Dillia

In Dillia war Vorfrühling, die schönste Zeit des Jahres. Die Luft war warm, die Sonne hell und strahlend, obwohl von den hohen Bergen im Westen ab und zu eine kühle Brise herüberstrich, die manchmal wie sanftes, seidiges Streicheln wirkte.

Mavra Tschang war lange Zeit stehengeblieben und hatte auf das Spiegelbild im Fluß geblickt, eins mit den Vögeln, kleinen Wassertieren, dem Wind und dem Rauschen eines nahen Wasserfalles, eins mit ihren Gedanken. Es war natürlich nicht ihr Spiegelbild, aber das hatte sie nach dem Durchgang durch den Schacht auch nicht erwartet — und trotzdem wußte sie, daß es doch ihr Spiegelbild war, nicht nur, wie sie jetzt war, sondern auch, wie sie hätte sein können, gewesen wäre, hätten nicht die Ereignisse in ihrem Leben vor so langer Zeit eine so seltsame Wendung genommen. Nicht die sehr kleine, zierlich gebaute Orientalin, in die sie von den Gassenchirurgen verwandelt worden war, um sie vor ihren Feinden zu tarnen, aber gleichzeitig alle Verbindungen mit ihrer frühen Kindheit und Herkunft löschend, sondern statt dessen so, wie es hätte gewesen sein können, wäre ihre Heimatwelt nicht in die Hände der diktatorischen Technokratie gefallen, die damals die Kom-Welten darstellte.

Orientalin. Das Wort hatte seinen Sinn vor vielen Jahrtausenden verloren, als die Menschheit sich von der Alten Erde zu den Sternen ausgebreitet hatte. Ein Drittel der Menschheit, vielleicht mehr, war von einer Rasse gewesen, und sie hatte sich auf die Suche nach dem Land gemacht, das die Alte Erde ihr nicht mehr bieten konnte, hinaus über wimmelnde, überfüllte Städte und Gemeinschaftsfarmen. Nach einiger Zeit sah fast jeder ein wenig orientalisch aus, und das war eine Art Gleichmacher gewesen; solche, die rein von anderen Menschenrassen abstammten, waren sehr selten gewesen und in jeder Menge aufgefallen. Brazil, natürlich, und die kleine, verstreute, aber muntere Gruppe von Juden auf vielen Welten, und die anderen Andersartigen aus Gründen des rassischen Überlebens aneinander gebunden, wie die Zigeuner. Sehr wenige und sehr selten.

Ihr Gesicht war jetzt ein exotisches, ein Gesicht, das sexy war, nicht eines, das die Rassenvermischung, wie sie auf menschlichen Planeten üblich war, widerspiegelte. Fast niemand dort hatte rein goldblonde Haare, wenn er sie nicht färbte, sowenig wie tiefgründige, eisigblaue Augen, außer mit Kontaktlinsen. Auch ihre Haut war ohne Makel und sehr blaß, obwohl sie wußte, daß sie in der Sonne dunkler werden würde, und ihre Brüste waren groß, viel größer als vorher, und vollkommen geformt. Sie bewegten sich, wenn sie sich bewegte, und das war ihr zumeist bewußt.

Sie war natürlich kein Mensch; nur Gesicht und Rumpf waren es, Erinnerungen an das, was hätte sein können. Der menschliche Teil ging über in die Pferdeform, die dem menschlichen Körper so genau angepaßt war, ebenfalls bedeckt mit kürzeren goldblonden Haaren, mit einem Schweif, der fast weiß war.

Obie hatte sie jetzt schon zum zweitenmal zu einer Zentaurin gemacht, obwohl ihr in einem Winkel ihres Gehirns klar war, daß es diesmal dabei bleiben würde. Sie war lange stehengeblieben, hatte nach einiger Zeit nachgedacht und versucht, die Beweggründe des Computers zu begreifen. Schließlich wurde ihr Blick vom Spiegelbild über der tiefen Stelle abgelenkt zu den nahen Bergen, kalt und dunkelblau, in Wolken gehüllt, die Gipfel von Schnee bedeckt, der nur sehr langsam schmelzen würde. Das war nicht Dillia, wie sie wußte, sondern Gedemondas, das geheimnisvolle Gedemondas, an das nur sie sich erinnerte — und selbst diese Erinnerung war durch Jahrhunderte von Erleben und Dasein verdunkelt. Eine fremdartige, mystische Rasse von Bergbewohnern mit unglaublichen Kräften, die sich aber eremitenhaft in ihren Berghorsten und von Vulkandampf geheizten Höhlen tief unter der stillen Oberfläche verbarg. Ihre Gedankengänge waren — nun, nicht-menschlich war eigentlich der Ausdruck, vermutete sie, während der Rest der südlichen Halbkugel, zumindest die Teile, die sie gesehen hatte, dazu neigte, in vertrauteren Bahnen zu denken, gleichgültig, wie bizarr ihre Erscheinungsformen und Lebensweisen sein mochten. Die Gedemondaner hatten sie einmal gekannt und waren an ihr interessiert gewesen. Vielleicht erneut?

Sie drehte sich um und entfernte sich von Fluß und Wasserfall, ging hinunter zu dem kleinen Dorf, von dem sie wußte, daß es da war, der Tatsache eingedenk, daß sie denselben Weg beschritt, den ihr Großvater vor so langer Zeit gewählt hatte, und mit demselben letzten Ziel im Sinn: dem Computer des Schachtes der Seelen selbst. Ihre Großeltern waren mit Brazil dorthin gegangen, wenn auch nicht in eigener Absicht.

Das Dorf stand am Ursprung eines großen Gletschersees, weit entfernt von der Hauptströmung des Lebens in Dillia. Es war verhältnismäßig klein geblieben, noch immer eine Art Wildnis-Siedlung, trotz der inzwischen vergangenen Jahrhunderte — in erster Linie deshalb, weil die Bevölkerung des Hexagons vergleichsweise stabil gehalten wurde. Es gab auf der Sechseck-Welt keine Übervölkerung und deshalb nichts von dem Druck, der schon vor langer Zeit dazu gezwungen hätte, das Land zu entwickeln. Es gab hier auch keine Rohstoffe, die es lohnend gemacht hätten, das Gebiet auszuplündern; Dillia war ein teilweise technologisches Hex, mehr als Dampfkraft war nicht zugelassen, und die Ablagerungen anscheinend unerschöpflicher Kohle- und Rohölvorräte befanden sich weit im Süden.

Was es an Hilfsmitteln hier gab, war für die einheimische Bevölkerung von größerer Bedeutung. In den zahllosen Flüssen, die den See nährten, laichten überall Fische und hatten eine reichgesegnete und sorgsam geführte Industrie hervorgerufen, die in mehr als einer Beziehung die Nahrungsmittel—, Düngemittel- und Ölraffinerie-Industrien andernorts versorgte — Seeab, wie der Rest des Hex bei diesen Leuten genannt wurde. Das und das überreichliche Wild der Wälder oberhalb des Sees waren die Rohstoffe, die hier zählten.

Trotzdem hatte es, wie sie erkennen konnte, seit ihrem letzten Aufenthalt hier Veränderungen gegeben. Das Dorf war größer; in und zwischen den Waldlichtungen schienen mehr Holzhäuser zu stehen, und alles wirkte ein wenig moderner. Fackeln waren ersetzt durch Gaslampen, offenbar versorgt durch einen riesigen Erdgas-Behälter in der Nähe des Sees, der Anschlüsse für Unterwasserzufuhr besaß. Außerdem schien es eine große Zahl kleiner Boote zu geben, die in säuberlichen Reihen rund um den kleinen Hafen verankert waren; fast ein Jachthafen, dachte sie. Auch die Gebäude sahen neuer aus. Wandel trat in den Gebieten der Sechseck-Welt nur langsam ein, war aber trotzdem überall unausweichlich. Immerhin empfand sie darob ein wenig Enttäuschung. Von der persönlichen Ausstrahlung schien etwas verschwunden zu sein.

Ihre Nacktheit störte sie nicht; da das warme Wetter bevorstand, gingen die meisten Zentauren unbekleidet, und nur ihre blasse Haut unterschied sie eigentlich von den mehr wettergegerbten Körpern ringsum.

Sie suchte das Büro des hiesigen Polizisten auf, der einzigen Regierungsgewalt, die es hier oben gab. Es hatte keinen Sinn, unwissend und allein herumzulaufen. Die Leute hier waren stets freundlich gewesen.

Sie konnte die Schilder natürlich nicht lesen, aber nur ein kleines Gebäude, ein Fertigbau, wies an beiden Seiten der Tür amtlich wirkende Siegel auf, Siegel, die nur das Große Siegel des Hexagons sein konnten. Das bedeutete Amtliches, und wenn sie sich nicht grundlegend geändert hatten, war das die Stelle, die sie suchten.

Die Dinge hatten sich verändert, aber das fiel nicht ins Gewicht. Die Stadt hatte sich offenbar eine Verwaltung zugelegt, vor allem, um mit den Touristen fertig zu werden, und das hier war das Rathaus. Ein sehr kleines Rathaus; wenn alle vier Beamten, der Bürgermeister, der Kämmerer, der Schreiber und der Polizist beschlossen hätten, gleichzeitig anwesend zu sein, wäre nicht einmal mehr Platz für Möbel gewesen. Aber das komme nie vor, versicherte ihr die Schreiberin.

Alles verändere sich, aber nicht so gewaltig. Die drei anderen seien auf dem See und fischten.

Die Schreiberin, eine sachliche Frau mit Hakennase und grauweiß gefleckter Körperbehaarung, erwies sich als nett.

»Ich heiße Hovna«, erklärte sie Mavra. »Als wir erfuhren, daß aus Ihrer Gegend des Weltraumes viele Neuzugänge kommen, rechneten wir damit, daß mindestens einer von Ihnen hier auftauchen wird.«

Mavras Brauen stiegen vor Überraschung hoch.

»Oh?«

Die Schreiberin nickte.

»In unserer Geschichte sind viermal Leute aus Ihrer Gegend gekommen, und jedesmal war mindestens einer von euch hier. Muß eine Art Wahlverwandtschaft sein.«

Das interessierte Mavra.

»Sind jetzt noch andere hier?«

»O nein«, erwiderte die Frau lachend. »Das letztemal vor Hunderten von Jahren, lange vor unserer Zeit. Ich glaube, Sie sind überhaupt der erste Neuzugang in meinen Akten, egal, woher.«

Das wird sich bald ändern, dachte Mavra mürrisch. Sie würde die Behörden alarmieren müssen, damit für die Neuankömmlinge zeitweilige Unterkünfte bereitgestellt werden konnten, die dieses schöne und friedliche Land nicht auf den Kopf stellten. Zunächst sagte sie jedoch nur:»Ich freue mich jedenfalls, hier zu sein. Mein Großvater war einmal einer von Ihnen, ganz früher.«

Die Schreiberin zog die Brauen zusammen.

»Großvater? Ich erinnere mich nicht… Wie sollte denn das überhaupt möglich sein? Wenn man einmal hier ist, ist man hier

»Nicht, wenn man durch den Schacht der Seelen hinausgeht«, gab Mavra zurück.

Die Schreiberin war offenkundig verwirrt und sagte nur achselzuckend:»Vor meiner Zeit.«

Mavra ging der Sache nicht weiter nach.

»Vorerst brauche ich nur ein paar Tage Zeit, um mich zurechtzufinden. Ich fürchte, ich bin nicht einer Ihrer typischen Neuzugänge — ich habe Dinge zu tun, deshalb bin ich hergeschickt worden.«

»Dinge zu tun?« sagte die Schreiberin verwirrt und warf ihr einen Seitenblick zu, der verriet, daß sie die Neue für geistig aus dem Gleichgewicht geraten hielt. Immerhin gab es für solche Fälle ein amtliches Register, das sie zur Bürgerin erklärte und ihr bestimmte Rechte verlieh, die nicht viel zu bedeuten hatten — aber man regierte hier sehr zurückhaltend. Man nahm lediglich ihren Vornamen auf; die Dillianer verwendeten nur einen Namen und sahen die Notwendigkeit von zweien kaum ein. Zum Glück bestand ihr Name, Mavra, aus Silben, die in der Sprache Dillias gebräuchlich waren und keine Änderung erforderten.

»Oben am See gibt es ein Gästehaus«, erklärte die Schreiberin und kritzelte etwas auf einen amtlichen Briefbogen. »Nehmen Sie das mit, dann bekommen Sie ein Zimmer, bis Sie sich einrichten können. Es ist noch früh in der Saison, also gibt es noch Räume. Sie können dort auch essen, wenn Sie wollen.« Sie schrieb eine zweite Mitteilung. »Und das bringen Sie zum Schmied am Ende der Straße. Hier brauchen Sie Schuhe. Im übrigen ist es Ihre Sache, hier Ihren Platz zu finden. Gibt viel zu tun, wenn es einem hier gefällt und wenn man zivilisiertere Arbeit auf geteerten Straßen haben will, kann man seeab gehen.« Das sagte sie eher verächtlich. Es gab Stadtleute und Landleute, und sie unternahm keinen Versuch, zu verbergen, zu welchen sie gehörte.

Mavra warf einen Blick auf die beiden Briefe.

»Ich bin überzeugt, daß das wunderbar ist«, versicherte sie der Schreiberin. »Ähm… ich kann sie nicht lesen, wissen Sie. Wie soll ich sie unterscheiden?«

Die Schreiberin sah sie reumütig an und malte auf einen der Bogen ein kleines umgedrehtes Hufeisen. Mavra nickte, dankte ihr und ging.

Sie hatte Hunger, beschloß aber, sich in der Stadt umzusehen, bevor sie zum Gästehaus ging. Schuhe… Seltsam, daran hatte sie nicht gedacht. Die Rhone, die Zentauren ihrer früheren Weltraumheimat, hatten hochmodernen Schutz entwickelt, der sie überflüssig machte — aber hier mochten Schuhe eine gute Idee sein. Sie machte sich auf den Weg zum Schmied.

Es war fast so, als hätte man sich ein Bein gebrochen und gehe zum Arzt, entschied sie. Die Tatsache, daß es angeblich nicht weh tat und schnell vorbei sein würde, verringerte die Besorgnis nicht, die von der Tatsache herrührte, daß der riesenhafte, muskulöse, kastanienbraune Zentaur, der den Eindruck machte, er könne Stahlstangen wie Nudeln verbiegen, eine Anzahl Nägel in ihre Fußsohlen schlagen sollte.

Als sie die Schmiede betrat, betrachtete der Schmied, ein freundlicher Mann namens Torgix, sie anerkennend, wie das von jedem Mann zu erwarten war, grinste durch einen dichten Bart wie ein Schuljunge und eilte auf sie zu. Er griff nach dem Papier mit dem Hufeisen, warf einen Blick darauf und erklärte ihr, wo sie sich hinzustellen hatte.

»Nur die Ruhe, schönes Mädchen«, dröhnte er mit einer Stimme, die zu seiner Erscheinung paßte, »dann geht das ganz rasch.«

Es war ziemlich nervenzerreibend, zu beobachten, wie er ihre Hufe vermaß, dann rotglühenden Stahl mit der Geschicklichkeit des Meisters in die richtige Form bog; und sie brachte es nicht über sich, hinzusehen, als er die Spezialnägel durch die kleinen Löcher in das Hufeisen trieb. Es stimmte, daß sie eigentlich keine Schmerzen verspürte, es sei denn vielleicht ein schwaches Ziehen in den Muskeln von der Wucht der Hiebe — der Mann wußte wirklich nicht, wieviel Kraft er hatte —, aber die innere Qual war groß. Froh darüber, als er fertig war, ging sie zögernd hin und her und spürte das zusätzliche Gewicht.

»Daran gewöhnen Sie sich«, versicherte er ihr. »In zwei Tagen haben Sie vergessen, wie das war, als Sie noch ohne die gingen — und Ihre Füße werden Ihnen in den kommenden Tagen und Monaten dafür danken. Die Legierung ist gut; kein Rost und kein Verziehen, obwohl die Nägel sich mit der Zeit natürlich lockern. Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, kann jeder Schmied kleine Reparaturen vornehmen. Kann ich sonst irgend etwas für Sie tun?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nichts, danke. Aber ich würde gern etwas trinken.« Sie zögerte. »Dafür wird man jedoch Geld oder irgendeine Art von Bezahlung brauchen, nicht?«

»Da würde ich mir keine Gedanken machen«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Sie sind die schönste Frau hier in der Gegend, kann ich Ihnen sagen, und bewegen tun Sie sich auch richtig, nichts für ungut, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, etwas zu trinken zu bekommen. Sind Sie eine Frau gewesen — vorher, meine ich?«

Sie nickte.

»Dann wissen Sie, was ich meine«, fuhr er vielsagend fort und zwinkerte ihr zu.

Sie lächelte ein wenig. Ja, sie wußte ganz genau, was er meinte.


* * *

Die Kultur, an die sie sich von ihrem letzten Aufenthalt in Dilla erinnerte, war eine gemeinschaftliche gewesen. Wenn es überhaupt Geld gegeben hatte, dann war es hier in dem Dorf am See nicht verwendet worden. Erneut hatte sich etwas geändert, wenn auch nicht auf die komplizierte Art und Weise, wie sie anderswo sogar auf der Sechseck-Welt zu finden war. Man hatte eine Nummer — auch sie hatte eine, auf diesen Schreiben —, und das verschaffte einem ein Konto, vom Schreiber in dem Ort geführt, wo man angemeldet war. Es war nichts sehr Exaktes — die Konten wurden schlampig geführt und nicht einmal mit Namen bezeichnet —, und das einzige, was verlangt wurde, damit das Konto weiterbestand, war, irgendeine Art von produktiver Art für die Gemeinschaft zu leisten. Es machte keine Mühe, zu einem Laden oder einem Verkaufsstand zu gehen und sich geben zu lassen, was man brauchte — solange man arbeitete und etwas produzierte.

Sie fragte sich, wie weit das Konto eines Neuzugangs reichte, bevor es überzogen war. Jedenfalls nur kurze Zeit, entschied sie. Es hatte eigentlich keine zeitliche Begrenzung gegeben — obwohl ihr die Schreiberin das System natürlich nicht erklärt oder auch nur ihre Nummer mitgeteilt hatte. Es war wohl am besten, bei Leuten aus fremden Kulturen vorsichtig zu sein, die ein Konto überziehen mochten. Aber sie war wirklich schön und konnte sich unbewußt richtig bewegen, wie der Hufschmied erklärt hatte. Das System war ihr leicht verständlich.

Sie war faul und nachlässig geworden, fand sie. Bars waren schon immer ihr Element gewesen; sie war in und neben ihnen aufgewachsen, hatte darin gearbeitet und sich ihrer bedient. Sie war immer das gewesen, was andere als niedlich empfanden. Ein großer Vorteil war das für sie, aber sie war jetzt Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und hatte es ein wenig verlernt, damit fertig zu werden. Obie war ein enger Freund gewesen, ein Begleiter, sehr lange Zeit für sie das nächste denkende Wesen, und sie vermißte ihn schrecklich. Aber er war auch eine Droge gewesen, erkannte sie jetzt, ein Zaubergeist, der einem auf ein Fingerschnalzen hin geben konnte, was man wollte oder brauchte. Die alte harte, ganz auf sich selbst gestellte Mavra Tschang war irgendwann verlorengegangen. Das war etwas Heimliches gewesen, nicht vermißt, bis es gebraucht wurde, und jetzt begriff sie, in welchem Nachteil sie sich befand.

Sie war im frühen Teil ihres Lebens eine abgeschlossene Welt für sich gewesen, ihr ganzer Stolz. Sie hatte sich durch ihren eigenen Witz und ihre Fähigkeiten nach oben gerangelt — nicht ohne eine hilfreiche Hand hier und dort, aber sie wußte, daß das für jeden im Universum galt. Aber sie hatte sich verändert. Zauberstäbe haben diese Wirkung.

Die Männer und Frauen in der Bar kamen ihr vorwiegend laut, stürmisch und flegelhaft vor. Das war natürlich immer der Fall gewesen, aber sie hatte ein solches Verhalten stets duldsam hinnehmen und so tun können, als passe sie sich an. Jetzt fiel ihr das zunehmend schwerer; das Schauspielern, um den anderen gleich zu sein, erschien ihr aus irgendeinem Grund unmöglich, das Betasten und die Avancen waren schwer zu ignorieren und förderten Gereiztheit. Sie ging möglichst rasch wieder und machte sich auf den Weg hinauf zum Gästehaus, einem großen Holzbalkengebäude mit breiter Veranda vor Hafen und See.

Im Inneren war es sehr hübsch; das ganze Erdgeschoß lag offen, man sah nur die mächtigen Deckenbalken und an jedem Ende und in der Mitte einen Kamin, deren Abzugsschächte in der Decke verschwanden. Die Räume teilten sich hinter der Gemeinschaftshalle in zweistöckige Flügel auf, klein und einfach, aber allen Bedürfnissen entsprechend. Die Dillianer schliefen im Stehen, obwohl sie sich, wenn sie sich ausruhen wollten, gern anlehnten, und es gab dafür einen Bereich mit zwei gepolsterten Geländern, außerdem ein Becken mit laufendem Quellwasser, einem Krug und Tüchern für das Waschen. Die Gemeinschaftslatrine befand sich unten an der Halle: eine Anzahl von Kabinen, in die man sich rückwärts hineinschob. Nichts Besonderes, aber ausreichend.

Zwischen den beiden Flügeln gab es den Eßraum, versehen mit Schildern, die sie nicht lesen konnte, die aber von einer freundlichen Person als die Bedienungszeiten nach der Zimmernummer übersetzt wurden. Die im Grunde vegetarischen Dillianer bereiteten ihre Pflanzen auf tausenderlei verschiedene und köstliche Weise zu, heiß und kalt und stets stark gewürzt. In diesem Waldland würde niemals jemand verhungern, was auch geschehen mochte. Im Notfall konnten alle Dillianer praktisch sämtliche Pflanzen essen, inklusive Gras und Laub, selbst wenn der Geschmack manchmal zu wünschen übrigließ.

Sie verbrachte einige Tage auf diese Weise, wanderte oft die Waldwege entlang, blickte auf die Berge und versuchte das alte Ich zu finden, das sie jetzt so dringend brauchte. Einmal war sie stolz auf die Vereinzelung gewesen, hatte es genossen, völlig allein und auf sich gestellt zu sein. Sie glaubte, das sei immer noch so, konnte aber das Gefühl völliger Vereinsamung unter diesen schlichten Leuten nicht loswerden. Der Unterschied lag zum Teil darin, sagte sie sich, daß sie jetzt für die Zwecke eines anderen tätig war — aber nein, sie hatte stets Aufträge von anderen angenommen und sie immer ausgeführt. Immerhin, es war ihr Plan gewesen, ihre Vorbereitung. Selbst bei Obie hatte sie das Gefühl gehabt, unabhängig zu sein, zu tun, was sie wollte, wie sie es tun wollte.

Was mochte sich in ihr verändert haben? fragte sie sich. War es bei den Leuten genauso wie mit diesem Hex, diesem Dorf? Kleine Veränderungen, wenn man älter wurde, während ringsum sich alles bis zur Unkenntlichkeit veränderte? Hatte sie sich so sehr verändert, daß sie nicht mehr über die Mittel verfügte, eine Aufgabe zu bewältigen?

Das war es natürlich. Das Werkzeug fehlte, und es war nicht nur etwas Gegenständliches, sondern auch etwas Geistiges. Extremes Selbstbewußtsein war unabdingbar, aber man brauchte auch das gesellschaftliche Rüstzeug, um von jedem, der notwendig war, zu erhalten, was man von ihm haben mußte. Das war es, was ihr Leben mit Obie ihr genommen hatte: der Instinkt, die Leute wie die Ereignisse nach ihrem Willen zu formen. Sie hatte das nicht gebraucht; Obie hatte alles erreichen können. Sie hatte die Fähigkeit irgendwo verloren und schien nicht herausfinden zu können, wo das gewesen war. Marquoz, etwa — er hatte sie immer noch, hatte sie immer besessen. Der Chugach hatte nicht nur sich selbst fest in der Hand, sondern auch diejenigen um sich herum, so, wie sie das früher auch gekonnt hatte. Und Zigeuner — wer und wo er auch sein mochte —, auch er hatte das. Wo hatten sie es her? Auf jeden Fall waren sie nicht damit geboren worden. Das war etwas, das man erwarb, wenn man aufwuchs — etwas Angenommenes. Und wie verlor man es? Indem man es nicht ständig gebrauchte, so, wie Marquoz und Zigeuner es stets gebraucht hatten.

Sie glich dem großen, bahnbrechenden Kämpfer, dachte sie, der sich mit Gewalt und Tücke an die Spitze gebracht hatte, um dann in einem großen Herrenhaus zu landen, mit allem, was er sich wünschte, versehen. Wenn man ihm das nach vielen Jahren wegnahm, war er verloren. Seine Fähigkeiten waren eingerostet, überholt oder, schlimmer noch, durch lange Jahre des Nichtgebrauchs verkümmert.

Verkümmert. Das beunruhigte sie. Das wilde, raubkatzenartige Wesen Mavra war gezähmt worden, häuslich, dick und faul. Jetzt, da es wieder in die Wildnis geschleudert worden war, entdeckte das verzärtelte Geschöpf, daß diese Wildnis etwas Fremdes war, durchaus nicht mehr sein Element.

Daran war nicht vorbeizukommen, obwohl es ihr schwerfiel, das selbst vor sich allein zuzugeben. Sie brauchte andere Leute nicht nur, sie brauchte Leute, auf die sie sich verlassen, denen sie im Notfall sogar ihr Leben anvertrauen konnte. Vielleicht, wenn sie mehr Zeit gehabt oder die Dinge stärker in der Hand gehabt hätte, wenn sie in der Lage gewesen wäre, den Plan oder den zeitlichen Ablauf nach ihren Bedürfnissen zu verändern, hätte sie mehr von ihren alten Fähigkeiten wiederfinden und in die Wildnis zurücktauchen können, aus der sie gekommen war. Aber das gelang ihr nicht, und die Zeit verrann unwiederbringlich. Ereignisse, auf die sie keinen Einfluß hatte, würden bald Maßnahmen und Gegenmaßnahmen erzwingen, über die sie ein Vorauswissen besaß — ihre stärkste Waffe —, ohne sie aber ändern zu können.

Am Spätnachmittag ging sie am Flußufer entlang und dachte darüber nach, als ein sonderbares, hasenartiges Wesen auftauchte. Seine riesigen Ohren und übertrieben vorstehenden Zähne verliehen ihm ein beinahe komisches, karikaturhaftes Aussehen, das durch einen Blick auf die kraftvollen Beine ausgeglichen wurde. Es war überdies mehr als eineinhalb Meter groß, selbst ohne die Ohren — eine sehr beachtliche Größe —, obwohl die Art harmlos war. Es starrte sie eher neugierig als furchtsam an, und sie starrte zurück. Irgendwo in den Winkeln ihres Gehirns regte sich ein Gedanke und erzwang sich den Weg nach vorn. Das Tier hatte etwas entschieden Seltsames an sich, etwas, das sie nicht ganz unterbrachte, das aber auf irgendeine Weise wichtig zu sein schien. Kurz danach begriff sie, daß das Tier vom Gesicht bis zu den kürzeren Vorderbeinen braun war, darunter das Haar aber langsam schneeweißem Pelz Platz machte. Sie schaute genauer hin und konnte Spuren von vereinzelten weißen Stellen sogar im hellen Braun erkennen.

Sie hatte solche Wesen schon früher gesehen, aber sie waren zumeist ganz weiß oder ganz braun gewesen. Nun wußte sie plötzlich, warum. Weiß war die Winterfarbe. Im Schnee wurden die Tiere dadurch fast unsichtbar. Jetzt, da der Frühling begann und jeder neue Tag ein bißchen wärmer wurde, nahm das Tier eine braune Färbung an, um in dem erblühenden Wald besser getarnt zu sein. Langsam wurde das Weiß verdrängt, während die Jahreszeiten wechselten — und das bedeutete, daß bei der einen von zwei Gelegenheiten im Jahr das Tier sich auf seine Färbung als Schutz nicht verlassen konnte. Jetzt, beim Frühlingsanfang wie später im Herbst, war es eine Zielscheibe. Jagdgruppen kamen inzwischen schon zum See herauf; sie hatte sie gesehen und ärgerte sich darüber, daß ihr der Zusammenhang nicht gleich aufgegangen war.

Die Jagd war bei den Dillianern ein wichtiger Erwerbszweig; die Einheimischen verwendeten Häute und Felle auf vielerlei Art und verkauften das Fleisch an benachbarte Hexagons. Jagdgruppen — zumeist Berufsjäger — bestanden aus harten Leuten, die sich auskannten. Aber die Jagd wurde nicht in Dillia betrieben — sie war nur seeauf möglich, und das Wild dort war reserviert für die Dauerbewohner, damit sie es hegten. Nein, die Jagd von Dillia fand in Gedemondas statt, auf den Bergpfaden.

Sie entschied, daß sie letztlich doch in die Stadt gehörte, diesmal, um einen Weg nach Gedemondas hinein zu erkunden. Was sie von Dillia brauchte, konnte später veranlaßt werden; Gedemondas war entscheidender, vor allem, weil später nicht mehr genug Zeit bleiben mochte, um in dieser Hinsicht etwas zu unternehmen.

Erste Versuche, sich einer Expedition anzuschließen, brachten Mißerfolge. Obwohl die Jagdgruppen aus Männern wie aus Frauen bestanden, weil die Dillianer, wenn es um Tätigkeiten ging, kaum Unterschiede nach dem Geschlecht machten, war sie zu weich, zu hübsch für sie, als daß man sie ernst genommen hätte. Für sie war das ein frustrierendes Erlebnis. Ihr ganzes Leben lang war sie nicht nur klein, sondern fast winzig gewesen, und auch da hatte man sie nie ernst genommen — bis es zu spät war. Aber jetzt herablassend behandelt und abgewiesen zu werden, weil sie zu attraktiv sei, war ein schwerer Schlag. Nicht daß die Jäger, vor allem die riesenhaften, sich in die Brust werfenden Männer, nicht an ihr interessiert gewesen wären — sie brachten nur vom sachlichen Standpunkt her kein Interesse für sie auf.

Es kam ihr vor, als kehre sie zu ihren Anfängen zurück, als sie, arm und auf einer zurückgebliebenen Pionierwelt festsitzend, Geld, Einfluß und schließlich einen Fluchtweg dadurch gewonnen hatte, daß sie ihren Körper und andere Dienstleistungen verkaufte. Aber jetzt standen die Dinge anders; Dillia besaß gewisse Ähnlichkeiten, jedoch nicht diesen Ausweg — nicht hier und nicht jetzt. Und sie besaß nichts anderes, nicht einmal einen dicken Mantel für die Winterkälte des Jagdgebiets oder auch echte Erfahrung im Umgang mit Waffen. Gewiß, sie kannte eine Laserpistole und ihre Verwandten in- und auswendig, aber hier befand sie sich in einem nur teilweise technologischen Hex, wo außer Explosionswaffen nichts funktionierte, und Gedemondas, das Jagdgebiet, war sogar ein nicht-technologisches Hex, wo man mit Pfeil und Bogen und ähnlichen Waffen tötete, Waffen, die nach einer ständigen Verfeinerung der Geschicklichkeit im Umgang mit ihnen verlangten, von der sie fast nichts besaß, schon gar in diesem neuen, größeren Körper.

Sie ließ sich entmutigen, und einige Versuche sowohl mit dem Bogen wie mit einer Armbrust hatten ihre Stimmung nicht verbessert. Sie ging denkbar ungeschickt damit um.

Trotzdem fuhr sie fort, die immer noch eintreffenden Jagdgesellschaften abzufangen, zu begrüßen und sich mit den Leuten zu unterhalten. Die meisten hatten es eilig, um noch ein bisher nicht beanspruchtes Jagdrevier mit Beschlag zu belegen. Sie standen alle an der Bartheke, und ein Mann, der Anführer einer Gesellschaft, leerte mächtige Krüge Bier und erzählte den Einheimischen von Gedemondas. Die meisten waren nie dort gewesen und würden nie hinkommen; es war selbst für jene, die das Land gut kannten, eine geheimnisvolle und gefährliche Gegend, und was der gesunde Menschenverstand nicht verhinderte, tat der Aberglaube. Trotz der Tatsache, daß die Dillianer über Hexagons und Wesen halb um die ganze Sechseck-Welt sprechen konnten, wußte über ihre unmittelbaren Nachbarn niemand sehr viel. In Zone besetzten sie keine Botschaft, und in den Geschichtsbüchern stand nichts über sie. In geographischen Werken wurden sie als scheue, aber übelwollende Wilde beschrieben, die man nur aus der Ferne erblicken konnte. Dillia hatte keine Erlaubnis, in Gedemondas zu jagen, aber Einwände waren nie vorgebracht worden. Alles zusammen machte das Hex zu einer unheimlichen, abschreckenden Region der Legende.

Der Jäger, der Asam hieß, war ein großer, kräftiger Dillianer anfangs der mittleren Jahre, dem man das aber kaum ansah. Seiner gebräunten, schlanken, muskulösen Gestalt entsprach ein kantiges, gutaussehendes Gesicht, das den Eindruck machte, das Elend der Welt kennengelernt zu haben, und trotzdem war da auch Güte, hervorgehoben vielleicht durch seine ungewöhnlichen graugrünen Augen. Sein Bart, durchzogen von Weiß, war perfekt gestutzt, und der Mann wirkte insgesamt robust, aber gepflegt. Seine Stimme entsprach dem Aussehen: stark, leise, sonor, melodisch und zutiefst männlich.

»Da oben ist ewiger Winter«, sagte er gerade, nachdem er in tiefen Zügen aus einem Bierkrug getrunken hatte, in den mehr als zwei Liter hineingingen. »Ja, an einem warmen Sommertag kann einem das Haar steif gefrieren. Wir müssen besonders vorsichtig sein und einander regelmäßig abreiben, damit aus dem Schweiß keine Eiskügelchen werden. Und schwitzen tut man, täuscht euch da nicht. Manche von den alten Steigen gehen fast senkrecht hinauf, und man trägt ‘nen schweren Rucksack. Zuweilen verschwindet der Weg ganz — dann muß man auf Schnee und Eis hinaus, was um diese Zeit besonders gefährlich ist, weil der Schnee vom Boden aufwärts schmilzt und die Sonne von oben runtergleißt. Das gibt versteckte Spalten, die eine ganze Gesellschaft verschlingen können, ohne eine Spur zu hinterlassen, und übles Glatteis und weiche Stellen und Schneebrücken, wo der Boden fest zu sein scheint, unter denen aber nichts als Luft ist, wenn man’s ausprobiert.«

Seine Aussprache war sonderbar; für sie wurde sie übersetzt wie Reden aus einem Piratenbuch für Kinder, farbig und einzigartig. Sie fragte sich, wieviel davon auf Wirkung angelegt war, oder ob er, wie sie das bei anderen erlebt hatte, das schon so oft vorgespielt hatte, daß er der geworden war, den er darstellte.

Seine Zuhörer waren natürlich zumeist junge Leute, und sie überfielen ihn mit Fragen. Mavra schob sich an einen von ihnen heran und flüsterte:»Wer ist er überhaupt?«

Der junge Mann sah sie fassungslos an.

»Na, das ist Asam — der Colonel persönlich«, erwiderte er ehrfürchtig.

Sie konnte sich an keine Rangordnung in Dillia erinnern.

»Tut mir leid, ich bin neu hier«, sagte sie zu dem hingerissenen Jüngling. »Können Sie mir etwas über ihn sagen? Warum wird er Colonel genannt?«

»Na, er hat die ganze Welt umrundet«, stieß der Informant hervor. »Er hat zu irgendeiner Zeit in über fünfzig Hexagons gedient. Alles mögliche — Schmuggeln, Forschungsreisen, Kurier —, was Sie sich denken können.«

Ein Glücksritter, dachte sie erstaunt. Ein Glücksritter aus Dillia, ein Abenteurer, einer, der für Geld jedes Risiko einging — sie kannte den Typ. Um so alt geworden zu sein, mußte er wirklich verdammt gut sein, selbst wenn die Hälfte der Geschichten, die man sich über ihn erzählte, vermutlich nicht der Wahrheit entsprach. Wenn er wirklich um die ganze Sechseck-Welt herumgekommen war, gehörte er zu den ganz wenigen Leuten, die das geschafft hatten. Das allein sagte über ihn schon etwas aus — und war eine Leistung, die zur Legendenbildung führen mußte, also wohl der Wahrheit entsprach.

»Und das mit dem Rang?« drängte sie.

»Ach, er ist in allen möglichen Armeen alles mögliche gewesen. Als er gegen alle Dahbi-Versuche, ihn aufzuhalten, das Pestserum von Czill nach Morguhn brachte, na, da wurde er dort zum Ehren-Oberst ernannt. Weiß nicht, warum, aber das ist ihm geblieben. Die meisten reden ihn so an.«

Sie nickte und blickte wieder auf den kraftvollen und legendären Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der gerade eine Geschichte von kämpfenden Eisriesen vor langer Zeit in irgendeinem fernen Hex erzählte.

»Wenn er so ein Mann ist, was macht er dann hier? Ist er nur auf der Jagd?« fragte sie den Jüngling nach einer Weile.

Ein älterer Mann, der ihre Frage gehört hatte, schob sich heran.

»Verzeihung, Miss, aber das ist seine Manie. Stellen Sie sich vor, daß Sie hier die ganze Welt gesehen und alles mögliche gemacht haben, und Gedemondas liegt gleich nebenan — er ist hier geboren, seeaufwärts. Für ihn ist das ein Rätsel. Er schwört ab und zu, daß er einen Gedemondaner einfangen will, um herauszubekommen, was mit ihnen ist, bevor er stirbt.«

Ihre Brauen wölbten sich höher, und ein schwaches Lächeln spielte um ihren Mund.

»Ach, hat er das, wie?« murmelte sie vor sich hin. Sie blieb eine Weile stehen, bis die Geschichte abgeschlossen war, dann stellte sie ihm durch das Gedränge eine Frage. »Haben Sie je einen Gedemondaner gesehen?« rief sie.

Er lächelte und trank wieder einen Schluck, während sein Blick anerkennend über ihre Gestalt glitt.

»Ja, schönes Kind, oft«, gab er zurück. »Ein paarmal versuchten einige von den Wesen sogar, mich umzubringen, und lösten Lawinen über mir aus. Bei anderen Gelegenheiten hab’ ich sie aus der Ferne gesehen, auf der anderen Seite eines Tales, oder wie sie ihre fremdartigen Laute von den Schneehängen widerhallen ließen.«

Sie zweifelte daran, daß die Gedemondaner je den Wunsch gehabt hatten, ihn umzubringen. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er sich längst nicht mehr am Leben befunden, wie sie wußte.

Sie hatte Asam jetzt auf dem richtigen Gleis, und er schaute sich schließlich um und fragte:»Hat hier sonst noch einer ‘nen Gedemondaner gesehen? Wenn das so ist, will ich Bescheid wissen.«

Da war es.

»Ich«, rief sie, »ich habe viele gesehen. Ich bin in einer ihrer Städte gewesen und habe mit ihnen gesprochen!«

Asam erstickte beinahe an seinem Bier.

»Städte?… mit ihnen gesprochen?« wiederholte er, dann beugte er sich zum Barmann hinüber. »Wer ist das Mädel überhaupt?« fragte er aus dem Mundwinkel leise.

Der Barmann schaute zu ihr hinüber, den Blicken der anderen Gäste folgend, die sie ebenfalls anstarrten und sich zumeist fragten, ob die Geistesverwirrung ansteckend sei.

»Ein kürzlicher Neuzugang«, flüsterte der Barmann. »Erst seit ein paar Tagen hier. Ein bißchen plemplem, wenn Sie mich fragen.«

Asam richtete die fremdartigen grünen Augen wieder auf sie.

»Wie heißen Sie denn, mein Schatz?«

»Mavra«, sagte sie. »Mavra Tschang.«

Zu ihrer Überraschung nickte er nur.

»Ortegas Mavra?«

»Nicht direkt«, zischte sie, ein wenig verärgert, so gesehen zu werden. »Wir sind uns nicht sehr grün, wissen Sie.«

Asam lachte herzhaft.

»Na, Mädel, sieht so aus, als hätten wir beide allerhand miteinander zu bereden.« Er leerte seinen Krug. »Tut mir leid, Leute, zuerst das Geschäft«, erklärte er laut und ging nach draußen.

Das Gebäude war, wie die meisten, auf einer Seite zur Straße hin offen, aber es fiel den beiden trotzdem schwer, ins Freie zu gelangen. Trotzdem folgten die Jungen in einer Art langsamer Massenflucht, dachte Mavra, während sie lautlos in sich hineinlachte.

Asam wohnte in einer Jägerhütte, wie sie für durchreisende Berufstätige gebaut worden war, und er führte sie zu diesem Holzhaus, eines mit Wänden und einer Tür, die man schließen konnte.

Als sie endlich allein waren, seufzte er, machte es sich bequem und zog eine Pfeife heraus.

»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich rauche, oder?« fragte er mit ruhiger, sachlicher Stimme, die von der Aussprache in der Bar etwas beibehielt, aber nur einen kleinen Teil.

»Nur zu«, sagte sie. »Sie sind der erste Raucher, den ich auf dieser Welt sehe.«

»Man braucht nur die richtigen Beziehungen«, gab er zurück. »Das Zeug ist verdammt teuer, und die einzigen Sorten, die was taugen, werden in nur zwei weit entfernten Hexagons angebaut. Wir Dillianer sind ganz wild danach — ich weiß nicht, vielleicht liegt es an der Biochemie. Aber nur ein paar von uns können es sich leisten.«

»Vorsicht«, sagte sie heiter. »Ihre Bildung schaut vor.«

Er lachte.

»Na ja, dagegen muß man was tun, nich’? Aus der Rolle darf man nich’ fall’n.«

Sie erwiderte das Lachen. Der Colonel begann ihr zu gefallen. Er war von ihrer Art.

»Also«, sagte er nach einer Pause, »erzählen Sie von Gedemondas.«

»Ich war dort«, erklärte sie. »Vor langer, sehr langer Zeit, gewiß. Ich mag sehr jung aussehen, aber ich bin muntere tausend Jahre alt. Wenn Sie Ortega so gut kennen, daß Ihnen mein Name etwas sagt, kennen Sie auch die Grundzüge der Geschichte.«

Er nickte.

»Von den Geschichtsbändern. Ich arbeite ab und zu für ihn, und wir haben einander gut kennengelernt.«

Sie wurde plötzlich argwöhnisch.

»Aber jetzt arbeiten Sie nicht für ihn, oder?«

Er lachte wieder.

»Nein, nein. Aber ich will ehrlich sein. Er hat sich mit mir allerdings in Verbindung gesetzt. Mit mir und vielen anderen, vermute ich. Ich sollte nach Ihnen und den anderen Ausschau halten und ihm Bescheid geben.«

»Und haben Sie das getan?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich werde es auch nicht tun. Seien wir offen, es bringt nichts. Und ich mache heutzutage so ziemlich das, was ich will. Außerdem wußte ich bis vor wenigen Minuten nicht, daß Sie in Dillia sind, geschweige denn als Dillianerin. Aber er wird es erfahren, sobald sich das seeab verbreitet. Es war eine Art Großfahndung, wissen Sie. Bevor ich mich in irgendeiner Beziehung entscheide, möchte ich erst einmal wissen, was überhaupt gespielt wird. Und vor allem will ich über Gedemondas Bescheid wissen.«

Man erzählte nicht umsonst von seiner Manie, begriff sie. Aber das war nur gut.

»Wissen Sie, wer Nathan Brazil ist?« fragte sie als erstes.

Er lachte leise.

»Das ist eine Art Witz auf der Sechseck-Welt, wissen Sie. Ein übernatürliches Wesen, ein Mythos, eine Legende, wie man es nennen will.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist keine Legende mehr«, erklärte sie. »Er kommt wieder auf die Sechseck-Welt. Er muß in den Schacht der Seelen.« Sie schilderte kurz und in Umrissen, was sich bisher zugetragen hatte, berichtete von dem Riß im Raum, dem Schaden an der Sechseck-Welt und damit an der gesamten Wirklichkeit, erzählte, daß Brazil zum Schacht wollte, um ihn praktisch abzuschalten, instand zu setzen und wieder in Betrieb zu nehmen.

Er war ihr voraus.

»Ich sehe einen großen Kampf«, sagte er, als sie verstummte. »Wenn er abschaltet, hört alles auf zu bestehen, und das Gedächtnis, oder was das sein mag, wird gelöscht. Sehen Sie mich nicht so erstaunt an; weil Dillia ein halbtechnologisches Hex ist, heißt das noch lange nicht, daß wir die Maschinen von anderen nicht kennen oder nicht damit umgehen können. Nur hier geht das eben nicht. Ein bißchen Zusammenarbeit. Davon gibt es mehr, als Sie ahnen. Es gab einmal eine Pest, und die Leute wurden der Seuche nicht Herr — keine Technologie. Aber weit entfernte Hexagons mit Labors und Computern machten sich an die Arbeit, stellten ein Serum her und produzierten so viel davon, daß ich es über viertausend Kilometer weit zu den Leuten bringen konnte, die es brauchten, aber es nicht herzustellen vermochten. Wir retteten vielen das Leben, und ich bekam meinen Titel.«

»Warum gerade den?« fragte sie. »Von allen, die Sie erworben haben?«

Er lächelte schwach und blickte versonnen.

»Der einzige, den ich je dafür bekommen habe, Leben zu retten«, erwiderte er leise. Dann erwachte er aus seiner Versunkenheit und kam wieder zum Thema. »Sie und ich kennen die Regeln«, betonte er. »Wenn er das Universum neu aufbaut, dann braucht er lebende Modelle. Uns. Hört sich nicht so an, als hätte ich Aussichten bei Ihnen — oder sonst irgend jemand auf dieser Welt.«

»Er wird die Sechseck-Welt nicht zerstören«, versicherte sie ihm. »In Kürze wird unsere Armee durch den Schacht hereinfluten. Vermutlich ist das schon im Gange. Ungeheuer viele. Sie werden seine Streitmacht sein und auch die Prototypen für sein neues Universum. Nicht Sie.«

»Und Sie?« gab er zurück. »Wo werden Sie sein, wenn er das macht?«

Sie lächelte grimmig.

»Wenn ich das wüßte. Eines nach dem anderen. Ich bin nicht sicher, ob ich das noch erlebe — und wenn, dann befasse ich mich mit den Dingen, sobald sie auftreten. Nehmen wir Gedemondas. Ich muß hin. Ich muß mit den Bewohnern reden, ihnen die Situation erklären und feststellen, in welche Richtung sie neigen.«

Er nickte.

»Das ist eine Antwort, die ich akzeptieren kann. Und die Aussichten?«

Sie begriff, daß er sich selbst meinte.

»Und danach? Nun, es wäre gut, auf Brazils Seite zu sein, wenn er den Schacht erreicht, nicht? Ich möchte jedenfalls lieber auf seiner Seite sein, wenn er hineinkommt, als einer seiner Feinde.«

Er überlegte.

»Alles der Reihe nach. Gedemondas genügt fürs erste. Sie glauben, man wird mit Ihnen reden?«

»Ich denke schon«, erwiderte sie. »Jedenfalls hat man es damals getan. Und ich bin die einzige, die dabei war, bei der sie zugelassen haben, daß sie sich genau an das Geschehene, daß sie sich überhaupt an sie erinnert.«

»Hm. Würde nicht viel nützen, wenn wir da hineingingen und ich wieder herauskäme, ohne mich an irgend etwas zu erinnern, wie?«

Sie zog die Schultern hoch.

»Keine Garantien. Es wundert mich, daß sie mir jetzt glauben. Niemand sonst hat es getan.«

»Aber Ortega«, widersprach er. »Er konnte es sich nicht leisten, dem Ganzen gründlich nachzugehen. In den Behauptungen der anderen gab es gerade genug kleine Widersprüche, um Zweifel zu erregen, und davon bemerkte er bei Ihnen nichts. Er kam zu dem Schluß, daß Sie die Wahrheit sagten. Einmal bot er mir sogar Ihre Geschichte als Köder für einen Auftrag an. Er wußte, daß ich nicht widerstehen konnte.«

»Ich muß dorthin«, sagte sie entschieden. »Ich muß bald hin. Ich habe noch anderes zu tun. Aber ich kenne das Hex nicht, die Pfade nicht, habe keinen Führer oder Kredit für Vorräte und dergleichen. Ich brauche dringend Ihre Hilfe. Und ich bin Ihre beste Aussicht, die Gedemondaner kennenzulernen.«

Zu dem letzten Satz nickte er.

»Also gut, ich besorge, was Sie brauchen. Sie können uns begleiten.«

Sie seufzte. Auftrag halb ausgeführt.

»Wie viele sind Sie?«

»Fünf, wenn man Sie mitzählt. Alles Dillianer.« Er feixte übertrieben. »Bis auf Sie alles Männer. Stört Sie das?«

»Ich komme schon zurecht«, antwortete sie tonlos.

Er grinste und nickte anerkennend.

»Davon bin ich sogar überzeugt.«

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