Dahbi

Die Große Halle der Heiligen Vorfahren stand leer; nackter Stein, aus massivem Granit tief unter der Oberfläche herausgehauen, ohne Verzierung, ohne Licht, und doch ein vollkommen kubischer Raum mit einer Ausdehnung von über zweihundert Metern in jeder Richtung. Stumm und wie ein Grabmal wartete sie.

Plötzlich leuchtete eine Teilfläche an einer Wand in unheimlicher Weise auf, und in den Saal trat etwas, eine Aura. Sie leuchtete mit eigener, grausigweißer Phosphoreszenz, ein bleiches, rauchiges Ding wie ein Stück geisterhaft leichten Stoffs, in einem unsichtbaren Wind sich bauschend. Die einzigen Züge waren zwei kohlschwarze Ovale auf dem runden ›Kopf‹, die so etwas wie Augen sein mußten.

Und doch schien die Erscheinung Masse und ein Gewicht zu besitzen, denn einmal durch die scheinbar massive Felswand gedrungen, haftete sie an der Fläche, dann bewegte sie sich langsam auf dem Boden dahin, stets in Berührung mit der Wandfläche. Ein Beobachter hätte glauben mögen, sie schwebe, aber genauere Betrachtung hätte gezeigt, daß sie die Berührung brauchte, um sich bewegen zu können, und daß sie weder so geisterhaft noch so körperlos war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte.

Nun quollen andere Erscheinungen an verschiedenen Stellen aus den vier Wänden und auch durch die Decke und am Boden herauf. Alle trafen sich in der Mitte der Großen Halle. Zwölf an der Zahl, sahen sie alle gleich aus: leuchtende, weiße Formen, jeweils ungefähr zwei Meter groß, allesamt Leuten ähnlich, die sich in ein weißes Laken gekleidet hatten — runder Kopf mit zwei Augenlöchern, dann der Umriß nach unten verjüngt, an der Mitte anscheinend ein wenig ausgebeult, um sich zu einem breiten, flachen Sockel aufzufächern.

Es wurden weder Worte noch Blicke getauscht. Sie standen da und warteten, warteten auf irgend etwas — oder irgend jemanden.

Plötzlich kam aus einer der Wände noch eine Erscheinung wie sie selbst, aber doch nicht ganz wie sie. Sie erschien größer und grausiger und in irgendeiner unerklärlichen Art und Weise viel älter.

»Friede der Bruderschaft!« verkündete der Neuankömmling, als er vor den anderen stehenblieb und nun das erhob, was insektenähnliche Vorderbeine zu sein schienen, an der Spitze mit Saugnäpfen versehen, an den Beinen entlang mit nadelspitzen Dornen bestückt. Die Gliedmaßen waren, wenn sie eingeklappt wurden, unsichtbar.

Die anderen hoben langsam die ihrigen und erwiderten:»Und dir, verehrter und heiliger Führer.«

Derjenige, der so offenkundig zu bestimmen hatte, erlebte nun eine kleine Verwandlung. Der geisterhafte Kopf schob sich langsam zurück, die ›Augen‹ gingen mit und enthüllten einen Kopf und ein Gesicht, ein bösartiges, häßliches Gesicht mit glänzenden, facettenreichen Augen, die ihr eigenes Licht zu erzeugen schienen. Das Gesicht war beherrscht von einem scharfkantigen Rüssel, unter dem sich drohende Unterkiefer vorreckten.

»Ihr seid alle über die Lage unterrichtet worden?« Es war nicht wirklich eine Frage. Jeder, der nicht informiert war, hätte den Stab hinrichten lassen müssen, der den Führenden zu informieren hatte.

»Wie euch somit klar ist, habe ich uns angewiesen, mit der Mehrheit zu stimmen«, fuhr der Oberste fort. »Unsere einigermaßen beispiellosen Fähigkeiten sollten uns bei einem Kampf unschätzbar wertvoll machen. Und trotzdem bin ich unzufrieden, weil ich ungern etwas dem Schicksal überlasse. Unsere Vorfahren würden mehr von uns verlangen.«

Sie äußerten sich nicht dazu und hielten ehrfürchtig die Köpfe eingezogen. Es war zum Teil wirklich Ehrfurcht, zum Teil Respekt — und zum Teil lag es auch daran, daß sogar sie, die Zwölf, die ihr Land als absolute Theokratie beherrschten, vor Gunit Sangh ungeheure Angst hatten.

Jedermann in Dahbi konnte in die Priesterschaft eintreten; jene mit viel Verstand und Mut konnten auch in der Hierarchie hoch hinauf gelangen. Aber um die Spitze zu erreichen, den Gipfel, dazu brauchte man mehr. In einem von Ahnenkult beherrschten Land gebot hohes Alter höchsten Respekt. Und in einem Land, wo nur der Klügste, der Bedenkenloseste, der gänzlich Amoralische den Gipfel der Leiter erklimmen konnte, war der Älteste in dieser Hirarchie nicht nur der Führer, sondern auch der gemeinste Halunke, den die Rasse bislang hervorgebracht hatte.

»Hört meine Befehle«, ertönte Gunit Sanghs Stimme. »Als erstes werden wir eine Streitmacht unter dem Kommando des Oberbefehlshabers aufstellen, den der Zone-Rat ernennt. Wir werden von jeder Präfektur in gleichem Ausmaß beisteuern, was verlangt wird. Sucht eure Leute gut aus. Ich wünsche die am leichtesten Entbehrlichen, versteht sich, aber auch Leute, die Befehle befolgen, die kämpfen und — töten können.«

Die zwölf nickten gleichzeitig.

»Das genügt jedoch noch nicht«, fuhr Sangh fort. »Was, wenn die Schlacht weitab von Dahbi stattfindet? Das würde uns zu hilflosen Strohmännern machen. Man wüßte, daß wir gegen dieses Wesen Brazil kämpfen, ohne daß wir etwas dazu tun könnten, den Ausgang zu beeinflussen. Das ist unerträglich. Zilchet, hast du einen Bericht über die Neuzugänge in unserem Land?«

Einer der zwölf regte sich, und das bösartige Insektenhaupt stieg hoch.

»Das ist der Fall, Eure Heiligkeit. Wir haben bisher etwa dreihundert von ihnen aufgenommen. Ich sage ›etwa‹ nur aus dem Grund, weil fast jede Stunde ein neuer aufzutauchen scheint.«

»Und du hast die Neuankömmlinge verhört?«

»Das habe ich, Eure Heiligkeit. Unsere Psychologen stellen eine wahrhaft fremde Mentalität fest — was natürlich zu erwarten war, aber nicht ganz in diesem Ausmaß. Sie scheinen allesamt Frauen von der Kategorie 41 zu sein — von derselben wie Brazil. Sie gehören irgendeinem religiösen Kult an, der Brazil als Gott betrachtet — nicht als einen, sondern als den Gott — und alles tut, was er will. Mit anderen Worten, Fanatiker in heiligem Auftrag.«

»Sie wollen sich von Dahbi entfernen?«

Ein kurzes Nicken.

»Gewiß, Eure Heiligkeit. Sie lernen rasch, mit ihren neuen Körpern umzugehen, und übernehmen mit erstaunlicher Schnelligkeit neue Formen und Fähigkeiten.«

»Das war zu erwarten«, stellte Gunit Sangh fest. »Wer dieses Unternehmen geplant hat, kannte die Sechseck-Welt schon vorher. Die Leute sind gründlich unterwiesen worden. Sie wußten, daß sie andere Wesen mit anderen Fähigkeiten werden würden, und erhielten den Auftrag, ihre neuen Erscheinungsformen rasch zu erkunden und sich schnell anzupassen. Sie sind nicht hier als unwissende Kinder, um ein neues Leben zu führen, sie sind hier als ausgebildete Soldaten. Ihr werdet sehen, was ich damit sagen will, meine Brüder. Wir könnten hier unterliegen.«

Bei diesem Gedanken schienen sie ein wenig zu schimmern. Er war für sie so beunruhigend wie für Gunit Sangh.

»Ihr habt sie in Gewahrsam?«

Zilchet antwortete ein wenig verletzt:»Selbstverständlich, Eure Heiligkeit. Jeder, der auftaucht, wird so schnell wie möglich zu einer zentralen Aufnahmestelle gebracht, sorgfältig verhört und dann in Gewahrsam genommen, bis Eure Heiligkeit eine Entscheidung trifft.«

»Meine Entscheidung ist, sie gehen zu lassen«, erklärte der Anführer.

Das erstaunte sie. Ihre geisterhaft weißen Gestalten gerieten in heftige Wallungen.

»Sagt: Sind sie von derselben Rasse? Von derselben Welt?«

Zilchet hatte sich von dem Schlag kaum erholt.

»Ja, Eure Heiligkeit. Dieselben. Erstaunliche Gleichartigkeit, in der Tat, wenn ich das hinzufügen darf.«

»Scheinen sie einander persönlich zu kennen — wie von früher?«

»Nein, das ist nicht zu erkennen. Ich wenigstens habe keinen Hinweis darauf gefunden. Nicht, daß das nicht vorkommen könnte, aber wenn Ihr von einer Bevölkerung mit einer Milliarde oder mehr sprecht, wie wir annehmen, wäre das reiner Zufall.«

Gunit Sangh schien befriedigt zu sein.

»Und sind eure Erkenntnisse so vollständig, daß ihr zulassen könntet, sagen wir, dreihundert Neuzugänge gehen zu lassen, wohin sie wollen — worauf dort vierhundert Neuzugänge ankommen? Die ganze Zeit in enger Verbindung?«

»Vier —« Zilchet schien verwirrt zu sein und ein wenig zu zögern. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. »Ah, ich verstehe.« Er dachte darüber nach. »Jedenfalls an der Oberfläche. Ich würde vorziehen, daß sie nicht als Gruppe unterwegs wären. Eine zufällige Begegnung, ja, aber nicht ständiges Beisammensein. Nein. Es gibt zu viele winzige Details. Man könnte so leicht einen Fehler machen, ohne es zu ahnen. Aber wir könnten dreihundert schicken, und einen Tag später weitere hundert, die ihnen folgen. So viele zu präparieren, ist ausgeschlossen, aber wir könnten einige, sagen wir, sechs oder sieben echte Neuzugänge entsprechend einstellen. Sie würden die Gruppe führen und würden bei unserer eigenen Gruppe nichts Auffälliges bemerken. Das könnten wir leicht erreichen, und es sollte funktionieren.«

»Dann machen wir es so«, befahl der Führer. »Wir brauchen einige von unseren Leuten auf ihrer Seite. Wir werden natürlich auch nicht die einzigen sein. Die größte Schwäche seiner Seite ist die, daß sie nicht die wahre Natur jedes einzelnen in ihren Armeen oder ihre Verläßlichkeit kennen kann. Das muß den Leuten bekannt sein. Aber die meisten werden dabeisein als Spione und nicht mehr. Die unseren werden eine andere Aufgabe haben.«

»Und die wäre?« Zilchet war so gepackt, daß er gegen die Regel verstieß, den Führer nicht zu drängen.

Gunit Sangh warf ihm zur Mahnung einen eisigen Blick zu, ließ es aber dabei bewenden. Die Sache war viel zu wichtig, als daß der Elende jetzt dafür hingerichtet werden durfte. Aber Gunit Sangh gedachte sich den Lapsus zu merken.

»Von all den verschiedenen Neuzugängen sind nur wenige nicht von diesem Soldatentyp. Das sind natürlich seine Kommandeure. Eine ganze Reihe. Informationen vom Oberkommando, das Ortega einrichtet, verraten mir jedoch, daß mindestens eine Person darunter für Brazil mehr als ein nützliches Werkzeug bedeutet. Das ist die Frau Mavra Tschang, derzeit eine Dillianerin. Er betrachtet sie als eine Art Blutsverwandte, mit jener seltsamen Anhänglichkeit, die mindere Rassen für dergleichen aufbringen. Ich wünsche, daß unsere Leute sich dort als gute Soldaten auszeichnen, daß sie in Brazils Streitkräften kämpfen, Befehle befolgen, alles tun, was man von ihnen erwartet. Aber wenn es so auszusehen beginnt, als würde Brazil sein Ziel erreichen, wenn der Eindruck entsteht, als bliebe seine Seite siegreich, habe ich für sie eine besondere Aufgabe.«

»Heiligkeit?«

»Niemand kann Brazil direkt beeinflussen, sobald er im Inneren des Schachtes ist. Aber wenn wir diese Mavra Tschang insgeheim außerhalb des Schachtes festhalten, während ich oder einer von uns mit ihm hineingeht, ist das genauso gut.«

»Aber was, wenn er, einmal dort, sich einfach entschließt, sie zu finden und zu befreien?« fragte Zilchet zweifelnd.

»Ich bezweifle ernsthaft, ob irgendein Gehirn, selbst ein markovisches, auf der Sechseck-Welt eine Einzelperson finden könnte, ohne Ort, Bewacher oder Verfassung zu kennen. Ich glaube, Brazil könnte mühelos eine Rasse erschaffen, aber nicht ein Gehirn verändern, bis er alle Einzelheiten kennt. Auf jeden Fall stehen die Aussichten für uns auf diesem Gebiet günstig. Wir haben wahrhaftig nichts zu verlieren.«

Zilchet machte sich immer noch Gedanken, und das war an seinen Wallungen zu erkennen.

Gunit Sangh funkelte ihn grimmig an.

»Also? Was ist?«

»Ich habe mir nur überlegt, wie viele andere Rassen auf genau denselben Gedanken gekommen sein mögen«, erwiderte Zilchet.

»Vermutlich mehrere«, räumte der Führer ein. »Sie wird ein Hauptziel sein, täusche dich da nicht — und aus diesem Grund besonders geschützt werden. Wir müssen dafür sorgen, daß wir diejenigen sind, die sie in die Hand bekommen — natürlich nur, wenn die Militäraktion scheitert. Wenn es nicht dazu kommt, stellt sich die Frage nicht. Wir werden nicht scheitern. Unsere Vorfahren haben uns den wahren Weg gezeigt und werden nicht zulassen, daß wir scheitern.«

Sie neigten sich erneut zum Gebet, und obwohl sie nichts davon ahnten, machten sie selbst ein wenig den Eindruck, religiöse Fanatiker zu sein.

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