Bache

Es war ein unheimlicher Marsch durch Dahir gewesen, ein Land, das zugleich friedlich und von tödlicher Gefährlichkeit zu sein schien. Die stille Landschaft mit sanften grünen Wäldern und großen Bauernhöfen stand im Gegensatz zu den Bewohnern, die unergründlich, schreckenerregend und gefährlich aussahen. Sie hatten dagesessen, auf mächtigen, gehörnten Wesen, nicht wie beiläufige Zuschauer oder neugierige Beobachter von Vorbeimärschen, sondern in streng ausgerichteten Reihen, mit Augen, die nichts davon verrieten, was hinter ihnen vorging.

Sie waren groß und insektenartig, wenngleich keine wirklichen Insekten. Humanoid in der Gestalt, hatten sie lange, breite Füße mit scharfen Krallen. Auf glatten Beinen stehend, die zu einem metallisch aussehenden Rumpf hinaufführten, waren ihre schmalen Hautskelette so glattpoliert, daß die Wesen wie stilisierte Roboter in Idealform aussahen. Sie hatten ovale Köpfe mit vielen Öffnungen und Kaukiefern unter ovalen Augen aus facettiertem Gold, über denen sich lange, schwankende Fühler erhoben. Ihre Körper schillerten in vielen Farben, alle von metallischem Glanz — blau, grün, gold, rot und silbern, unter anderem. Aber ihre Hände sahen wie gepanzerte Fäuste aus. Der brodelnde Zorn und ihre innere Anspannung waren augenblicklich erkennbar. Es paßte ihnen nicht, weggeschickt zu werden.

Ihre Reittiere waren Säugetiere und sahen auf den ersten Blick wie klassische Einhörner aus. Aus der Mitte der pferdeartigen Köpfe ragten gewölbte Hörner wie Schneckengehäuse. Aber ihre Hinterbeine waren viel größer, ihre Hinterfüße breit und flach wie die ihrer Reiter. Sie konnten aufrecht sitzen und wie Känguruhs wirken oder ihre Hinterbeine mit den Doppelgelenken dazu gebrauchen, auf allen vieren umherzuspringen. Bei näherer Betrachtung waren ihre Schnauzen schmaler, ihre Köpfe kleiner als die von Pferden.

Von den angeblichen Zauberkräften war nichts zu bemerken, aber die vorbeimarschierenden Truppen glaubten die Drohung beinahe körperlich zu spüren. Die Soldaten waren froh, fortzukommen. Man hatte beschlossen, sich in einem breiten Flußtal in Bache nach dem Marsch neu zu formieren. So nah am Ziel und vor den gegnerischen Truppen mußte alles vollkommen sein.

Es war später Nachmittag, aber die Kommandozelte standen bereits. Brazil verließ seine kleine Ecke des Feldes und ging zu dem Hauptzelt, in dem Asam und Mavra untergebracht waren; Marquoz verließ sein Zelt, um sich zu ihnen zu gesellen. Es sollte die letzte Stabsbesprechung der Gruppe sein, obwohl nur Brazil, der sie einberufen hatte, das wußte.

Sie saßen wortkarg und sprachen vor allem über die unheimliche Art der Dahir und ihre eigene Müdigkeit. Brazil schien sogar ein wenig heimwehkrank zu sein.

»Wissen Sie«, sagte er, »da draußen unter den Sternen gehen jetzt Billionen Leute ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Sogar auf den Kom-Welten. Eigentlich seltsam, das Ganze. Ich habe mich auf der Sechseck-Welt nie zu Hause gefühlt; das ist zu sehr ein Land der Phantasie, geschieden von der Wirklichkeit, vom ganzen Rest der Schöpfung, abseits und insular.«

»Ich finde das erfrischend«, gab Marquoz zurück. »Mir gefällt die Vielfalt hier. Verschiedene Wesen, verschiedene Gesellschaftssysteme und Lebensweisen. Ein Mikrokosmos, ja, aber in seiner Art einzigartig. Sie scheinen davon auszugehen, daß Absonderung schon für sich etwas Schlechtes ist.«

»Richtig«, sagte Asam. »Dieser kleine Krieg ist schließlich der erste seit tausend Jahren, der dritte in der ganzen Geschichte, und einer von den beiden anderen ist ebenfalls von Außenseitern ausgelöst worden. Es ist doch gar nicht übel hier.«

»Aber Sie sind alle nicht draußen gewesen«, widersprach Brazil. »Sie sind nur auf der Sechseck-Welt gewesen. Sagen Sie, Asam, haben Sie nie zu diesem grandiosen Sternenfeld hinaufgeblickt und sich gewünscht, Sie könnten hinfliegen und sich das alles ansehen? Von Stern zu Stern, von Welt zu Welt fliegen?«

Asam machte ein nachdenkliches Gesicht. Nach einer Weile sagte er:»Na ja, ich war zu sehr Realist, um viel zu träumen, fürchte ich. Ich muß ja von dieser Welt noch das meiste kennenlernen und habe trotzdem schon mehr davon gesehen als jeder andere, den es hier gibt. Was ist da draußen? Viel Leere und viele Welten wie die hier, jede mit einer Rasse darauf. Groß und leer. Wo man hinkommt, wird gekämpft. Nein, ich glaube, ich bleibe lieber hier.«

Brazil sah Mavra an.

»Sie sind hier und dort gewesen«, stellte er fest. »Als Sie das letztemal hier waren, haben Sie fast alles getan, um fortzukommen. Haben Sie es sich anders überlegt?«

Sie dachte nach.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie ehrlich. »Ich weiß es wirklich nicht. Asam hat mir eine andere Art von Leben gezeigt, das hier möglich ist. Und ich habe eine Erscheinungsform, die hier Sinn ergibt, die mich freimacht, so daß ich nicht mehr das verkrüppelte Tier bin, das ich damals war.« Sie schwieg einen Augenblick und wirkte gleichzeitig nachdenklich und traurig. »Aber es spielt ja auch gar keine Rolle, nicht? Ich meine, es wird lange, lange dauern, bis es im Universum wieder Raumfahrt gibt, nicht? Wenn man keinen Spaß daran hat, Stöckchen aneinanderzureihen und in Höhlen zu kauern, wird das hier bald alles sein, was noch da ist.«

Er starrte sie an.

»Vielleicht«, sagte er vorsichtig. »Vielleicht auch nicht. Alles ist relativ, wenn man mit dem Schacht der Seelen zu tun hat. Und was Sie sagen, gilt ohnehin nur für dieses Universum.«

»Es ist das einzige, das wir haben«, gab sie sofort zurück.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Es ist nur ein Universum, nicht das Universum. Die Energie, um das hier in Gang zu bringen, stammte von einem anderen. Es muß eine Ergänzung geben. Die Physik verlangt es. Zum Beispiel besteht in der Mitte jedes Schwarzen Lochs eine Singularität. Was geschieht dort? Kommt sie jemals heraus? Energie und Materie hören nicht auf zu existieren — sie können weder geschaffen noch zerstört werden. Das ist Gesetz. Nur eine Veränderung ist möglich. Das ganze Zeug muß irgendwo sein — es kommt im anderen Universum heraus. In einem Weißen Loch. So muß das gehen. Weil der Schacht nach Zauberei aussieht, dürfen Sie nicht den Fehler begehen, anzunehmen, es sei wirklich Zauberei. Das ist nicht der Fall. Es handelt sich einfach um eine Technologie auf einer höheren Stufe, als Sie sich das jetzt vorstellen können.«

Marquoz starrte ihn an.

»Das hört sich nicht an nach dem Mann, den ich kannte und der in Kneipen auf den Kom-Randwelten für Pfennige Flöte spielte. Das klingt gar nicht nach Ihnen.« Er sah Brazil argwöhnisch an. »Sind Sie wirklich Zigeuner?«

Der andere seufzte, lehnte sich zurück und schien mit sich selbst zu debattieren. Schließlich sagte er so leise, daß man ihn kaum verstehen konnte:»Wenn ich nicht Zigeuner bin, wer oder was bin ich dann?«

Mavra sah ihn plötzlich voller Entsetzen an.

»Sie sind nicht Zigeuner!« stieß sie hervor. »Sie sind wirklich Brazil.« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Die ganzen Gespräche über mich, über Brazil… Wie müssen Sie über mich gelacht haben. Sie Dreckskerl!« Sie fuhr herum und trabte zum Zelt hinaus.

Die anderen schwiegen geraume Zeit, vor allem deshalb, weil sie nicht wußten, was sie sagen sollten. Schließlich brach Marquoz das Schweigen.

»Sie sind Brazil, nicht wahr? Deshalb sind Sie mir so aus dem Weg gegangen.«

Er nickte.

»Ja, warum nicht? Die Katze ist schon aus dem Sack. Was spielt es noch für eine Rolle?«

»Eine sehr große, wenn Mavras Reaktion etwas zu bedeuten hat«, stellte Asam fest.

Er seufzte.

»Mavra hat ein Problem. Sie fühlt sich benachteiligt, verlassen, in einem frühen Alter ausgesetzt, ungeliebt. Diese Sehnsucht nach Liebe zu einem Vater, nehme ich an, hat sich in bitteren Haß gegen mich verwandelt. Warum nicht? Ich kam für sie einer Vaterfigur am nächsten. So, wie sie aufwuchs, ganz allein, bildete diese Bitterkeit eine Schale um sie, die selten aufspringt. Wenn man den Mangel von etwas spürt, dann redet man sich ein, man sei besser dran, es nicht zu haben. Man entwickelt heftigen Stolz auf sein Alleinsein, seine Einsamkeit. Man verwandelt eine Behinderung in einen Vorteil, in den eigenen Augen, versteht sich. Das hat sie getan. Und sie ist jedesmal verletzt worden, wenn sie die Schale hat aufspringen lassen, und sei es nur ein Spalt gewesen.«

»Wenn sie Liebe braucht, die kann ich ihr geben«, erklärte Asam aufrichtig.

»Das könnte nicht genügen«, sagte er warnend. »Sie ist so verletzt worden, als sie sich wirklich an jemanden angeschlossen hatte, daß sie sich vor einer Wiederholung fürchtet. Sie könnte verdrehter geworden sein, als Ihnen lieb ist, Asam. Aber ich lasse sie ihre eigene Wahl treffen. Im Inneren des Schachtes kann ich vieles tun. Wenn sie hierbleiben will, bei Ihnen, kann sie das. Ihre Entscheidung.«

Marquoz bewegte verlegen die Schultern. Er hielt es für besser, auf naheliegendere Themen zu kommen.

»Gut, Brazil. Vielleicht erklären Sie uns, was, zum Teufel, Sie hier anstelle von Zigeuner machen — und was wir hier überhaupt vorhaben. Wie wollen Sie auf diese Weise in den Schacht kommen, verdammt noch mal?«

Brazil zog die Schultern hoch.

»Geben Sie mir nicht an allem die Schuld«, erwiderte er abwehrend. »Vergessen Sie nicht, ich wollte ursprünglich überhaupt nicht herkommen. Es war der verdammte Computer, dem das alles eingefallen ist. Ich bin gegen meinen heftigsten Widerstand aufgespürt und zu Obie geschleift worden. Es war der Computer, der euch alle dazu überredet hat, so vorzugehen, und der Computer, der den ganzen Verlauf festgelegt hat. Ich gebe zu, daß das eine verdammt verrückte Maschine ist — das liegt wohl an Mavras Einfluß. Aber ein Computer ist und bleibt sie, und als alle Fakten eingegeben waren, die man fand, entschied Obie, daß ich den Schacht reparieren müßte, und legte sich auf diesen Plan fest, gegründet auf alle Daten, die eingegeben worden waren.«

»Sie eingeschlossen«, betonte Marquoz.

Er nickte mürrisch.

»Ja, auch das. Hat ihm aber verdammt wenig genützt. Hat ihn vielleicht demoliert — und mich auch. Obie war jedenfalls einmal an den Schacht angeschlossen und weiß, wie er funktioniert — wie er programmiert ist, jedenfalls, was mehr ist, als ich von mir behaupten kann. Er beschloß, die ganze Bevölkerung von Olympus durch die große Parabolantenne zu jagen, damit sie seinen Vorstellungen entsprach, und noch ein paar andere dazu, uns eingeschlossen. Wir sind behandelt worden — auf irgendeine Weise hat Obie beispielsweise Sie und Mavra und Yua so umgebaut, daß Sie, als Sie durch den Schacht gingen, als ganz bestimmte Wesen herauskamen. Ebenso den Rest der ›Nautilus‹-Besatzung, von denen die meisten vorher durchgeschleust wurden, um die Vorbereitungen zu treffen. Wir mußten die Schiffe kaufen, das Gelände erkunden, und was so alles dazugehört. Als Schlüsselfigur des Planes erwies sich Zigeuner, der unter anderem auf irgendeine Weise imstande war, sich zum Abbild jedes beliebigen Wesens zu machen.«

»Wer — oder was — ist Zigeuner?« fragte Marquoz. »Ich dachte, ich hätte ihn auf einer abgelegenen Welt gefunden, auch wenn immer viel Seltsames an ihm war.«

Brazil schüttelte langsam den Kopf.

»Ich weiß, ich weiß. Aber um ganz ehrlich zu sein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich möchte es selber wissen. Ich glaubte, Obie hat es gewußt, aber er verriet es keinem. Wenigstens steht Zigeuner auf unserer Seite und ist eine Schlüsselfigur in dem Plan. Seine Macht, wenn das der richtige Ausdruck dafür ist, besteht in der Fähigkeit, die Kräfte des Schachtes durch reine Willenskraft zu nutzen. Soviel habe ich inzwischen erkannt. Wie ein kleiner Obie kann er alles anzapfen, aber nur im Hinblick auf sich selbst. Er kann nicht Sie oder mich an andere Orte versetzen oder unser Aussehen verändern.«

»Wie ein kleiner Markovier, meinen Sie«, warf Asam ein. »Hört sich für mich so an, als sei er genau das, was sie meinten.«

Brazil dachte darüber nach.

»In gewisser Beziehung haben Sie wohl recht. Er kann praktisch alles tun, was jeder durchschnittliche Markovier tun konnte, und wenn er ein vollständiges markovisches Gehirn hätte, das er anzapfen, gewissermaßen als Verstärker gebrauchen könnte, wäre er imstande, dasselbe zu tun wie sie.«

»Er hat den ganzen gottverdammten Schacht der Seelen dafür«, wandte Marquoz ein.

Brazil schüttelte den Kopf.

»Nein, nein. So funktioniert das nicht. Das ist eine andere Art von Maschine, auf andere Art und zu einem anderen Zweck betrieben.«

»Als wir erfuhren, daß nicht Sie es gewesen sind, der sie auf dem Markovier-Planeten abgesetzt hatte, meinte Mavra, Obie hätte ein Double von Zigeuner gemacht, während Zigeuner Sie spielte«, teilte ihm Asam mit.

»Würde nicht gehen«, erwiderte er. »Obie könnte zwar ein Gebilde herstellen, das wie Zigeuner aussieht, aber keines, das sich bei Freunden und Mitarbeitern halten könnte. Nein, ich vermute etwas anderes. Als Sie Zigeuner begegneten, haben Sie gesehen, was Zigeuner Sie sehen und hören lassen wollte. Ich glaube, so viel Macht besitzt er. Und als er den Markovierplaneten erreichte, erhielt er von dessen Computergehirn genug an Reserven, um die Illusion sogar dann noch aufrechtzuerhalten, als er fort war.«

»Sie gelten doch als Markovier«, stellte Asam fest. »Konnten Sie denn einen anderen nicht erkennen? Wenn es einen gibt, warum nicht auch zwei?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ich glaube nicht, daß das die Lösung ist. Sie ist möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Ich habe einfach das Gefühl, daß die Lösung von Zigeuners Rätsel vor unseren Augen steht, einfach, logisch, naheliegend, aber wir können sie nicht sehen. Es spielt in Wahrheit auch gar keine Rolle, nur wird es mich eines Tages verrückt machen. Tatsache ist, daß er eben tun kann, was er tut, und Obie das genutzt hat.«

Marquoz sah den kleinen Mann schief an.

»Wenn Zigeuner diese Dinge tun kann, warum Sie nicht?«

»Weil ich kein Markovier bin und nicht die geringste Ahnung habe, wie das System arbeitet«, erwiderte er rasch. »Das heißt nicht, daß ich den Schaden nicht beheben kann — ich weiß sozusagen, welche Knöpfe ich drücken muß. Abgesehen davon, unterscheide ich mich von Ihnen beiden gar nicht so sehr. Ich kann die markovische Energie nicht sehen, nichts Besonderes spüren und die Kraft auch nicht anwenden. Ich besitze Macht nur im Inneren der Maschine — und selbst dort bin ich derjenige, der den Computer bediene, und nicht sein Konstrukteur. Das ist ein großer Unterschied.«

»Das hört sich an, als schätzten Sie sich recht gering ein«, meinte Asam. »Viele Leute haben für Sie gekämpft und ihr Leben verloren.«

»Oder was noch alles«, erwiderte er düster. »Nein, es ist nichts Besonderes an mir, Asam. Ich konnte nicht einmal bei Mavra die Verantwortung übernehmen. Ich habe das lästige Kind anderen zugeschoben. Sie hat mir wohl zu Recht etwas vorzuwerfen.«

»Sie werden sich doch da nicht ein bißchen schuldig fühlen, hm?« bohrte der Zentaur.

Brazil lachte leise.

»Nein, Asam, eigentlich nicht. Die Wahrheit ist die, daß ich wirklich wahnsinnig werden müßte, wenn ich Schuldgefühle an mich heranlassen würde. Vielleicht bin ich das ohnehin, aber ich kann einfach nicht mehr viel empfinden. Ich lebe eben schon zu lange. Viel zu lange.«

»Bitterkeit?« fragte Marquoz.

»Keine Bitterkeit. Ich bin nur müde. Sehr, sehr müde, Marquoz. Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, unzählige Jahrhunderte hindurch Tag für Tag, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert zu leben. Ich bin sehr, sehr dumm, Marquoz. Ich habe mir das selbst angetan. Ich habe das frei und unbehindert gewählt, ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur eine Sekunde lang zu zweifeln. Aber niemand, wirklich niemand kann sich die grauenhafte Einsamkeit vorstellen. Es ist einsam und langweilig. Rassen reifen nicht über Nacht; sie brauchen Jahrtausende dazu. Und du wartest und siehst, wie alle, die dir etwas bedeuten, alt und zu Staub werden, und die Menschheit rückt jedes Jahrhundert vielleicht einen Millimeter oder noch weniger vor. Schließlich stellst du fest, daß du aussteigen willst, stellst fest, daß du es nicht mehr aushältst — und du kannst nicht aufhören. Man sitzt in der Falle.«

»Zigeuner hat uns gesagt, Sie würden sich vielleicht umbringen, sobald Sie den Schacht repariert haben«, meinte Asam beunruhigt. »Offenbar liegt er nicht so weit daneben.«

Brazil lächelte bitter.

»Es kommt ganz darauf an, Asam. Das ist der einzige Ort, wo ich es überhaupt tun kann, aber es geht nicht, wenn nicht jemand da ist, der mich ablöst und die Verantwortung übernimmt.«

Der Dillianer packte Brazil plötzlich mit eisernem Griff.

»Nicht Mavra! Mavra werden Sie das nicht antun!« knurrte er.

Brazil langte hinauf und löste die Hände des zornigen Zentauren von seinen Schultern.

»Ich werde das keinem antun, Asam«, sagte er leise. »Ich könnte es gar nicht. Alles, was ich tun kann, ist, etwas zur Wahl stellen. Das ist alles, was jemand in seinem Leben bekommt — die Wahl. Ich bin in dem ganzen verdammten Universum der einzige, der in Wirklichkeit überhaupt keine Wahl hat.«

Darauf gab es nicht viel zu sagen, und Marquoz kam wieder auf das eigentliche Thema zurück.

»Wie soll diese irre Geschichte dann weitergehen?«

Brazil sah zu Asam hinauf und rieb sich ein wenig die Schulter.

»Haben Sie vielleicht eine von Ihren Zigarren dabei, Colonel? Diese miesen, billigen Zigaretten, die ich geraucht habe, um Ihnen vorzutäuschen, ich sei Zigeuner, machen mich fertig.«

Asam kramte in seinen Sachen, fand zwei Zigarren, warf ihm eine davon zu und steckte die andere in den Mund. Marquoz sah traurig zu, als sie die Zigarren anzündeten, und wünschte sich nichts sehnlicher, als mitrauchen zu können.

»Ich schnuppere bei euch mit«, sagte er dumpf.

Als sie es sich wieder bequem gemacht hatten, sprach Brazil weiter und erläuterte, wie die Dinge bis jetzt abgelaufen waren.

»Zwei Nächte später wird Zigeuner sich bewußt in meiner Form zeigen«, fuhr er fort. »Das wird sie zu der richtigen Schlußfolgerung führen, daß der, von dem sie wissen, der Echte ist. Und ich werde nach wie vor hier sein — sozusagen.«

Marquoz nickte.

»Ich glaube, ich verstehe. Zigeuner wird seine Kräfte gebrauchen, um augenblicklich hierherzukommen. Brazil wird in gewohnter Weise auftauchen — nur werden Sie fort sein. Man wird glauben, den Richtigen vor sich zu haben, und zupacken.«

Er nickte.

»Und ich werde einen Tag Vorsprung haben. Ich beabsichtige, morgen abend fortzugehen. Ein paar von den Agitar-Neuzugängen, die wir vor ein paar Tagen aufgenommen haben, sind nicht, was sie zu sein scheinen. Sie gehören zur Besatzung der ›Nautilus‹ und haben zwei von diesen Pegasussen — Pegasi? Ach, egal. Jedenfalls bin ich ungefähr von derselben Größe wie einer von ihnen, und sie können ohnehin die doppelte Last tragen. Wir stellen die Hälfte der Mannschaft. Zwei Eflik werden auf einem Transportmittel, das für diesen Zweck gebaut worden ist, Mavra mitführen. Keine Angst, Asam, wir haben es ausprobiert. Es ist völlig sicher, und die Eflik können das Gewicht spielend bewältigen, wenn wir nicht länger als zwei Stunden hintereinander fliegen.«

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte der Zentaur düster.

Brazil seufzte.

»Ich habe Ihnen doch erklärt, daß ich niemanden zu etwas zwingen würde. Sehen Sie mich nicht so an. Ich werde überhaupt nichts tun. Das hängt alles von Mavra selbst ab. Eigentlich ist das ihr Unternehmen.«

»Dann sollte sie lieber was anderes machen«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie fuhren herum.

Vor ihnen stand, ganz der alte, Zigeuner.

»Sie haben mich erwischt, bevor ich bereit war«, sagte der Neuankömmling angewidert. »Konnte nichts tun. Sie wollten mich unter Drogen setzen.«

»Ach, Scheiße«, murmelte Brazil. »Dann werden wir uns wohl auf den Weg machen. Es wird schwer für die Eflik, aber für uns ein bißchen riskanter. Wir müssen nachts fliegen und uns untertags verstecken. Verion wird in den nächsten Tagen nicht durchquert werden können — da tritt eine Art Brunstzeit ein, und die Würmer leuchten wie elektrische Lampen. Man wird uns bemerken, und was entdeckt wird, kann gemeldet und vielleicht abgeschossen werden. Das heißt, wir müssen nach Süden gehen — und Yuas Awbrier sind noch nicht weit genug gekommen, um Khutirs Truppen von der Avenue fortzulocken, oder auch nur als brauchbare Ablenkung zu dienen.«

»Da habe ich mich nützlich gemacht«, erklärte Zigeuner. »Ich habe einen Zwischenaufenthalt eingelegt und Yua erklärt, wie es steht. Sie rückt mit aller Schnelligkeit vor. Es ist riskanter, als es das übermorgen abend wäre, aber die Aussichten für uns sind immer noch gut. Ich bin dafür, daß wir gehen.«

Brazil nickte und blickte zu Asam hinüber.

»Holen Sie Mavra, ja?«

Der Dillianer zögerte einen Augenblick, vielleicht weil er glaubte, wenn sie nicht mitginge, bestünde keine weitere Bedrohung mehr.

»Sie denken jetzt doch nicht daran, die Seiten zu wechseln, Asam, hm?« fragte Marquoz. »Wenn Sie das täten, würden Sie sie ganz gewiß verlieren.«

Der Colonel seufzte und machte sich auf den Weg, um Mavra zu suchen.

Brazil wandte sich an Zigeuner.

»Sie alter Halunke, bevor das alles vorbei ist, müssen Sie mit der Sprache heraus.«

Zigeuner grinste.

»Vielleicht. Bevor es vorbei ist«, sagte er leichthin. »He, Marquoz, es wird Zeit, daß wir uns zusammentun! Wir werden wieder ein Team sein.«

»Möglich«, erwiderte der Hakazit nachdenklich. »Möglich…«

Brazil bewegte sich unruhig.

»Möchte wissen, wo Asam so lange bleibt? Verdammt, wir müssen allerhand vorbereiten, bevor wir uns auf den Weg machen können, und auffallen dürfen wir auch nicht. Zigeuner, können Sie uns Deckung geben?«

Er nickte.

»Kurzzeitig, und mehr brauchen wir nicht. Es ist eine große Armee, eine lange, sehr lange Kolonne. Ich glaube, ich kann ohne Mühe als Brazil da auftreten, wo es nötig ist, und vielleicht gelegentlich auch Mavra sein, wenn sich die Notwendigkeit ergeben sollte.«

»Also gut. Verdammt! Was ist denn da draußen? Ist Mavra auf mich so böse, daß sie nicht zurückkommen will? Oder hat Asam…?«

Sie standen plötzlich alle auf den Beinen und sahen einander nervös und besorgt an.

»Verschaffen Sie sich Tarnung«, sagte Brazil zu Zigeuner. »Wir stellen fest, was los ist.«

Zigeuner schimmerte, veränderte sich, wurde ein Hakazit.

»Das ist ein weiblicher Hakazit«, bemerkte Marquoz belustigt.

»Sie müssen doch auf Ihren Ruf achten«, gab Zigeuner zurück, und sie gingen hinaus.

Sie schwärmten aus und schauten sich im flachen Talgrund um. Tausende von Wesen aus vielen verschiedenen Rassen lagerten dort draußen, die Lagerfeuer erstreckten sich in alle Richtungen, aber von Asam oder Mavra Tschang war keine Spur zu sehen.

Brazil rief seine Menschen zusammen und wies sie an, das Gelände abzusuchen. Zigeuner, als Hakazit getarnt, merkte sich rasch Namen und Gesichter.

Als die Zeit verging und keine Nachricht kam, wandte Brazil sich an Zigeuner und sagte:»Das gefällt mir immer weniger.«

»Mir geht es nicht anders«, erwiderte Zigeuner. »Glauben Sie, bei uns sei es vielleicht schon zu lange gut gelaufen, und die Aussichten verschlechtern sich?«

»Ich fürchte —«, begann Brazil, wurde aber unterbrochen, als einer seiner Menschen etwas schrie. Er lief in diese Richtung, und Zigeuner stampfte hinter ihm her.

Ganz in der Nähe des kleinen Flusses gab es einen Hain. Brazil erreichte den Wasserlauf als erster und bemerkte Marquoz, der am Ufer stand und auf den Schlick starrte. Neben dem Hakazit stand Asam mit hängenden Schultern.

»Mitten in der gottverdammten Armee!« fauchte Marquoz. »Mein Gott! Wir sind viel zu sicher gewesen! Diese Dreckskerle!«

Brazil starrte auf den Schlamm hinunter. Er konnte die Hufabdrucke eines Zentaurs sehen, die am Fluß entlangführten, vorbei an den Bäumen. Ein Teil des Bodens war aufgerissen, und die Hufabdrucke wurden dort zu einem wirren Durcheinander. Sonst waren nirgends Abdrücke zu sehen.

»Verdammt noch mal! Wie reißt man einen fünfhundert Kilogramm schweren Zentaur zehntausend Soldaten unter der Nase weg?« wütete Marquoz.

Asam blickte zu Brazil hinauf. Sein Gesicht war aschfahl, er wirkte tief bedrückt und verwirrt.

»Sie ist fort«, knurrte er ungläubig. »Sie haben sie erwischt.«

Zigeuner kam hinter ihnen heran, blieb stehen und begriff sofort, was geschehen war.

»Ach, Scheiße«, sagten Nathan Brazil und Zigeuner gleichzeitig.

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