»Brazil ist gesehen worden.«
Die Mitteilung schreckte Ortega auf. Aus irgendeinem Grund hatte er nicht erwartet, daß es so leicht sein würde.
»Wo?« fragte er scharf.
»Bei der Süd-Armee. Offenbar ist er die ganze Zeit auf einem Schiff im Meer von Turagin gewesen. Er ruderte an Land und schloß sich den anderen knapp vor der Grenze von Ginzin an.«
Ortega runzelte argwöhnisch die Stirn.
»Sind Sie sicher, daß er es ist? Das sind raffinierte Halunken, mit denen wir es zu tun haben, und er ist der raffinierteste.«
»Er ist es«, versicherte ihm der Kurier. »Einige von unseren Leuten, die sich bei der Armee befinden, haben ihn gesehen und mit ihm gesprochen, und die Neuzugänge in der Gruppe führen sich auf, als hätte Gott persönlich ihnen einen Besuch abgestattet.«
Der Ulik nickte zerstreut und schaltete ab. Brazil. Sichtbar, leicht zu orten, reif fürs Pflücken, noch über dreitausend Kilometer bis zur nächsten Avenue vor sich. Irgendwie war da etwas faul. Es war zu auffällig, zu naheliegend, zu sehr ein dummer Fehler in einem Unternehmen, das bisher glänzend geplant und ausgeführt worden war. Es war, als sei, während für ihn alles nach Wunsch lief, Brazil plötzlich herausgeschossen und hätte gerufen:»Hier bin ich! Kommt und holt mich!«
Und verwundbar war er. Mit Ausnahme des Todes war er gegen nichts von dem immun, was auch allen anderen zustoßen konnte. Er durchlitt Schmerz und Qual und war von Hypnogeräten bis zu Zauberei allem ausgesetzt.
Ortega tastete einen Kommunikations-Code ein.
»Oberkommando«, meldete sich eine übersetzte Stimme.
»Hier Ortega. Was hat Kommandeur Sangh vor, nachdem die Mitteilung über Brazil eingegangen ist?«
Der Nachrichtenoffizier zögerte.
»Sir, ich glaube, das können wir im Augenblick nicht bekanntgeben. Nicht einmal Ihnen, Sir.«
»Ich komme hin«, knurrte Ortega. »Hier ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung, und ich möchte mich vergewissern, daß keine Fehler gemacht werden.« Er schaltete zornig ab und glitt hinter seinem großen, U-förmigen Schreibtisch hervor zur Tür.
In den Korridoren ging es immer noch wild zu; die Neuzugänge schienen kein Ende zu nehmen, und er wußte, daß er sie nicht mehr lange schützen konnte. Wenn Brazil gefangen wurde, oder selbst wenn sie glaubten, ihn zu haben, würden rund um die Welt plötzlich viele Hemmungen abgebaut werden.
Das Oberkommando befand sich in der czillanischen Botschaft, einfach deshalb, weil Czill die besten und modernsten Computer und Archive besaß und leichten Zugang bot. Die Maschinen in der Botschaft waren verträglich mit denen in Czill, und Informationen konnten rasch ausgetauscht werden, indem die Czillaner die Speichermodule zwischen Heimathex und Botschaft hin- und herbeförderten.
Es herrschte Andrang von vielen Rassen, die im fraglichen Gebiet Streitkräfte stehen hatten. Jemand von Ortegas Umfang mußte aufpassen, sonst konnte er durch irgendein dorniges, giftiges oder anderweitig tödliches Wesen durch Zufall verletzt werden, das nur versuchte, sich den Weg freizumachen.
Er entdeckte Sadir Bakh, den stellvertretenden Dahbi-Kommandeur, Gunit Sanghs Mann in Zone. Ortega mochte die Dahbi nicht besonders, obwohl er im Rahmen der Befehlsstruktur auf rassischer Grundlage hier nur mit einer Handvoll von ihnen zu tun hatte. Hätte Mrabzil die andere Richtung eingeschlagen, dann wäre nicht Sangh der Oberbefehlshaber gewesen, aber Dahbi hätte sich auf dem Marschweg befunden.
»Bakh! Was will der Befehlshaber unternehmen? Wo ist er überhaupt, verdammt?«
Der zusammengeklappte Dahbi drehte sich um, einem Gespenst ähnlicher denn je, und seufzte.
»Ihre Heiligkeit ist mit dem Cebu-Kommandeur nach Cebu geflogen, als sich die Lage in Ambreza geklärt hatte«, sagte er kühl. »Dort befindet er sich jetzt. Wir haben ein gemischtes Heer von ungefähr fünfundzwanzigtausend Mann in Bereitschaft, und weitere Zwölftausend Mann werden zur Zeit von Conforte über Laibir nach Suffok transportiert. Das sollte genügen, um diesen Weg und die Ellerbanta-Verion-Avenue anzuschneiden. Der Feind ist zur Zeit in drei Armeegruppen gespalten. Der awbrische Teil besteht aus etwa sechstausend Einheimischen und zweitausend anderen. Parmiter bleibt offiziell neutral, aber wir glauben, daß das zum großen Teil vom Feind erkauft ist und Parmiter die technologischen Waffen liefern soll, die das awbrische Heer braucht.«
»Warum bombardiert er die verdammten Fabriken von Cebu aus nicht?« knurrte Ortega.
»Wie der Botschafter sicher weiß, ist Parmiter offiziell auf unserer Seite. Verwandeln wir auf den bloßen Verdacht hin, daß einige Parmiter uns schaden — Sie wissen, daß das ziemlich anarchistische Leute sind —, mutmaßliche Kollaboration in aktive Gegnerschaft?«
Ortega nickte düster. Verdammt, die Karten waren wirklich ungünstig verteilt.
»Ihr zwingt sie also in Richtung Yaxa-Harbigor-Avenue«, stellte er fest, während er auf die Lagekarte blickte.
»Alle von uns, alle bewaffnet, alle bereit und gut ausgerüstet. Wir glauben, daß sie am Meer der Stürme entlang nach Norden gehen werden, um die Hochtech-Hexes möglichst zu meiden. Sobald sie nördlich von Boidol sind, bilden wir eine dichte Mauer, während sie sich in feindlichen Hexagons befinden und die See überall im Rücken haben. Das wird die Süd- und Ost-Armee praktisch von der in Awbri spalten. Die letztgenannte wird auf breiter Front durch stark verteidigte Grenzstellungen durchbrechen müssen, um die Verbindung herzustellen. Inzwischen werden unsere eigenen Streitkräfte aus dem Gebiet Ellerbanta-Verion vorrücken können, um sie abzufangen, und damit ist der Fall erledigt.«
Er studierte die Karte und kam zu dem Schluß, daß es sich um einen guten, vernünftigen, überlegten Plan handelte, der auf den neuesten Erkenntnissen beruhte — und er schien völlig narrensicher zu sein. Das machte ihm Sorgen. Die andere Seite las auch Karten und verfügte über Erkenntnisse, so daß ihr das alles auch bekannt sein mußte. Je mehr er sich damit befaßte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm, daß er irgend etwas übersah; er wußte nicht genau, was. Etwas, das nicht hineinpaßte. Etwas, das den Rahmen sprengte.
Er wandte sich an den Chef des Nachrichtendienstes, der an einer Computerkonsole saß.
»Haben Sie abseits der Fronten irgend etwas, das vom Üblichen abweicht?« fragte er beunruhigt. »Irgendwelche Berichte über seltsame Vorkommnisse oder Vorstöße?«
»Nicht viel«, erwiderte der Offizier. »Wir haben das Schiff aufgespürt, das Brazil in Turagin benützte. Es gehörte ihm — jedenfalls wurde es zu einem sehr hohen Preis erworben, ungefähr für das Neunfache des Üblichen. Mindestens zwei Wochen vor seinem Eintreffen gekauft und bemannt mit einer netten Besatzung aus Freibeutern und Halsabschneidern vieler Rassen.«
Ortega dachte darüber nach.
»Wo, zum Teufel, nehmen sie nur das viele Geld her?« überlegte er laut, übrigens nicht zum erstenmal. Es gab auf der Sechseck-Welt keine gemeinsame Währung — in vielen Hexagons wurde Geld überhaupt nicht verwendet —, und zumeist fand Tauschhandel in großem Stil statt.
Der Offizier zuckte mit den Schultern.
»Gold, Diamanten, was Sie wollen — sie haben alles. Sogar Handelsgüter, Lebensmittel, Fabrikwaren. Wir können das nicht alles verfolgen, aber eines will ich Ihnen sagen: Was sie auch brauchen, sie erbitten es, und bezahlt wird, was man fordert.«
»Ich möchte eine Zusammenfassung der Erkenntnisse für die vergangenen zwei Wochen«, sagte Ortega. »Irgendwo sitzt hier ein Haken, wo, weiß ich nicht. Irgendwo lacht mich jemand aus, und das behagt mir nicht.«