ins Freie gewagt hatten, von oben her gesehen. Da oben war etwas, ein Schatten, ein Etwas…
»Asam!« kreischte sie. »Über und hinter Ihnen!«
In diesem Augenblick schnellten sich die Angreifer hoch oben ab und stürzten auf sie herab. Sie waren mehr als ein Dutzend, manche bewaffnet mit Piken, andere mit Armbrüsten, wieder andere mit Schwertern.
Sie waren Fledermäuse — nein, irgendeine Art Affen mit Fledermausflügeln — oder — was sie auch sein mochten, sie waren klein und wendig, sie konnten fliegen, hatten glühende Augen und scharfe Zähne, und sie trugen Uniformen von matter Kupferfarbe.
Aber sie flogen nicht herab, sondern vollführten gesteuerte Sprünge wie Fallschirmakrobaten, doch mit einer gewissen Manövrierfähigkeit, und sie stießen besonders fremdartige Kreischlaute aus, die wie schrille Dudelsäcke bei Jodelversuchen klangen.
Zwei mit Armbrüsten feuerten ihre Bolzen ab, während sie noch herabstürzten, verfehlten aber ihre Ziele, und die Geschosse fetzten in den Schnee; Hodl und ein anderer, die schräg zur Sturzrichtung standen, fuhren herum und hoben ihre Armbrüste. Aus dieser standfesten Haltung heraus konnten sie sie nicht verfehlen. Die Wucht der Dillianer-Bolzen war so groß, daß die beiden Getroffenen schlagartig zurückgeschleudert zu werden schienen, an die Felswand prallten und schlaff zu einem neuen Angriff ansetzten.
Inzwischen hatten die anderen sich jedoch auf sie gestürzt. Zwei sprangen Asam gleichzeitig an. Sie waren klein, aber außerordentlich kraftvoll; einer warf sich auf seinen Kopf und den Rumpf, der andere auf seine Hinterbacken. Der Colonel bäumte sich auf und krümmte sich, schleuderte den einen von seinem Hinterteil, ließ den Bogen fallen, packte das andere Wesen bei seinen ausgestreckten, gefährlichen Krallen und hieb es mit ungeheurer Wucht an die Felswand.
Bevor Mavra wußte, wie ihr geschah, griff eines der Geschöpfe sie an. Sie wartete, dann warf sie sich nach vorn, beide Hände am Schwertgriff.
Das Wesen spießte sich auf der Klinge auf und verspritzte dickes, rotes Blut, aber tot war es nicht; auf irgendeine Weise, schrecklichen Haß in seinem verzerrten, unfaßbar häßlichen Gesicht, hob sein rechter Arm den spitzen Speer, während sein Körpergewicht am Breitschwert Mavra mit zu Boden riß. Es blieb ihr nur ein Sekundenbruchteil, um zu entscheiden, was sie tun sollte. Im Sturz, aus dem Gleichgewicht geraten, gab es nur eines, was sie tun konnte: Sie ließ sich fallen und überschlug sich, der Speer zuckte heran, durchbohrte ihre dicke Pelzjacke, und sie spürte an der linken Körperseite einen sengenden Schmerz.
Zu aufgebracht, um darauf zu achten, sprang sie blitzschnell hoch und sah, daß das immer noch aufgespießte Ding zuckte und lallte. Grenzenlose Wut durchflutete sie, und sie bäumte sich auf den Hinterbeinen auf und warf sich hinunter, während ihre Vorderbeine mit den schweren Hufeisen immer wieder auf das Wesen trommelten.
Inzwischen waren auch die übrigen Geschöpfe heruntergekommen und griffen an. Sie hatten Erfolg; zwei von den Zentauren lagen am Boden, Bolzen oder Speere in den Leibern, aber Asam stand immer noch aufrecht, eine blutende, jedoch nur oberflächliche Wunde an der linken Seite seines Pferdeleibes. Einem der Wesen gelang es, sich zu überschlagen, und es versuchte emporzufliegen und schleuderte einen Speer nach dem tobenden Colonel. Er traf, aber alles, was er tat, war, zusammenzuzucken und aufzuschreien, mehr aus Wut als aus Schmerz. Er griff nach hinten, riß den Speer aus seinem Körper und schleuderte ihn auf den jetzt sich in der Luft befindlichen Angreifer. Der Speer traf das Geschöpf, es erstarrte kurz, dann fiel es wie ein Stein über die Felswand hinab.
Mavra fuhr herum, ohne die Schmerzen zu beachten, und stürzte sich mitten ins Getümmel. Plötzlich schienen ihr ledrige Flügel ins Gesicht zu klatschen, sie verspürte einen ungeheuren Schlag, so gewaltig, daß ihr Gehirn im Schädel hin und her zu prallen schien, dann kam die Dunkelheit. Sie nahm nicht einmal wahr, daß sie hinstürzte.
Sie glaubte in einem Meer aus klebriger Flüssigkeit zu ertrinken, vermochte sich nicht zurechtzufinden, konnte nichts sehen als die strudelnde, nasse Masse, die sie umgab. Sie versuchte sich dagegen zu wehren, die überwältigende, alles verschlingende Bewegung zu bekämpfen, aber das war aussichtslos. Sie verspürte Schmerz, dumpfes Pochen und scharfe, sengende Zuckungen, gegen die sie nichts tun konnte, und es war abwechselnd erstickend heiß, dann wieder eisig kalt. Sie schlug in der wirbelnden, flüssigen Masse um sich, versuchte sie abzuwehren.
In der Masse schienen sich auch noch andere zu befinden; fremdartige Formen und Gesichter, die ab und zu scharf hervortraten und wieder davonflogen. Manche waren entsetzliche, dämonenhafte Wesen, die zu ihr heranschnellten und wieder davonzuckten, höhnisch schnatternd, andere waren vertrauter, aber nicht weniger bedrohlich: riesige, katzenartige Geschöpfe mit glühenden Augen; winzige, maultierartige Tiere, deren Augen Todesqual verrieten; Phantom-Minotauren, Riesenskorpione, Phantome aus ihrer Vergangenheit.
Inmitten dieses ganzen Getümmels schritt eine kleine, zerbrechlich aussehende Gestalt dahin, mit dem Rücken zu ihr, von all dem Entsetzlichen unberührt. Sie griff nach ihm, versuchte ihn herbeizurufen, aber die Flüssigkeit, in der sie zu schwimmen schien, verhinderte das, obwohl er davon nichts wahrnahm.
Schließlich gelang ihr eine Art Schrei, ein Aufgellen entsetzter Hilflosigkeit. Er mußte sie hören! Er mußte! Er mußte! Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf die dahingehende Gestalt.
Er blieb stehen, schien etwas zu hören, und drehte sich langsam um. Es war das Gesicht von Nathan Brazil, das sie sah, und er starrte nach hinten, wobei er eher gelangweilt als mitfühlend wirkte.
»Brazil! Sie-müssen-mir-helfen!« ächzte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Er lächelte, zog eine Münze heraus und warf sie ihr zu.
»Gern zu Diensten«, erwiderte er leichthin. »Jederzeit. Muß jetzt gehen. Ich bin Gott, wissen Sie. Zuviel zu tun…« Er wandte sich von ihr ab und schritt in den Nebel hinein, ohne ihre qualvollen Schreie zu beachten; dann verschwand er in dem wirbelnden, milchigen Strudel und war nicht mehr zu sehen.
Sie war allein, wieder allein mit der Flüssigkeit und dem Grauen, das an ihr vorbeischwebte, sie verhöhnte, auf sie einhieb. Allein.
»Helft mir!« schrie sie zu, sie wußte nicht, wem. »Hilft mir denn keiner?«
Gestalten tauchten auf, gütig aussehende menschliche Gestalten. Ein gutaussehender Mann im mittleren Jahren und eine unfaßbar schöne Frau. Sie streckten die Arme nach ihr aus, winkten sie zu sich heran, bedeuteten ihr, sie möge zu ihnen laufen, um Schutz zu finden. Sie wollte auf sie zu, aber plötzlich quoll ein mächtiger schwarzer Schatten aus dem Strudel herauf und schob sich zwischen sie und das Paar. Ein riesiger, engelhafter Umriß in weiß-wallendem Gewand, lächelte das Wesen sie an, während es selbst die Arme weit ausstreckte.
Sie zögerte, dann begann sie sich zu nähern, aber die gütige Gestalt erlebte eine grauenhafte Verwandlung, veränderte sich von ihrer menschlichen Vollkommenheit in ein fürchterliches, häßliches Froschwesen, das lallte und sabberte und sich von ihr abwandte, um ihre Eltern in der Ferne zu verschlingen, wobei es gellend lachte.
Sie fühlte, wie sie hinabstürzte, immer tiefer hinab in eine Art Grube; auch diese war erfüllt von der Flüssigkeit, die jetzt der Fäulnis verrottenden Abfalls glich.
Sie wehrte sich noch stärker gegen den giftigen Gestank, streckte die Hände aus, um irgend etwas zu packen, aber da war niemand, überhaupt niemand. Sie versank immer tiefer in Schleim und Dreck, und die grausigen Wesen umschwebten sie immer noch lachend, höhnend, witzelnd und zustoßend.
Ein hart aussehendes, fahlgelbes Gesicht mit fast weißen Haaren erschien am Rand, lächelte sie an und streckte eine Hand hinunter. Aber die Hand verrottete, als Mavra sie berührte, wurde zu einer Skeletthand.
Die Infektion verzehrte schließlich die alte Frau ganz, und als das geschehen war, fühlte sie sich noch tiefer in Schleimschichten versinken. Sie war immer überzeugter davon, daß sie ewig in dieser bodenlosen Grube von Qual und Fäulnis bleiben mußte.
Nun tauchte ein anderes Gesicht auf, ein gütiges Gesicht, ein Gesicht, das für alle Rassen der Alten Erde bezeichnend war, ein gutaussehendes Gesicht, das Hilfe zu bringen versprach. Er streckte die Hand aus und ergriff sie, zog sie herauf aus Schmutz und Schlamm, und einen Augenblick lang glaubte sie frei zu sein. Sie konnte vor sich Luft sehen und Sterne, Millionen funkelnder, flackernder Lichter, überall vor ihr ausgebreitet.
Dann kam ein Geräusch, eine laute Explosion irgendwo in ihrer Nähe, und als sie voller Entsetzen wieder hinsah, schien das Gesicht ihres Retters zu zerspringen, in grotesker Weise zu explodieren, und der Griff löste sich.
»Gimball!« kreischte sie. »Nein! Nein! Mein Mann…«
Aber er war fort und sie war wieder allein, versank wieder im Unrat, nie frei von der strudelnden Flüssigkeit, und es schien, als genossen die schnatternden Wesen das jetzt um so mehr.
Schwarze Umrisse näherten sich, fesselten sie, zerstückelten ihren Körper, machten sie zu einem mißgestalteten, hilflosen Ungeheuer. Noch immer wehrte sie sich, kämpfte gegen die dunklen Kräfte an, die sie tiefer und immer tiefer in den Kot hineinzogen. Ein anderes Wesen, verunstaltet, verstümmelt wie sie, näherte sich, als die Geschöpfe, die sie umkreisten, herandrängten, um sie zu ersticken. Ein Dämon hob den Speer und stieß ihn auf sie zu, den Blick von Haß erfüllt, aber das andere Wesen warf sich dazwischen, ergriff den Speer und verschwand ebenfalls in der Fäulnis.
Ein violettes Licht brach durch den Unrat, und sie hörte Obies Stimme, die nach ihr rief. Sie erreichte das Licht.
»Ich bin dein Zaubergeist«, erklärte er ihr. »Wo im Universum willst du hingehen?«
»Überallhin!« rief sie, und in blitzschnell vorbeizuckenden Szenen tat sie es. Und doch stimmte dabei etwas auf furchtbare Weise nicht. Jeder Ort, den sie besuchten, wies noch mehr von der fauligen Scheußlichkeit auf, der sie sich entronnen geglaubt hatte. An jedem Ort wurde es immer mehr stinkender, faulender Abfall.
Das violette Licht verglomm, und wieder stand Nathan Brazil vor ihr. Er zog die Schultern bedauernd hoch und lächelte sie schief an.
»Na, was haben Sie erwartet?« fragte er. »Schließlich habe ich das alles nach meinem Bild geschaffen.«
Und da waren nur noch die wirbelnde, verschlingende Flüssigkeit und der Gestank und die Fäulnis, die Empfindungen von Eiseskälte und sengender Hitze, der Schmerz, und nichts sonst. Nichts. Nichts.
Allein. Sie war allein. Für immer allein im Schlamm… Sie haßte den Schlamm, haßte den Gestank, und vor allem haßte sie ein von Leben wimmelndes Universum, in dem sie so völlig, so absolut allein sein konnte. Wenn das Universum so eingerichtet war, dann war es besser, wenn es vernichtet wurde, dachte sie wild. Weg mit dem Schmutz, hinaus mit dem Abfall, rein und sauber, säubern… Aber so leer jetzt, so allein, so völlig allein…
Doch auf irgendeine Weise war sie nicht allein, nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick. Sie hatte den Eindruck, daß jemand sie umarmte, Wärme und Fürsorge übertrug, ihr erklärte, alles sei gut, es sei jemand bei ihr. Sie mühte sich mit aller Kraft, die Augen zu öffnen, um zu sehen, wer oder was das sein mochte, und das gelang ihr schließlich auch, aber die Welt wollte keine scharfen Umrisse annehmen. Eine Gestalt, nur eine Gestalt, nicht mehr, nicht weniger. Eine Gestalt, die sich sorgenvoll und fürsorglich herabbeugte. Ein wettergegerbtes, hartes, gutaussehendes Gesicht, dessen Augen uralte Weisheit und Güte verrieten, die er zu verbergen versuchte, was ihm aber nicht gelang.
Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde, unendlich verbraucht, und sie sank zurück, nicht ins Koma, nicht in den Schlamm, sondern in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Sie erwachte, schaute sich dumpf um und versuchte sich zu bewegen. Sie lag in einer Art Gurtzeug und konnte sich davon nicht ganz befreien.
Im Kamin knisterte ein Feuer. Zwei von der Gruppe befanden sich wie sie in Schlafställen, gestützt durch kompliziertes, aber offenkundig provisorisch angebrachtes Gurtzeug aus Gürteln, elastischen Bändern, Pelzstreifen, allem gerade Verfügbarem.
Zwei andere Zentauren gingen herum. Einer legte im Kamin nach und blickte in einen Topf, der andere stand an einem kleinen Tisch und überflog irgendwelche Papiere. Auch die beiden schienen körperlich nicht in der besten Verfassung zu sein; der am Feuer, übersät mit Verbänden und tiefen Narben, schonte sein rechtes Vorderbein, der andere am Tisch war Colonel Asam, dessen humanoider Rumpf mit angeschwollenen Striemen übersät war. Auch er trug an verschiedenen Stellen seines Körpers glatte Verbände.
»Asam?« rief sie und nahm selbst wahr, wie schwach ihre Stimme klang. »Asam, was ist geschehen?«
Die beiden Männer drehten sich um, und der Colonel kam rasch auf sie zu, ein Lächeln im Gesicht. Eines seiner Augen war fast völlig zugeschwollen, sein Gesicht war so zerschlagen und verquollen, daß sie erschrak, aber er lächelte, griff in einen Beutel und zog eine Zigarre heraus.
»Na! Willkommen im Land der beinah Lebenden«, witzelte er. Sie lächelte ebenfalls.
»Was — wer waren diese Wesen?«
»Tilki. Sehr weit von ihrer Heimat entfernt. Abscheuliche Dinger. Wenn das nicht ein nicht-technologisches Hex gewesen wäre, hätten sie uns erledigt. Mit Nahkampf-Waffen sind diese Kerle aus einem Hochtech-Hex aber meistens miserabel.«
»Banditen?« meinte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Sie trugen Uniformen. Militär. Ein hübsch organisierter Hinterhalt.«
»Also… gedungene Mörder?« fragte sie und dachte an Asams Bericht über die Blutrache.
»Ja, aber nicht nach mir ausgeschickt«, sagte er. »Wir haben sie alle erwischt — das glaube ich jedenfalls. Es sei denn, sie hätten noch welche in Reserve gehabt, die das Weite suchten, als wir die Oberhand gewannen. Das bezweifle ich aber. Noch einer oder zwei mehr, und wir wären unterlegen.«
»Nicht nach Ihnen? Aber —«
»Ich habe einen Übersetzer-Kristall, wenn Sie sich erinnern«, erwiderte er. »Ich habe ihr Geschnatter verstanden. Für mich gibt es keinen Zweifel daran, daß sie es auf Sie abgesehen hatten. Ich habe Ihren Namen ein paarmal gehört. Sie hätten Sie auch erwischt, wenn wir weniger Leute gewesen oder sie nicht durch die erste Jagdgesellschaft gestört worden wären. Sie haben sich die Stelle gut ausgesucht — das ist das logische erste Nachtlager, und im Flug konnten sie es erreichen, ohne die hohen Gipfel überqueren zu müssen. Der Haken war nur, als sie hier ankamen, waren die Jäger schon da. Sie wußten, daß Sie nicht dabei waren. Ich glaube nicht, daß sie eine genaue Vorstellung von Ihrem Aussehen hatten, aber die anderen waren alle Männer, und sie wußten, daß Sie eine Frau sind. Nur eine Vermutung, wohlgemerkt — es sind keine Zeugen mehr vorhanden. Ich würde meinen, sie lockten die Jäger heraus, die keinen Grund hatten sich zu fürchten, und höchst neugierig waren, weil sie ausgerechnet hier auf Tilki stießen. Ich nehme an, die Halunken überfielen sie so blitzschnell, daß sie gar nicht wußten, wie ihnen geschah.«
Sie überlegte.
»Militär, sagten Sie. Warum ich?«
Er grinste.
»Sie haben mir allerhand darüber erzählt, was derzeit im Gange ist. Für mein Gefühl hat der Zone-Rat beschlossen, Krieg zu führen, in den Unterlagen nachgesehen, wer die führenden Leute auf der anderen Seite sind, und beschlossen, Brazils wichtigste Gehilfen aus dem Weg zu räumen, bevor es losgeht. Sie könnten auch nervös sein, was Gedemondas angeht. Eine unbekannte Größe, Sie verstehen. Wenn man nicht an sie herankann, nehmen sie am Kampf nicht teil.«
Sie nickte und schaute sich um.
»Die anderen…?«
Seine Miene nahm einen grimmigen Zug an.
»Das sind wir. Die Überlebenden. Malk und Forn dort brauchen bessere medizinische Behandlung, als wir ihnen geben können. In gewisser Beziehung war es ein Glück für uns, daß sie uns hier überfallen haben und nicht noch knapp innerhalb von Dilla — es besteht viel weniger Infektionsgefahr. Wir bekämpfen nur die Erreger, die wir mitgebracht haben.«
»Wie wollen Sie sie jemals in ein Krankenhaus schaffen?« fragte sie voll Mitgefühl.
»Gestern kam eine Jagdgesellschaft durch. Sie bringen die Nachricht zum See und holen Hilfe. Ich glaube, sie halten es hier noch ein, zwei Tage aus, bis jemand kommt. Wir sind eigentlich noch nicht im ganz schweren Gelände, so daß sie es fertigbringen müßten, sie ohne große Mühe hinunterzuschaffen.«
»Verstehe. Tja, ich — sagen Sie, gestern wären Jäger vorbeigekommen?«
Er lächelte und nickte.
»Sie sind drei Tage ohne Bewußtsein gewesen. Wir dachten schon, Sie bleiben uns weg. Die meisten Ihrer Wunden sind nicht so schlimm, nichts Gefährliches. Es war die Gehirnprellung, die Ihnen beinahe den Rest gegeben hätte. Der Dreckskerl hatte einen Totschläger.«
»Einen… was?«
»Totschläger. Bleischrot, mit Leder umwickelt. Damit kann man einem den Schädel einschlagen. Glaube aber nicht, daß etwas gebrochen ist — doch Sie haben eine Riesenbeule. Sie waren im Schockzustand.«
»Warum… warum bin ich so eingeschnürt?«
»Wir binden Sie los, wenn Sie sich kräftig genug fühlen.«
Er griff hin und löste einige Knoten. »Wie manche von den großen Tieren der Welt, die unsere entfernten Verwandten sind, atmen wir aus dem Unterbauch. Wenn Sie länger als zwei, drei Stunden auf der Seite liegen, drückt Ihr Gewicht auf die Lunge und erstickt Sie. Wir mußten Sie hochhieven und auf den Beinen halten — was nicht einfach war, kann ich Ihnen sagen. Wir beide sind auch nicht in der allerbesten Verfassung, aber es geht uns doch viel besser.«
»Ich… ich habe gesehen, wie Sie von einem Speer getroffen worden sind«, sagte sie.
Er lachte leise.
»Ach, es braucht schon mehr, bis es aus ist mit mir. Er hat nichts Wichtiges getroffen, und es tut nur weh, wenn ich lache. Wir hatten das Glück, daß sie von ihrem Heimathex so rasch hierherkamen und keine Gelegenheit hatten, sich alles genau anzusehen. Alle ihre Spitzen waren bestrichen mit einem für sie offenbar grauenhaften Gift. Gerbsäure. Vielleicht sollten wir, wenn wir den Kerlen das nächstemal begegnen, eine Kanne Tee über sie ausschütten.«
Sie lachte, wobei sie sämtliche Wunden und Prellungen und blauen Flecke spürte, die sie sich eingesammelt hatte. Es waren sehr viele, weit verstreut, aber sie hatte schon ebenso Schlimmes und noch Schlimmeres erlebt, ohne daß es sie lange gestört hätte. Unbehaglich, ja, aber kaum mehr.
Von den Gurten befreit, stand sie frei auf den Beinen und versuchte den Stall zu verlassen. Auf der Stelle fühlte sie sich schwindlig, begann zu schwanken und mußte sich festhalten.
»Bin wohl noch ein bißchen schwach«, murmelte sie vor sich hin.
»Nur langsam«, warnte er. »Das war ein schwerer Schlag auf den Kopf. Gewöhnen Sie sich langsam an das normale Leben.«
Sie versuchte es noch einmal, diesmal vorsichtig, und stellte fest, daß es ging, solange sie sich irgendwo festhielt. Er trat zu ihr, damit sie sich an ihn lehnen konnte, und gemeinsam gingen sie in den Aufenthaltsraum hinaus.
»Haben Sie das Gefühl, etwas essen zu können?« fragte er. »Sie sollten es tun.«
Sie betrachtete die Ballen von strohähnlichem Zeug an der Rückwand. Sie wollte eigentlich nichts essen, entschied aber, daß er es wissen mußte.
Das Zeug schmeckte gräßlich, aber als sie einmal angefangen hatte, stellte sie fest, daß sie nicht aufhören konnte. Asam lachte in sich hinein und drängte sie, weiter zu essen.
»Sie ahnen ja gar nicht, wieviel Nahrung wir Dillianer am Tag brauchen. Bei regelmäßigem Essen, wie das für uns üblich ist, versteht sich. Wenn man sich nach ein paar Tagen Pause darauf stürzt, kann das recht schweinisch aussehen.«
Schweinisch war gar kein Ausdruck, dachte sie, als sie fertig war. Sie verschlang fast einen ganzen Ballen, wenn auch in kleinen Portionen, und jeder Ballen wog an die zwanzig Kilogramm.
Später fühlte sie sich wohler und fand schließlich einen kleinen Spiegel. Beide Augen sahen aus wie blaugeschlagen, und sie schien sich die Zunge halb abgebissen zu haben, aber abgesehen davon schien sich der Schaden in Grenzen zu halten. Die Wunden am Pferdekörper oben und seitlich waren schmerzhaft, und sie hatte auch innere Prellungen davongetragen, doch nichts schien ernsthaft verletzt zu sein. Sie hatte das Gefühl, damit leben zu können.
Auch Asam war so hart im Nehmen, wie sein Ruf es behauptete. Nachdem sie ihn in Aktion gesehen hatte, gedachte sie an seinen Geschichten und Legenden nicht mehr zu zweifeln, und sprach das auch aus.
Er grinste.
»Sie haben sich selbst recht gut gehalten, wissen Sie. Ich kenne nicht sehr viele Leute, ob Männer oder Frauen, die das könnten.« Er sah sie an, und das Grinsen wurde schwächer, ohne ganz zu verschwinden. »Wissen Sie, Sie haben mich einmal gefragt, auf welcher Seite ich stehe. Nach diesem Vorfall brauchen Sie das nicht mehr zu fragen. Verstehen Sie? Und das gilt nicht nur für mich. Diese Narren haben Ihnen die halbe Arbeit abgenommen. Sie haben kaltblütig unschuldige Dillianer umgebracht, Dillianer ohne politische Neigung, ohne einseitige Haltung, ganz gewöhnliche Leute. Ich kenne mein Volk, Mavra. Man wird die Rechnung begleichen wollen.« Er machte eine Pause und grinste wieder breit. »Und was mich angeht, so habe ich Sie in verschiedenen Situationen beobachten und kennenlernen können. Ich wäre stolz darauf, jederzeit bei Ihnen mitzutun.«
Sie lächelte, griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie hätte den alten Abenteurer am liebsten umarmt, aber dafür waren sie beide zu zerschlagen. Immerhin dachte sie wieder an den Traum, diesen Bastard ihres Innersten, geweckt von dem Totschläger. Sie wünschte sich, ihrer Seite und Sache ebenso sicher zu sein, wie er es jetzt zu sein schien.
»Und was tun wir jetzt?« fragte er. »Ich würde nicht mehr lange hierbleiben, wenn Sie glauben, daß Sie weiterziehen können. Es besteht immer die Gefahr, daß sie irgend jemanden als Beobachter eingesetzt hatten, oder Gehilfen in Dillia könnten die Nachricht weitergeben. So oder so werden sie es hier erneut versuchen, sobald sie wieder eine Truppe aufzustellen vermögen. Der Gedanke beschäftigt mich schon seit zwei Tagen auf unliebsame Weise. Wie fühlen Sie sich?«
»Miserabel«, erwiderte sie düster. »Aber welche Möglichkeiten gibt es sonst?« Sie sah sich in der Hütte um, die zu einem Lazarett geworden war.
»Wir können auf den Rettungstrupp warten. Die Leute sollten innerhalb der nächsten Stunden hier sein, wenn alles gutgeht. Vergessen Sie nicht, sie können niemanden schicken, wenn sie den See nicht ohne den einen guten Heilkundigen lassen wollen. Vermutlich ist mit dem heutigen Boot oder einem Sonderschiff eine gute, kräftige Mannschaft eingetroffen, und sie sind schon auf dem Weg. Sie brauchen ohnehin Gerätschaften, was sie behindert.«
Zurück. Sie wollte am liebsten zurück, zurück in das friedliche Dorf mit seinem Bier, der freundlichen Gesellschaft und den sanften Wasserfällen.
»Wenn jemand über uns herfallen will, wäre das der richtige Zeitpunkt«, erklärte sie. »Und inzwischen wird jeder Beobachter eine recht gute Beschreibung von mir haben.«
»Die einzige andere Möglichkeit für uns ist die, weiterzugehen«, betonte er. »Und keiner von uns ist so bei Kräften, daß er volles Gepäck tragen oder einen Geschwindmarsch aushalten könnte. In ein paar Tagen, ja, aber nicht jetzt. Sie sind immer noch wacklig auf den Beinen, und von hier an wird der Steig sehr schwierig.«
Sie trat an den Tisch, an dem Asam gestanden hatte, als sie zu sich gekommen war. Dort lag eine Karte von Gedemondas ausgebreitet, eine topographische Karte mit Pfaden, Schutzhütten und Biwakunterkünften. Es war leicht zu finden, wo sie sich jetzt befanden, die erste Hütte über der Schneegrenze. Sie studierte die Karte, und er kam heran und blickte über ihre Schulter.
»Wonach suchen Sie?« fragte er.
»Nach einem eingestürzten Vulkan«, antwortete sie. »Ein riesengroßer Krater, hoch oben, umgeben von hohen Gipfeln.«
»Ein Großteil von Gedemondas ist vulkanisch«, stellte er fest. »Viele sind auch noch aktiv. Nicht sehr gefährlich, die meisten. Im Notfall könnte man vor einem Lavastrom davonlaufen. Von den großen paffen aber einige ziemlich stark.«
Sie nickte.
»Die Gedemondaner leben in Vulkanhöhlen und benützen miteinander verbundene Lavaröhren, um unter der Oberfläche voranzukommen. Das Netz ist von enormer Größe. Sie verwenden Vulkandampf auch für Hitze- und einfache Energieerzeugung — obwohl das ein nicht-technologisches Hex ist, haben sie statt maschinenerzeugter natürliche Dampfexplosion. Da ist es auch behaglich warm.«
Er zog erstaunt die Brauen hoch.
»Dampfkraft? Und wofür benützen sie die?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sie offen. »Wir haben Geräusche gehört, die von der Drehung von Zahnrädern und Hebeln einer riesigen Maschine stammen konnten, und kamen auf den Gedanken, daß da vieles vorging, wovon wir nie etwas erfuhren. Wir haben aber nur gesehen, was man uns zeigte — und ich war in einer schlechteren Lage als die meisten, um genau aufzupassen. Ich glaube jedoch, daß alle Eingänge sich weiter im Inneren befinden, im Hochland.«
»Vielleicht an manchen der alten und wenig benutzten Steige?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Nein. Es spielte keine Rolle, wo — es kann ruhig auch bequemer sein. Wir müssen nur höher hinauf…« Ihre Stimme verklang, als sie die Karte genauer betrachtete und ihr Blick sich auf einen Kreis konzentrischer Ringe, ähnlich Jahresringen an einem Baum, richtete; in der Mitte war eine freie Stelle. »In dieser Richtung«, sagte sie zu ihm und zeigte darauf. »Ich weiß, daß von ihrem Hauptkomplex aus Öffnungen in diesen Krater führen.«
Er sah sich die Stelle an.
»Oder vor Jahrhunderten führten«, sagte er halblaut mit sorgenvoller Stimme.
»Wir gehen hin. Stufenweise, ohne uns anzustrengen. Einverstanden?«
Er grinste.
»Das wissen Sie. Aber ob es uns gefällt, ich finde, wir sollten erst morgen früh losziehen, nicht gleich jetzt. Wir brauchen die zusätzliche Ruhepause, damit alles ein bißchen hält« - sie wußte, daß er sie meinte —, »und sollten uns vergewissern, daß diese Leute zurückgebracht werden. Warten wir wenigstens auf den Rettungstrupp.«
Sie wollte das eigentlich nicht, aber ihr Kopf hämmerte, und sie fühlte sich sehr schwach und müde.
»Also gut, Asam. Morgen früh.«
Obwohl der Pfad gut markiert war, kamen sie beide nur mit Mühe voran. Der Wind schnitt in ihr Fleisch, und selbst die kleineren Traglasten schienen auf jede Wunde und Prellung zu drücken. Asam verzog ab und zu das Gesicht, beklagte sich aber nie, sowenig wie sie selbst. Trotzdem beherrschten düstere Gedanken ihren Aufstieg, vor allem ihre inneren Zweifel an dem, was sie tat. Stand sie wirklich auf der richtigen Seite? Nicht, daß sie auf der Seite des Schachtes stehen sollte, aber warum überhaupt auf irgendeiner?
Sie kannte darauf die Antwort natürlich. Brazil hatte sich geweigert, den Schacht zu reparieren, wenn sie nicht dabei war, wenn sie es nicht ausdrücklich anordnete. Sie fragte sich, wer den Auftrag geben sollte, wenn sie bei diesem irren Kampf ums Leben kommen würde. Vielleicht niemand. Vielleicht würde er einfach in den Schacht gehen, sich im eigentlichen Universum an die Stelle zurückversetzen, wo er gerne sein wollte, und auf die letztendliche Zerstörung warten. Die Verantwortung lag bei ihr, nicht bei ihm. Das hatte er praktisch ausgesprochen.
Sie hatte aber nicht nach dieser Verantwortung verlangt, sagte sie sich, und wollte nichts von ihr wissen. Das war nicht gerecht. Nichts in ihrem ganzen verdammten Leben war jemals gerecht gewesen, aber sie hatte wenigstens darüber zu bestimmen gehabt. Jetzt hatte man ihr sogar das genommen.
Es gab auch Zweifel an ihrer Rolle bei dem Ganzen. Sie sollte sich in ihrem Hex einrichten und auf Anweisungen warten. Das war alles, was man ihr erklärt hatte — das und die Tatsache, daß die Neuzugänge sich später um sie scharen, zu einer vielrassigen Streitmacht werden würden, einer von mehreren, die auf ein Signal hin zu einem bestimmten Ort strömen und sich zu einer ungeheuren Armee vereinigen sollte, vielleicht zu der größten, die man auf der Sechseck-Welt jemals erlebt hatte: eine Armee, aufgefüllt, ernährt und versorgt auf dem Marsch von anderen Hexagons, von anderen Neuzugängen und Diplomaten-Freunden, die, so unterstellte man, mit allem, was gebraucht wurde, jederzeit aufwarten konnten. Das hörte sich verdammt riskant an.
Aber wenn Asam recht hatte, würde Dillia ihr folgen. Im Augenblick würde man ihr folgen — natürlich nicht alle, aber genug für eine beträchtliche Streitmacht. Das war alles, was man von ihr gefordert hatte. Warum war sie in Gedemondas? Auf eine Ahnung hin? Oder lag es am Wunsch ihres Unbewußten, ein unbestimmbares Element ins Spiel zu bringen, damit sie, wie üblich, ihren Einfluß vergrößern konnte?
Eine neue Nacht, eine neue Hütte. Sie fühlten sich besser, schliefen besser, als der Marsch weiterging, und aus der Kameradschaft im Kampf des ersten Tages war echte Übereinstimmung geworden.
Auch das machte ihr Sorgen. Er war Asam, ein großer Mann und guter Freund, gewiß. Aber auch ein Zentaur Dillias, geboren auf der Sechseck-Welt, und aus eben diesem Grund konnte er sie nie verlassen. Sie war nur an der Oberfläche Dillianerin; innerlich war sie immer noch die alte Mavra Tschang, immer noch dieselbe Frau von einer ganz anderen Rasse und, darüber hinaus, einer sehr anderen Zeit und Kultur. Am Ende des Ganzen stand das Unbekannte. Vielleicht kannte Brazil sich aus, aber wo war er?
Und so wies sie Asams Zuneigung ab, freundlich, aber entschieden. Sie sah, daß ihn das schmerzte, und aus diesem Grund tat es ihr auch weh. Doch alles andere war einfach nicht fair, für sie und für ihn nicht.
Am vierten Tag ihrer Wanderschaft waren sie der Erschöpfung nahe. Es war sehr hart gewesen, die Eishänge zu begehen, wo niemals eine Schmelze eintrat, und die Gipfel besaßen nur wenige und schwer zu bewältigende Pässe. Sie wußte, daß sie alle beide nicht mehr lange durchhalten konnten. Sie erreichten die Hütte, ein viel kleineres Gebäude als sonst, weil das ein Übergangspunkt zu anderen Tälern und kein Hauptlager war. Als es dunkel wurde, machten sie es sich bei einem hellodernden Kaminfeuer bequem, und sie waren so müde, daß sie kaum ein Wort miteinander sprachen. Mit der Nacht sank eine Stille herab, die so absolut war, daß sie unnatürlich erschien, unterbrochen nicht einmal von Worten. Es gab nichts als das knackende Feuer und ihre langsamen Atemzüge, als sie eindösten.
Sie schlief unruhig, weil sie einfach zu müde war, und das Knirschen, so, als stapfe ein schweres, großes Tier durch den Schnee, nahm sie nur halb wahr. Hatte es das wirklich gegeben, oder war es ein Traum? Oder vielleicht ein Echo ihrer Hoffnungen? Sie wußte es nicht und war viel zu erschöpft, um sich damit zu befassen.
Die Tür öffnete sich laut knarrend, aber sie regten sich beide nicht. In Gedemondas regte man sich, wenn das erwünscht war.
Der Gedemondaner stand aufrecht wie ein Mensch oder Affe, und mit fast drei Metern Höhe berührte er beinahe die Decke. Sein Gesicht war hundeähnlich, mit einer langen, schmalen Schnauze, vorne schwarz, aber seine Augen glichen in hohem Maß denen eines Menschen oder Dillianers. Sie waren groß und von dunstigem, hellem Blau. Er war bedeckt mit schneeweißem, fast blendendweißem Pelz, sehr wolligem, wie dem eines Schafes, und an beiden Kopfseiten hingen lange Ohrschlappen herab.
Der Gedemondaner schenkte den Schlafenden zunächst wenig Beachtung, ging zu den Traglasten und durchsuchte sie beiläufig. Er stieß auf Asams Zigarren, zog eine heraus und betrachtete sie prüfend, als versuche er dahinterzukommen, was das sei. Er fuhr mit einer schmalen, rosigen Zunge über die Hülle, legte den Kopf auf die Seite, als denke er nach, zuckte dann leicht die Achseln und steckte die Zigarre in eine unsichtbare, beuteltierartige Bauchtasche.
Schließlich schien er zufrieden zu sein, bis er die Karte von Gedemondas bemerkte. Er entrollte sie und betrachtete sie kurze Zeit. Aus seinem Inneren drang ein seltsames, rasch klickerndes Geräusch, das ein leises Lachen sein mochte. Mit seinen sonderbaren biegsamen Händen — drei Finger und Daumen — rollte er die Karte wieder zusammen und legte sie zurück. Im Ruhestand bildeten die Hände fast kreisrunde Polster, die kaum Ähnlichkeit mit Händen besaßen.
Das Wesen drehte sich um und ging nach hinten, wo die Ställe waren. Es betrachtete Asam kurz, der friedlich schlief.
Dann ging es zum nächsten Stall, wo Mavra jetzt in tiefem Schlummer lag, wie betäubt.
Die beiden kleinen Polster griffen zuerst zu ihrem Kopf und schienen ihn zu streicheln. Eine Hand entrollte sich und zog vorsichtig die langen blonden Haare weg, so daß die häßlich aussehende Beule an ihrem Kopf deutlich sichtbar wurde. In der Hoffnung, sie werde sich von selbst entleeren und abheilen, war sie von den Dillianern nicht verbunden worden.
Die Hand formte sich wieder zu einem Polster, und aus der merkwürdig aussehenden behaarten rosigen Handfläche drang eine klebrig aussehende Absonderung. Der Gedemondaner hielt mit seiner anderen Hand die Haare fest und legte das kleine Polster mit der Absonderung wie eine Kompresse auf die Schwellung.
Zum erstenmal schien das Wesen zu bemerken, daß die blauen Flecken eben dies waren und die Verbände andere Wunden bedeckten. Vorsichtig nahm es die Verbände ab und betrachtete die Verletzungen. Es fiel ihm ein wenig schwer, Mavra hinten aufzustellen, und einmal zog er sie sogar vorsichtig aus dem Stall heraus, aber weder sie noch Asam wurden wach.
Ein zweiter Gedemondaner kam herein und betrachtete die beiden Schläfer, dann nickte er dem ersten zu, der sich mit Mavra beschäftigte. Er schien sofort zu spüren, daß die beiden verletzt waren, und machte sich bei Asam ans Werk, dessen Wunden — tiefer und schwerer, als er Mavra oder den anderen gegenüber zugegeben hatte — schmerzhafter waren.
Im Verlauf ihrer geheimnisvollen Behandlung gab der zweite Gedemondaner einen Brummlaut von sich und zeigte auf Asams Kehle. Der erste nickte, zeigte auf Mavra und schüttelte den Kopf. Der Sinn war klar. Asam hatte einen Übersetzer-Kristall; mit ihm konnten sie reden, aber nicht mit Mavra, und es war unverkennbar, daß sie mit Mavra sprechen wollten.
Sie begriffen, daß sie vor einem Problem standen. Sie brauchten einen Sprachenspezialisten, aber den gab es hier nicht. Sie mußten die beiden an einen anderen Ort transportieren, fragten sich jedoch, wie weit die zwei fortgebracht werden konnten. Aber sie befanden sich während der Jagdzeit in einer öffentlich zugänglichen Hütte an einem öfter benützten Steig. Keiner wollte hier warten und Gefahr laufen, entdeckt zu werden.
Sie dachten beide nach. Die Debatte war völlig stumm geführt worden, nicht einmal telepathisch. Sie hatten einfach die Wörter gekannt, auf die es ankam, und mit der einen oder anderen Geste war ein ganzes Gespräch bewältigt worden.
Einer von ihnen traf eine Entscheidung und ging zu Asam, der immer noch schlief, um Laute von sich zu geben, die wie das Jaulen eines kleinen Hundes klangen. Immer noch erfaßt von der Kraft, die beide gebrauchten, also nach wie vor im Hypnoseschlaf, begann Asam zu sprechen.
»Mavra Tschang, höre uns.«
»Ich höre euch«, erwiderte sie wie in Betäubung, die Augen geschlossen, gleichmäßig atmend, und als sie es sagte, wiederholte Asam es.
Der Gedemondaner nickte, offenbar zufrieden. Der andere verstand ihn instinktiv. Es war nicht ideal, aber man mußte mit dem zurechtkommen, was man zur Verfügung hatte.
»Der Schacht ist beschädigt«, sagte der Gedemondaner durch Asam. »Wir wissen es. Wir spürten es, als es geschah. Er ist eine Maschine, aber in vieler Beziehung auch wie ein lebender Organismus. Er ist in höchster Qual. Wir haben euch medizinisch behandelt, und das fiel leicht. Der Schacht braucht diese Hilfe auch, kann sich aber nicht selbst helfen. Das ist uns ebenfalls klar. Wir werden euch helfen, das zu tun, denn unser eigener Blick ist unklar, unsere Gemüter werden davon beeinflußt, weil wir auf den Schacht eingestimmt sind.« Er schwieg kurze Zeit. »Sprich jetzt zu uns.«
»Brazil versucht den Schacht zu reparieren«, erklärte sie. »Die Nationen tun sich zusammen, um ihn aufzuhalten. Es wird Krieg geben. Jede Hilfe ist dringend nötig.«
»Wir verstehen den Plan«, teilte ihr der Gedemondaner mit. »Wir hatten auch unseren Anteil an Neuzugängen, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Sechsecken sind euch diese von geringem Nutzen. Sie gleichen uns äußerlich, gewiß, doch unsere Kräfte entstehen durch Ausbildung, Studium, immense Konzentration schon vor der Geburt, sogar durch Zuchtwahl im Hinblick auf gewisse Dinge. Das ist nichts, was man über Nacht lernen kann, nur im Laufe eines ganzen Lebens. Sprich jetzt.«
»Aber wir brauchen eure Kräfte«, sagte sie. »Wir brauchen sie um jeden Preis.«
»Wir verstehen. Du mußt begreifen, daß wir nur Boten sind. Wir erfuhren von eurer Gegenwart erst, als wir die Heftigkeit des Überfalls auf euch spürten. Wir beiden waren euch am nächsten und beeilten uns, so gut wir konnten. Aber wir sind nicht jene, die ihr braucht, oder jene, die entscheiden. Wir können von euch nur die Tatsachen übernehmen und sie an Weisere weitergeben. Sprich jetzt.«
»Dann müssen wir mit euch dahin gehen, wo jene sind, die helfen können«, betonte sie.
»Das ist nicht möglich«, erwiderte der Gedemondaner. »Es bleibt nicht genug Zeit. Eine Versammlung findet statt. Es ist nötig, daß du teilnimmst. Sprich jetzt.«
»Ich weiß von keiner solchen Versammlung«, gab sie zurück. »Wer hat sie einberufen, und zu welchem Zweck?«
»Deine eigenen Leute, um in größerem Rahmen zu planen. Sie soll an dem Ort namens Zone stattfinden, dort, wo man Räume für uns reserviert hat, die wir nicht brauchen. Sprich jetzt.«
»In der Botschaft von Gedemondas?« murmelte sie und wirkte sogar in ihrem Zustand leichter Hypnose erstaunt. »Dann muß ich zu einem Zone-Tor.«
»Dein Zone-Tor ist weit von hier«, erklärte der Gedemondaner. »Du mußt so schnell dorthin, wie du kannst. Nach der Versammlung könnten wir bereit sein, uns mit dir erneut in Verbindung zu setzen. Sprich jetzt.«
»Euer eigenes Zone-Tor wäre näher«, meinte sie. »Wir sollten dorthin gebracht werden.«
Das Wesen starrte sie einen Augenblick lang an, als sei es fassungslos. Es war zu sehen, daß das mächtige weiße Geschöpf auf diesen Gedanken nicht gekommen war; in der Erinnerung aller war ihr Zone-Tor nie benützt worden, so daß sie es in ihre Gedanken nicht mit aufnahmen.
»Du könntest unser Tor benützen?« fragte der Gedemondaner. Selbst durch den leichten Nebel, in den sie versetzt worden war, spürte Mavra die Verblüffung des Wesens und empfand ein wenig Befriedigung. Tief in ihrem Inneren, wenn auch in ihrem Unbewußten verborgen und nicht mühelos verfügbar, würde die neue Erkenntnis Platz finden, daß die Gedemondaner weder allwissend noch allmächtig waren.
Der erste Gedemondaner stapfte zu Asams Traglast, zog erneut die Karte heraus, entrollte sie und betrachtete sie genau, dann nickte er seinem Begleiter zu. Sie hatte recht. Ihr Zugang war viel näher, vor allem durch die Tunnels von Gedemondas, in denen sich nur die Einheimischen auskannten.
Die Entscheidung wurde an Ort und Stelle getroffen. Man versetzte die beiden in noch tieferen Schlaf und rief sie hinaus. Man half ihnen in ihre dicke Schutzkleidung, aber die Traglasten blieben unbeachtet. Dann gingen die beiden Gedemondaner langsam und bedächtig zur Tür hinaus, und die beiden verzauberten Fremdwesen folgten ihnen gehorsam.
Stunden waren vergangen, als sie tiefer nach Gedemondas eindrangen. Dann hatte sich eine Felswand geteilt, und sie hatten die warmen Tunnels des fremdartigen, unerforschten Hexagons betreten und gingen nun durch das unendliche Labyrinth, Stunde um Stunde, ohne Pause oder Klage. Die beiden waren stärker gefesselt, als hätte man sie verschnürt und Schußwaffen an ihre Köpfe gehalten. Sie wußten von dem Marsch überhaupt nichts, nichts von dem Zug durch viele belebte Gänge und Zentren gedemondanischer Tätigkeit. Mehr als einmal wechselten ihre Hüter, aber sie gingen weiter.
Endlich erreichten sie einen alten, staubigen Flur, der offenkundig seit langer Zeit nicht mehr betreten worden war. Von einem Haupttunnel abzweigend, führte er bald zu einer glattwandigen Kammer. Allem Anschein nach waren der einzelne Gedemondaner und die beiden Zentauren in der bekannten Geschichte die ersten, die sich dort aufhielten. Am anderen Ende des Gewölbes gab es eine sechseckige Form von tiefstem, undurchdringlichstem Schwarz. Sie wirkte dort unnatürlich, wollte nicht zur Wirklichkeit der Felswände und des Steinbodens passen.
Mavra Tschang erwachte und lächelte, als sie den Gedemondaner vor und den aufragenden schwarzen Schatten hinter sich sah. Sie wußte nicht, wie sie hierhergekommen waren, nichts von dem vorangegangenen Gespräch, aber sie wußte, daß sie durchgedrungen waren. Noch interessanter war, daß sie keine Schmerzen mehr spürte. Sie konnte kiar denken und war gleichzeitig rasend hungrig. Sie warf einen Blick auf Asam und begriff sofort, daß er von einer Art künstlichem Schlaf erfaßt war.
»Ich entschuldige mich dafür, daß keine Nahrung geliefert werden kann«, sagte der Gedemondaner mit klarer, angenehmer Stimme. »Ich fürchte, das ist alles sozusagen im letzten Augenblick arrangiert worden.«
Sie begriff zusammenzuckend, daß er keinen Übersetzer trug und auf irgendeine Weise eine normale Stimme aus einer Kehle hervorbrachte, die diese Laute eigentlich gar nicht zu bilden vermochte. Sie fragte sich, wie er das machte. Noch erstaunlicher war, daß er nicht dillianisch sprach, sondern die viel verfeinertere und komplexe Kom-Sprache.
»Ja, es ist Kom-Sprache«, räumte er ein und schien ihre Gedanken zu lesen. »Wir bekommen von dorther aus Gründen, die uns beiden klar sind, zur Zeit viele Neuzugänge, und eine Zahl von uns hat es unternommen, die Sprache zu studieren. Ich hoffe, du verstehst mich.«
»Ja, vollkommen«, erwiderte sie, wobei sie bemerkte, daß sie dillianisch sprach. Sie versuchte sich auf ihre alte Sprache zu konzentrieren.
»Laß nur«, erklärte der Gedemondaner. »Das ist zu anstrengend. Du sprichst dillianisch, ich Kom-Sprache, und wenn es irgendwelche Begriffe gibt, die deine alte Sprache besser widergeben kann, werde ich dich verstehen.« Er schaute sich um. »Die Unsauberkeit bitte ich auch zu entschuldigen, aber wir benützten das hier nicht sehr oft. Doch wir werden wohl saubermachen müssen. Eure Neuzugänge nützen uns nichts, aber sie und einige Freiwillige von uns werden notwendig sein, wenn wir unsere Art im Universum wieder einsetzen wollen.« Er machte eine Pause und wirkte beinahe sehnsüchtig. »Da sind wir jetzt nicht, weißt du. Beim letzten Versuch sind wir ausgestorben.«
Sie nickte.
»Das ist ein Grund, warum ich an euch gedacht habe.«
»Wir sind uns ganz im klaren darüber, was du gedacht hast. Vielleicht besser als du selbst. Und wir werden gewiß behilflich sein. Wir hätten das auf jeden Fall getan, selbst wenn du nicht gekommen wärst — aber dieser unprovozierte Angriff innerhalb unserer Grenzen ist unerträglich. So etwas wird nicht wieder vorkommen.«
Sie sah Asam an, stellte fest, daß seine Verbände abgenommen waren und von Verletzungen kaum noch etwas zu sehen war.
»Danke für eure medizinische Hilfe«, sagte sie mit Nachdruck und warf einen Blick auf Asam. »Er hat sein ganzes Leben davon geträumt, euch kennenzulernen und einmal mit euch zu reden. Es ist schade, daß ihr euch nicht überwinden könnt, ihn wenigstens für kurze Zeit aufzuwecken.«
Der Gedemondaner zog die Schultern hoch.
»Eigentlich gegen die Regeln. Ein Gehirn zu löschen, ist viel schwerer, und es dient demselben Zweck. Ihr müßt ohnehin so rasch wie möglich zu Zone — deine Leute treffen sich dort in Kürze und benützen unsere leerstehende Botschaft. Wir haben unsere Analyse deiner Informationen noch nicht abgeschlossen, sowenig wie die der unsrigen, um zu entscheiden, in welcher Beziehung wir euch helfen können. Es ist dir klar, daß wir zwar große Kräfte besitzen, in Wirklichkeit aber sehr verwundbar sind, Nachtwesen und kaum zu übersehen. Diese Dinge müssen erwogen werden. Im Gebirge sind wir unverwundbar, aber draußen in der Welt bezweifle ich ernsthaft, ob ein Gedemondaner die Art von Kampf führen könnte, an die ihr denkt. Wir werden entscheiden und uns bald melden, wo du auch sein magst. Das einzige, was ich versprechen kann, ist, daß wir tun werden, was wir können, um euch zu unterstützen.«
»Das ist alles, was ich wollte«, erwiderte sie ernsthaft.
»Und ich danke euch dafür.«
Der Gedemondaner stand einen Augenblick da und betrachtete sie mit verwunderter Miene.
»Du bist behindert. Du hast Schmerzen«, sagte er besorgt.
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Nein. Ich fühle mich gut. Die Zukunft erfüllt mich mit Nervosität, aber mehr ist es nicht.«
Der Gedemondaner zeigte auf den schlafenden Asam.
»Er liebt dich, das weißt du.«
Sie seufzte.
»Ich habe es mir gedacht.«
»Und trotzdem weist du ihn ab. Warum?«
Sie rätselte auch, aber die plötzliche Hinwendung des Gedemondaners zum Persönlichen gefiel ihr nicht. Das ging dieses Wesen nichts an.
»Du fühlst dich von ihm ebenso angezogen«, sagte der Gedemondaner. »Ich spüre das.«
»Es ist… es ist ein bißchen zu kompliziert, als daß man jetzt darauf eingehen könnte«, gab sie zurück, bemüht, ihn vom Thema abzubringen.
»Du irrst dich«, erklärte das Wesen. »Du betrachtest ihn wie ein fremdes Wesen, aber das ist er nicht. Er ist von deiner eigenen Art.«
»Er ist Dillianer«, stellte sie gereizt fest.
»Du bist auch Dillianerin«, erwiderte der Gedemondaner. »Gleichgültig, was du früher einmal gewesen sein magst, jetzt bist du eine Dillianerin. Wenn du auf dieser Welt stirbst, dann als solche. Wenn du auf dieser Welt lebst, dann auch als solche. Das kannst du nicht ändern. Selbst wenn du bei der Neuschöpfung durch den Schacht der Seelen gehen solltest, würdest du bleiben, was du bist. Du bist es für immer.« Er streckte die kleinen Hände aus, ergiff ihren Kopf damit und hielt ihn kurze Zeit sanft fest. »Ah«, sagte er. »Angst. Unsicherheit. Wieder irrst du dich. Wenn du morgen sterben solltest, bleibt immer noch der heutige Tag. Wenn er oder du, einer von euch irgendwann sterben sollte, würde das die Zeit, die ihr miteinander verbracht habt, nicht aufheben. Du betrauerst noch immer den Tod deines Mannes, der schon tausend Jahre tot ist. Warum?«
Sie fühlte sich festgehalten, gezwungen, in die Augen des Gedemondaners zu blicken, gezwungen, zu antworten.
»Ich habe ihn sehr geliebt.«
Er nickte.
»Und hast du ihn geliebt, weil er gestorben ist?«
»Natürlich nicht!« Sie wünschte sich, daß das alles vorbei sein möge.
»Siehst du. Du betrauerst ihn wegen des schönen Lebens, das du mit ihm zusammen geführt hast. Nur das Leben hat Sinn, nicht der Tod, närrisches Kind. Komm, ich will dir an Hilfe geben, was ich kann.«
Ihre Gedanken waren plötzlich wie in Nebel gehüllt. Sie fühlte etwas, eine Energie, etwas Fremdartiges und doch Warmes, Gütiges, durchaus nichts Bedrohliches. Es war keine Hypnose oder Gedankenkontrolle, nur eine Art Verstärkung dessen, was der Gedemondaner gesagt hatte.
Das riesige weiße Wesen ging zu einer Wand neben dem Tor und begann Staub abzureiben, so viel, daß sein Arm grau wurde. Zu ihrer Überraschung war es eine polierte Fläche, wie aus Glas und offenbar doch natürlicher Art.
»Massiver Obsidian«, erklärte er. »In den frühesten Tagen diese Hexagons geglättet und poliert. Da, schau hinein und sag mir, was du siehst.«
Neugierig und ein wenig belustigt durch das, was sie als Rabatt-Psychologie empfand, trat sie hin und schaute hinein. Sie sah sich selbst widergespiegelt.
»Ich unterdrücke bestimmte Nervenschaltungen in deinem Gehirn«, teilte er ihr mit. »Es hat nichts mit Denken oder Urteil zu tun, sondern dämpft, sagen wir, die äußeren Dinge, die unser Denken stets beeinflussen. Es ist etwas Kleines, aber nützlich. Ich bezweifle, ob wir hier miteinander auskämen, wenn wir nicht die Fähigkeit hätten, das selbst zu tun, wenn es notwendig wird. Wir können es dir ganz leicht beibringen, weil es sich nur um bewußte Steuerung von Dingen handelt, die das Gehirn ohnehin leistet, aber in vielen Fällen mit weniger Erfolg.«
In den Schattenwinkeln ihres Denkens gab es keine Alpträume, keine lauernden Monster mehr. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich freier und klarer als je zuvor. Es schien seltsam zu sein, daß im Gehirn etwas zu dämpfen dazu führte, daß es frischer, auf eine bestimmte Weise reiner wurde.
Sie blickte wieder auf ihr Spiegelbild und dachte, beinahe verwundert: Das bin ich. Gesicht, Brust, lange, fließende, blonde Haare, bis hinab zu dem goldenen Pferdeleib, der perfekt geformt, dem übrigen genau angepaßt zu sein schien, dazugehörig, ein Teil des Ganzen. Sie hatte aus irgendeinem Grund sich Zentauren, ob Rhone oder Dillianer, stets als Menschen mit hinten angeklebtem Pferd vorgestellt. Jetzt sah sie, daß das gar nicht zutraf; sie war jetzt ein eindeutiges, logisches Wesen, eines, das in vieler Beziehung der Form, mit der sie geboren war, weit überlegen zu sein schien. Und der Gedemondaner hatte recht gehabt, wie sie begriff. Die Person, an die sie sich erinnerte, war nicht wirklich sie, nicht mehr. Es war nie wirklich sie gewesen. Ihre äußerliche Form und Erscheinung, vor so langer Zeit so bewußt zusammengestellt, war nicht authentischer gewesen als ihre jetzige.
Und was war Form eigentlich? Doch nur etwas, das die Dinge erschwerte oder erleichterte, je nach Standpunkt. Im Inneren, wo es zählte, hinter den Augen jener, für die sie etwas empfunden hatte, da lag Wahrheit. Ihr ganzes Leben lang hatte sie, das begriff sie jetzt, während sie die wohlgeformte Gestalt im Obsidian betrachtete, für die Zukunft gelebt oder die Vergangenheit betrauert. Sieben Jahre, sieben kurze Jahre vor so langer Zeit, waren das einzige leuchtende, schimmernde Juwel. Nicht ihrer Leistungen wegen — sie konnte auf vieles verweisen und war stolz darauf —, sondern wegen des Lebens, der wirklichen Freude am Leben.
Sie drehte sich nach dem Gedemondaner um.
»Ja, das möchte ich eines Tages lernen. Ich glaube, ihr habt uns anderen viel beizubringen. Vielleicht wäre das die ideale Rolle für euch.«
Er nickte.
»Es wird bedacht werden.«
Sie schwieg einen Augenblick.
»Ich glaube, wir sind jetzt bereit, zu gehen«, sagte sie schließlich. Sie umarmte ihn, und wenn er hätte lächeln können, hätte er es gewiß getan. Schließlich sagte sie:»Euer Volk scheint so viel klüger, so viel weiter zu sein als jedes andere, das ich kenne. Es sollten mehr lernen können, was ihr wißt.«
Der Gedemondaner hob die Schultern.
»Mag sein. Aber vergiß nicht, daß Gedemondaner und Dillianer gleichzeitig in das Universum hinausgezogen sind. Deine Rasse überlebte, wuchs, baute und dehnte sich aus. Die unsrige starb aus.« Er winkte Asam, der zur Schwärze des Zone-Tors ging und darin verschwand. Sie drehte sich um und folgte ihm.
Der Gedemondaner blieb kurze Zeit stehen, dann ging er hin und betrachtete im Obsidian-Spiegel sein Abbild. Es war eine makellose Oberfläche und eine exakte Wiedergabe, und es beunruhigte ihn sehr, daß darin anscheinend ein kaum merklicher Makel festzustellen war.