Über dem Borgo-Paß

Ortega hatte eine größere Truppe dabei, und als sie ihn begleiteten, wurde ihr Umfang deutlicher. Die Soldaten waren gut bewaffnet und mit allem Gerät ausgestattet. Offenbar grub man sich ein.

»Ich muß schon sagen, es fällt verdammt schwer, Sie sich als Pegasus vorzustellen«, sagte der Ulik im Spaß. »Und noch dazu ein pinkfarbener! Du meine Güte!«

Brazil schnaubte lediglich, weil der Gedemondaner als Sprechleitung nur wirkte, wenn sie stillstanden. Er und Mavra konnten nur innerlich wüten und alles hinnehmen; die letzte Hoffnung war zerstoben.

»Der Borgo-Paß«, sagte Ortega. »Die engste Stelle in der ganzen Schlucht, kaum zehn Meter breit und auf beiden Seiten schön befestigt. Wie Sie von oben sehen konnten, muß jeder, der den Äquator erreichen will, die Avenue heraufkommen — und an dieser Stelle vorbei.«

Um den zum großen Teil verdeckten Paß herrschte rege Geschäftigkeit; sie sahen einen fahrbaren Kran, der eine Geschützbefestigung in die Nebel- und Wolkenschicht hinunterließ, überwacht von einer Anzahl kleiner, fliegender Wesen.

»Es interessiert Sie vielleicht, zu erfahren, wie ich euch auf die Schliche gekommen bin«, fuhr der Ulik fort und grinste breit. »Um ganz ehrlich zu sein, ich brauchte geraume Zeit dazu, und genau wußte ich erst vor einigen Tagen Bescheid, aber die groben Umrisse waren mir schon vorher klar. Es stand von Anfang an fest, wie es laufen mußte, jedenfalls nachdem ich erkannt hatte, wie ihr unseren Fallen in Zone entwischt seid. Es war klar, daß ihr ganz auf Irreführung ausgewesen seid. Immerhin konnte nichts daran vorbeiführen, daß ihr früher oder später zu einer der Avenuen kommen mußtet, und sofort, als die Hakazit den Isthmus hinaufzogen, wußte ich aus ihrer Marschrichtung und jener der Dillianer, daß ihr in dieses Gebiet kommen mußtet. Obwohl Ihr Double auf dem Schiff mich eine Weile aus der Ruhe brachte, wie ich zugebe, kamen für mich Wasser-Sechsecke als zu riskant einfach nicht in Frage. Damit blieben Yaxa-Harbigor oder Ellerbanta-Verion. Ihr hattet nun für beide eine Armee, wie der Rat auch, und für beide ein Double, was uns wahnsinnig machte. Also, welche Avenue?« Er legte eine Pause ein und genoß seinen Augenblick des Triumphes. »Ich schied Yaxa-Harbigor aus, nicht nur, weil die Bewohner dort überall schreckenerregend, bei sich zu Hause einfach unüberwindbar sind, sondern auch, weil dann Gunit Sanghs Armee, die weitaus stärkere von den beiden, dazwischengestanden hätte«, fuhr er fort. »Aber ein Blick auf die Karte zeigte, daß, wenn ihr nach Westen zieht und die andere Armee, die Awbrier, nach Norden vorstößt, eine gewaltige Doppel-Armee gegen eine kleinere und weniger gut ausgerüstete Streitmacht des Rates vorrücken würde. Also kam nur Ellerbanta in Frage, weil Verion ungastlich, widerlich, fremd und vermutlich tödlich ist. Ich bin nicht sicher, ob man mit diesen aufgeladenen Glühwürmern überhaupt vernünftig reden kann. Nur ein Glück, daß sie abergläubisch sind, sonst könnten wir nicht beide Seiten im Paß halten.«

Brazil blieb stehen und machte zu dem Gedemondaner eine Kopfbewegung. Der begriff und stellte die Verbindung her.

»Na gut, Serge, aber wie sind Sie hergekommen?« fragte er.

Ortega lachte in sich hinein.

»Alles zu seiner Zeit, mein Junge, alles zu seiner Zeit. Gunit Sangh und seine Leute wollten natürlich auf vieles, was ich sagte, nicht hören und mußten für ihre Fehler bezahlen. Sie wurden immer wieder ausmanövriert. Nun, als ich einmal wußte, wohin Sie unterwegs sein mußten, beschloß ich, das Ganze selbst in die Hand zu nehmen. Ihr seltsamer Freund Zigeuner hatte mir erklärt, daß ich Zone verlassen könnte, ohne zu Staub zu zerfallen, und ich hatte es schließlich bis hierher satt, in meinem kleinen Privatgefängnis zu sitzen, während alle anderen sich amüsierten. Ich hätte natürlich Leute hierherschicken können, konnte mir das Vergnügen aber einfach nicht verkneifen. Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet hat, Nate, aus dem stinkenden Loch fortzukommen, Sterne zu sehen, reine Luft zu atmen, Wind und Hitze und Kälte und Regen zu spüren… Es ist beinahe wie Wiedergeburt. Ich bin vielleicht weit und breit der einzige, der sich mit Ihnen identifizieren kann, Nate. Mein kleines Gefängnis ist in Wirklichkeit nicht viel anders als das Gefängnis, in dem Sie alle die Jahrtausende verbracht haben. Wir saßen beide in unseren eigenen Fallen fest.«

»Aber wie sind Sie hergekommen?« fragte Brazil noch einmal. »Ich meine, Ulik liegt doch fast auf der anderen Seite der Welt, auch wenn es am Äquator ist, und fliegen können Sie mit Ihrer Masse nicht.«

Ortega lachte.

»O doch, das kann ich, Nate, obwohl es mich beinahe das Leben gekostet hätte, weil ich außer Übung war. Ich zeige Ihnen bei Gelegenheit einen.«

»Einen was?«

»Einen Trublak«, gab der Ulik zurück. »Ein weicher Riesenwurm mit sechs Paar großen, festen, durchsichtigen Flügeln. Sieht schrecklich aus, ist aber harmlos. Für die Ulik sind sie ungefähr das, was für unsere Vorfahren die Pferde waren — Transportmittel, Muskelkraft, was Sie wollen. Sie sind nicht sehr aufgeweckt, aber leicht zu zähmen. Man hat Zügel, man sitzt auf einem sattelartigen Ding, und man benützt den eigenen Schwanz mit zum Steuern. Wir brauchten ungefähr fünf Tage, um herzukommen, aber wir wußten, wohin Sie unterwegs waren, bevor wir uns auf den Weg machten, obwohl Sie noch nicht aufgebrochen waren. Und wie es auch sonst stehen mochte, ein Blick auf die Reliefkarten zeigte mir, daß Sie durch den Borgo-Paß kommen müßten. Das ging einfach nicht anders.«

»Aber woher, zum Teufel, wußten Sie, was oder wer wir waren?« fragte Brazil. »Wir sind ziemlich gut getarnt, werden Sie zugeben.«

Ortega zog die Schultern hoch.

»Das letztemal, als wir uns begegneten, waren Sie im Körper eines Hirsches, wenn Sie sich erinnern. Ich wußte, daß so etwas möglich war, und daß Sie das wußten. Als wir gestern erfuhren, daß man Ihren im Koma liegenden Körper auf dem Schlachtfeld gefunden hatte, erriet ich ziemlich genau, was geschehen war — und wartete hier. Es mußte ein sehr schnelles Lauftier sein oder ein fliegendes, und ich tippte auf das letztere, weil Sie es eilig hatten. Was für ein großes fliegendes Tier befand sich auf dem Kontinent und in der Nähe der Stelle, wo Ihre Armeen vorbeigekommen waren? Es ist einfach, wenn man alles für möglich hält.«

Brazil blickte ein wenig verwirrt auf die wilde Geschäftigkeit.

»Was soll das alles noch, Serge?« fragte er. »Sie haben gewonnen. Das sieht aber eher danach aus, als verschanzten Sie sich, statt abzuziehen.«

Serge Ortega lachte wieder in sich hinein, dann rief er:»Gut, Jungs! Kommt rauf!«

Hinter dem fahrbaren Kran tauchten zwei Gestalten auf. Zwei sehr vertraute Gestalten.

Ein Hakazit, riesenhaft und eindrucksvoll, und ein Mann, der breit grinste.

»Hallo, Brazil«, rief Zigeuner, »Wir waren schon neugierig, ob wir vor Ihnen da sein würden oder nicht!«

»Wir haben es offenbar ganz genau erwischt«, stellte Marquoz befriedigt fest. »Ein letztes Zusammentreffen, bevor die Sache abgeschlossen wird.« Er wandte sich an Brazil. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich beim Abschluß dabeisein will.«

Der Schock, die beiden zu sehen, war so groß, daß Brazil kurze Zeit sprachlos war. Als er sich ein wenig gefaßt hatte, stieß er hervor:»Was, zum Teufel, wird denn hier gespielt?«

Ortega grinste.

»Ich bin aus dem Rat ausgeschieden, Nate. Ich muß ja zugeben, bis zum letzten Augenblick wußte ich selbst nicht, wie ich mich entscheiden würde, wußte nicht einmal, ob ich den Nerv hatte, da jemals wegzugehen, aber als es drauf ankam, blieb mir eigentlich nichts anderes übrig. Ich konnte Sie nicht in dasselbe Gefängnis schicken, das ich so haßte. Nicht ich — vielleicht jeder andere, nur ich nicht. Ich konnte das keinem antun, schon gar nicht einem alten Kumpel wie Ihnen. Ich hatte alles getan, um dem Rat die Treue zu halten; ich hatte alle Hinweise gegeben, ihn hierhin und dorthin gedrängt und sogar viele von den Neuzugängen vor dem Tod retten können. Ich machte mir da keine Sorgen mehr, nachdem eine Gruppe von den Kerlen beschloß, gar nicht auf mich zu achten, und einen Trupp von fünfzig Mann hinschickte, um die Neuzugänge im Schacht-Tor töten zu lassen. Wissen Sie, was passierte? Ihre Amazonen wurden bei den ersten Pfeilsalven so wütend, daß sie auf die Angreifer losstürzten und sie buchstäblich zerrissen. Die wissen sich schon zu helfen. Und da Hochtech-Waffen in Zone nicht funktionieren, tja, da gibt es eben niemanden mehr, der die Nerven hätte, es noch einmal zu versuchen.«

Zigeuner sah ihn lächelnd an.

»Und persönliche Beweggründe hatten natürlich überhaupt nichts damit zu tun, Heiliger Serge.«

Ortega machte ein betretenes Gesicht.

»Na ja, das auch, ganz nebenbei. Ich hatte diesen Dreckskerl Sangh seit fünfzig Jahren bekämpft, und er setzt diesmal alles auf eine Karte. Wenn er verliert, dann ist es aus mit ihm. Er ist die größte Bedrohung für die Stabilität dieser Welt, die es je gegeben hat, und er muß weg. Andere Dahbi sind gar nicht so übel. Unheimlich, mag sein, aber das sind andere auch. Aber böse von Grund auf? Das gilt eigentlich nur für Sangh. Und er ging immer davon aus, er könnte alles, wenn er allein zu bestimmen hätte. Nun, er hatte zu bestimmen und hat versagt. Wenn Sie den Schacht erreichen, hat er völlig versagt. Er wird nicht nur keine Bedrohung mehr sein, sondern auch sein Gesicht beim eigenen Volk verlieren, vielleicht sogar seine Stellung. Keiner schließt sich einem Verlierer an, und es wird hinterher allerhand Bitterkeit geben. Das hat der Krieg der Sechseck-Welt gezeigt — die Leute wollen nicht, daß ihre Söhne und Töchter, Freunde und Nachbarn irgendeiner Sache geopfert werden, aber wenn sie für eine Sache sterben, die unterliegt, dann machen manche einfach nicht mehr mit.«

»Sie haben also die Seiten gewechselt«, sagte Brazil seufzend.

Ortegas buschige Brauen stiegen hoch.

»Aber Nate! Ich muß mich über Sie wundern! Sie wissen ganz genau, daß es für mich nie eine andere Seite gegeben hat als die meine. Ach was, ich habe bei dem Zirkus hier meinen Kuchen gegessen und gleichzeitig behalten. Ich habe Sie ausgerechnet, bin Ihnen über gewesen und habe Sie in der Falle, und jetzt kann ich mich umdrehen und es denen zeigen, mit denen ich schon lange alte Rechnungen zu begleichen habe. Es ist Zeit, es den anderen heimzuzahlen, Nate, ich sterbe jetzt, und Sie und ich, wir wissen es. Daß ich in Frieden und Abgeschiedenheit sterbe, ist für mich nicht möglich.«

Mavra ließ sich von dem Gedemondaner mit in das Gespräch aufnehmen.

»Zigeuner, jetzt spricht Mavra«, begann sie, gezwungen, ihm das zu erklären, weil der Gedemondaner für sie alle sprechen mußte. »Was geschah — nachdem wir fort waren? Wie ist Marquoz hierhergekommen?«

»Darauf gebe ich selbst Antwort«, erklärte der Hakazit den anderen. »Es war so, daß wir eigentlich zu rasch aufbrechen mußten und Sanghs Armee schon unterwegs war. Sie holte uns in Mixtim ein, und es gab eine blutige Auseinandersetzung. Strenggenommen ging sie unentschieden aus — wir könnten uns vielleicht sogar als Sieger bezeichnen, weil sie viel höhere Verluste hatten als wir. Aber strategisch gesehen, gelang es ihnen, unsere Truppen zu spalten und durchzustoßen. Wir konnten uns auf die Dauer nicht halten, und die Awbrier wurden südwestlich von uns aufgehalten, ein bißchen zu weit weg, um uns zu helfen. Gunit Sangh ließ sich von Ihrem Körper nicht wirklich täuschen, Brazil, sowenig wie Ortega. Den behält er vielleicht in Reserve, um einen moralistischen Sieg zu behaupten, aber das ist schon alles. Er weiß nicht, daß Sie die Erscheinungsform gewechselt haben, aber daß Sie zur Avenue unterwegs sind, war ihm klar, und was mit Mavra hier geschehen ist, brachte ihn völlig aus der Fassung. Er nahm seine schnellsten, vielseitigsten und übelsten Zweitausend und stieß durch die Lücke vor, direkt hierher. Wir konnten ihn nicht aufhalten; das verhinderte der Rest seiner Armee. Seine Truppe befindet sich jetzt auf der Avenue, und morgen früh, wenn es hell wird, wird er diese Schlucht da heraufkommen.«

Sie drehten sich alle um und blickten in die angegebene Richtung, obwohl es da nicht viel zu sehen gab. Schließlich fragte Mavra:»Er ist durchgestoßen, sagten Sie, Marquoz. Was ist mit Asam?«

Der Hakazit schwieg kurze Zeit.

»Er ist tot, Mavra«, sagte er tonlos. »Er ist aber so gestorben, wie er es sich gewünscht haben mag. Mitten in der Schlacht, als Sanghs Truppen vorstießen und unsere vorderste Abwehr überrannten, verließ er seine Befehlsstelle mit zwei Maschinenpistolen, in jeder Hand eine, um die Soldaten zum Gegenstoß anzuführen. Es gelang ihm auch beinahe. Was für ein Anblick! Galoppierend, fluchend, brüllend, während er mit beiden Waffen gleichzeitig feuerte. Seine Leute gingen mit, und das Blutbad, das sie anrichteten, war fürchterlich. Sangh hatte aber bessere Stabsoffiziere als wir, und an der Durchbruchstelle waren einfach zu viele Soldaten. Asam forderte ihnen einen hohen Preis ab, das muß ich sagen. Sie lagen auf allen Seiten von ihm zuhauf, niedergemäht wie Korn, aber gleichgültig, wie viele er zusammenschoß, es kamen immer mehr. Und als seine Waffen leer waren und er schon viele Wunden davongetragen hatte, riß er sein altes Schwert heraus und griff damit an, ein prachtvoller Wahnsinniger. Es hat auf dieser kleinen Welt so etwas noch nicht gegeben. Die Dillianer werden ihn für immer zum Märtyrer und zu einer Legende machen, und selbst seine Feinde werden Loblieder auf ihn singen.«

Sie sagte nichts, hatte aber Tränen in den Augen. Sie konnte nur hoffen, daß das wirklich der Wahrheit entsprach, daß es nicht ausgeschmückt worden war, ihr zuliebe. Aber es war ganz das, was von Asam zu erwarten gewesen war.

»Nach der Schlacht traf ich mich mit Zigeuner, der die Gestalt gewechselt hatte, um nicht gefangengenommen zu werden«, fuhr Marquoz fort, »und wir versuchten Brazils alten Körper als letztes Ablenkungsmittel zu gebrauchen. Es sah beinahe so aus, als wollte es klappen — sie jubelten und feierten, und der Kampf hörte praktisch auf. Der Verband, der durchgestoßen war, kehrte aber nicht um; wir kamen zu dem Schluß, daß Sangh sich nicht völlig hatte überzeugen lassen. Wir hatten ihn vorher schon zu oft hereingelegt. Diesmal geht er auf Nummer Sicher. Er zieht die ganze Avenue herauf.«

»Ich beschloß, vorauszugehen und zu sehen, ob ich Sie finden könnte«, fügte Zigeuner hinzu. »Es dauerte nicht lange, bis ich auf Ortegas Leute stieß, die sich hier einrichten, und ich nahm mir vor, festzustellen, was eigentlich gespielt wurde. Als ich erfuhr, daß er nicht hier war, um Sie einzufangen, und daß man Sie nicht gesehen hätte, kehrte ich zu Marquoz zurück, und mit Hilfe eines der Trublak, die er hatte, gelang es, ihn herzuschaffen, damit er sich mit der Situation befaßte.«

»Das war ein Risiko«, erklärte Brazil. »Sie konnten nicht sicher sein, was Serge im Schild führte. Von ihm weiß man, daß ihm alles zuzutrauen ist.«

Marquoz zuckte nur mit den Schultern.

»Es spielte eigentlich keine große Rolle mehr. Das Spiel ging hier oben zu Ende, nicht weit dahinten. Ich hatte getan, was ich konnte. Und wenn sich jemand etwas einfallen lassen sollte, mochten Zigeuner und ich dagegen vielleicht etwas tun können. Es hat jedenfalls geklappt.«

»Ja, es hat geklappt — auf irgendeine Weise«, bestätigte Brazil. »So scheint es immer zu sein. Das gehört zum System. Die Wahrscheinlichkeit, so gering sie auch erscheinen mag, kommt mir immer dann zugute, wenn mein Überleben auf dem Spiel steht.« Er schwieg einen Augenblick. »Serge, wie viele Leute haben Sie hier?« fragte er dann. »Ich meine, insgesamt, von uns abgesehen.«

»Vierundsechzig«, erwiderte der Ulik. »Wir mußten schnell und mit wenig Gepäck unterwegs sein, und ich zog alte Schuldscheine ein. Das sind alles gute Leute, Nate, und die Position ist einmalig gut.«

»Vierundsechzig«, wiederholte Brazil. »Gegen Gunit Sanghs kampferprobte Zweitausend.«

Ortega grinste.

»Hebt sich ungefähr auf. Ich glaube zwar nicht, daß wir uns ewig halten können, aber das müssen wir auch gar nicht. Zuerst schaffen wir Sie mit dem Kran hinunter auf den Boden, geben euch etwas zu essen, und dann sehen Sie zu, daß Sie verschwinden. Wir haben heute früh die ganze Avenue in beiden Richtungen abgesucht — es wird keine unangenehmen Überraschungen geben. Die haben wir für Sie weggeräumt.« Seine Miene wurde ernst. »Ich hatte sechsundsiebzig Leute, als ich anfing. Es wäre noch schlimmer gewesen, wenn nicht dieses Hochtech-Hex an die Avenue angrenzen würde. Seht zu, daß ihr da hinunterkommt. Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren.«

Nathan Brazil sah zu dem mächtigen Ulik auf und verfluchte seine Unfähigkeit, in diesem Tierkörper auszudrücken, was er empfand. Es war seltsam; noch vor einigen Minuten hätte er geschworen, daß solche Gefühle schon vor Tausenden von Jahren in ihm erstorben waren. Schließlich sagte er:»Sie könnten mit uns kommen, Serge, wissen Sie.«

»Das hatte ich mir überlegt«, gab Ortega zurück. »Sehr gründlich sogar. Aber jetzt, wo ich hier stehe, möchte ich das nicht um alles in der Welt verpassen.« Er blickte in Brazils große Tieraugen. »Ich glaube, Sie verstehen. Gerade Sie sollten es verstehen.«

»Ja«, sagte Brazil nach einer langen Pause seufzend. »Ich glaube, ich verstehe es.« Er blickte zum Kran hinüber. »Also, machen wir weiter.«

Serge Ortega nickte.

»Adieu, Nate. Es hat trotz allem Spaß gemacht, nicht?«

»Das ist wahr«, sagte Brazil ein bißchen wehmütig. »Das ist wahr. Adieu, alter Freund. Macht es ihnen schwer.«

Ortega grinste.

»Hab’ ich das nicht immer getan?«


* * *

Hohe, steile Klippen ragten auf beiden Seiten der Avenue empor, wo sie aus dem sumpfigen Tiefland zur Äquatorbarriere gelangte. Der Wind pfiff durch den Paß und erzeugte ein unheimliches ab- und anschwellendes Heulen, das auch die Untertöne einer anbrandenden See mitführte, obwohl es in der Nähe kein Meer gab. Die Avenue befand sich hier auf zwei Ebenen, ein ziemlich tiefer Mittelstreifen, gefüllt mit kristallblauem Wasser, wo die Sommerschmelze abfloß, was den Quilst-Sumpf weit im Süden hervorrief; das Ufer auf beiden Seiten war breit und glatt, wenn auch verwittert und mit einer dünnen Schicht Schlick und vereinzelten Felsbrocken von Erdrutschen bedeckt.

Das Tal war zwanzig bis fünfzig Kilometer hier am Borgo-Paß breit. Große Geröll- und Schlammlawinen hatten letzteren im Lauf der Zeit so verengt, daß es auf der Ellerbanta-Seite praktisch nur eine Lücke von zwei bis drei Metern gab, auf der von Verion noch weniger. Die Schluchtwände waren aber nicht glatt, am wenigsten hier am Paß; Felsvorsprünge ungefähr alle zehn Meter auf beiden Seiten der Verengung boten idealen Platz für Stellungen und Vorposten.

Serge Ortega betrachtete den Schauplatz fast von Bodenhöhe aus mit einiger Befriedigung. Es verlief alles sehr gut; als die Dunkelheit hereinbrach, blieb nur noch wenig zu tun.

Marquoz kam zu ihm heran und schaute sich bewundernd um.

»Verdammt gut organisiert«, sagte er. »Bin beeindruckt.«

Ortega drehte sich um und lächelte schief.

»Ich bin immer so«, sagte er. »Jetzt erst recht, auf dem Höhepunkt meines Lebens, dem ganzen Anschein nach.« Er ließ sich auf seinen Schlangenleib zurücksinken und lächelte breit, während er vor sich hin starrte und Dinge ins Auge faßte, die nur er sehen konnte. »Überlegen Sie, was ich für ein Leben geführt habe«, meinte er nachdenklich. »Es war ein sehr erfülltes, ein wichtiges, glaube ich. Rebell, Freibeuter, Schmuggler, Glücksritter, Sternpilot — nehmen Sie, was Sie wollen, ich habe es gemacht oder bin es gewesen. Dann kam ich hierher, wo ich sehr rasch Politiker wurde, dann Botschafter, Staatsmann und, äh, Welt-Koordinator. Ich liebte Tausende von Frauen, ich trank, ich kämpfte, ich hatte fast bei allem einen Mordsspaß. Und jetzt bin ich müde und gelangweilt. Das einzige, was ich noch nicht gemacht habe, ist Sterben.«

»Sie haben sich einen ganz besonderen Abgang verschafft«, stellte der Hakazit gutmütig fest.

»Ha! Glauben Sie, ich könnte ein Leben wie das meine beenden, indem ich in irgendeinem Altenheim verfaule? Ein schöner, friedlicher Tod, umsorgt von Schwestern, die mich stützen, damit ich die Sterne sehen kann? Quatsch! Nein, Sir! Niemals! Wenn ich abgehe, dann wie Asam. Man wird Generationen lang Lieder über mich singen. Die Dichter werden die Geschichten am Lagerfeuer erzählen, und meine Feinde und ihre Kinder und Kindeskinder werden ihre Gläser im Andenken auf mich erheben.«

»Und mit dem Hinweis auf Sie werden Hunderte von Rassen ihre Kinder erschrecken, damit sie brav sind«, sagte Marquoz belustigt. »Ach was, Sie sind so lange dagewesen, daß keiner Ihren Tod glauben wird, wenn man Ihre Leiche liegen sieht.«

Ortega überlegte.

»Das wäre der Gipfel, was, Marquoz? Ich möchte, daß Sie das weitergeben. Wenn ich dahin bin, soll mein Körper verbrannt werden, so daß ihn niemand mehr erkennen kann, daß man nicht einmal mehr festzustellen vermag, was für eine Art von Wesen ich war. Von mir soll nichts übrigbleiben. Das wird die Kerle zwei Generationen lang zu Tode erschrecken.«

Der Hakazit lachte.

»Wird geschehen«, versicherte er. Er blickte in den dunklen Paß. »Wie bald werden wir Gesellschaft bekommen, glauben Sie?«

»Vorausgeschickte Späher und Streifen können jeden Augenblick auftauchen«, erklärte Ortega. »Aber vor dem Morgengrauen werden die Truppen selbst nicht zur Stelle sein. Nachts käme bei den Hitzestrahlen-Generatoren da oben keine Fliege durch den Paß. Klippenwände und Erdrutsche kommen uns auch zugute. Sie können auf nichts richtig zielen, ohne sich zu zeigen.«

»Wenn ich das wäre, würde ich jetzt erscheinen«, gab Marquoz zurück. »Ein kleiner Verband, leicht ausgerüstet, erfahren und lautlos, mit vielen Nachtwesen, die anderen mit Infrarotvisieren und computergesteuerten Laserwaffen ausgerüstet. Ich würde das zwischen Mitternacht und Morgengrauen machen, die Leute in Position bringen, die Abwehrstellungen der Reihe nach ausschalten, möglichst unauffällig, versteht sich. Dann würde ich bei Tagesanbruch mit allem angreifen, was ich habe.«

»Diese Möglichkeit habe ich schon in Betracht gezogen«, erwiderte der Ulik. »Wenn sich etwas rühren sollte, können wir auf fünfzig Meter vor uns radargesteuerte Scheinwerfer einsetzen. Manche von meinen Leuten sehen im Dunkeln auch sehr gut, und sie halten vorne Wache. Wir haben unsere Stellungen auch miteinander verbunden. Alle zehn Minuten wird von jeder Stellung an die benachbarte ein stets leicht abgewandelter Code gegeben. Wenn kein Signal kommt, leuchten wir die Stelle an und sehen nach. Es gibt außerdem Anruf- und Antwort-Parolen von einer Stelle zur anderen. Gunit Sangh wird das wohl unterstellen, also trotzdem einen Versuch unternehmen, nicht, weil er sich etwas ausrechnet, sondern, um unsere Bereitschaft zu prüfen und uns bis Tagesanbruch wachzuhalten, damit er seine ausgeruhten Truppen vorschicken kann.«

Marquoz, der selbst ein halbes Nachtwesen war, starrte wieder in den Paß hinein.

»Ist aber schon viel verlangt, Leute da hineinmarschieren zu lassen. Wenn es irgendeinen anderen Weg gibt, wird er ihn gehen.«

Ortega lachte leise.

»Was bedeuten ihm Truppen? Er kennt sich auch sehr gut aus. Zweitausend gegen Sechsundsechzig Mann, Sie und den Agitar mitgerechnet.«

»Ich weiß, ich weiß. Das Gelände gleicht manches aus, aber doch nicht alles. Nicht ein Verhältnis von dreißig zu eins. Nicht, wenn man mobile Hochtech-Waffen besitzt, getragen von Wesen, die an senkrechten Felswänden hinaufklettern können, und anderen, die vielleicht durch das tiefe Wasser da in der Mitte heraufschwimmen.«

Ortega hob die Schultern.

»Die Hochtech-Lage begünstigt uns«, erklärte er unbeirrt. »Sie haben nur das, was sie mitbrachten und durch die Lücke zwängen konnten. Zum Beispiel keine gepanzerten Fahrzeuge, die wirklich gefährlich werden können. Keine Flieger, nicht bei dieser Enge. Ein direkter Frontalangriff durch diese Lücke da, das ist noch das beste für ihn. Er kann nicht einmal hinüber oder außen herum, wie Nate festgestellt hat.«

»Aber dreißig zu eins…«, erklärte Marquoz kopfschüttelnd.

»Dafür gibt es in der Geschichte meines Volkes einige Beispiele«, gab Ortega zurück. »In der Geschichte meiner Art — und auch der von Mavra und Nate, glaube ich. Nicht die schlappen, roboterhaften Idioten der Kom-Welten, die Sie gekannt haben. Nein, diejenigen, die mit Feuersteinen in Höhlen anfingen und ein interstellares Reich aufbauten, bevor es mit ihnen zu Ende ging. Die Geschichtsbücher waren voll davon, auch wenn man das heute vermutlich nicht mehr lehrt. Sechshundert, so hieß es, hätten einen Paß, der breiter war als dieser hier, tagelang gegen eine Armee von mehr als fünftausend Mann gehalten. Eine andere Gruppe hielt eine Festung mit weniger als zweihundert Leuten gegen eine gutausgebildete Armee von Tausenden mehr als zehn Tage lang. Wir brauchen nur zwei. Es gibt viele solche Geschichten; unsere Bücher waren voll davon. Ich nehme an, die Geschichte jeder Rasse, die stark genug war, auf einer feindseligen Welt eine Zivilisation aufzubauen, kennt sie.«

Marquoz nickte.

»Es gibt ein paar solche Beispiele in der Geschichte der Chugach«, gab er zu. »Aber sagen Sie, was ist aus denen geworden, die den Paß hielten, nachdem ihre Frist abgelaufen war? Was aus den Leuten in der alten Festung nach den zehn Tagen?«

Ortega grinste.

»Dasselbe wie aus den Chugach in Ihren Geschichten, nehme ich an.«

»Das hatte ich befürchtet«, meinte Marquoz seufzend. »Wir werden also alle sterben, bis das vorbei ist?«

»Dreißig zu eins, Marquoz«, gab der Schlangenmann zurück. »Ich glaube, das Terrain verringert das Verhältnis auf, sagen wir, fünf zu eins. Nur ein paar Hundert von ihnen werden schließlich durchkommen, aber schaffen werden sie es. Allerdings zu spät, um Nate aufzuhalten, wenn wir es richtig machen. Aber sagen Sie, Marquoz, warum sind Sie hier? Warum nicht bei ihnen? Sie könnten mit ihnen in den Schacht gehen, wenn Sie wollten, Unsterblichkeit erlangen oder auch irgend etwas anderes, das Sie sich wünschen. Ich glaube, bei Ihnen würde er es tun — es ist eine andere Situation als damals. Er hat Ihnen das Angebot gemacht, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Marquoz. »Das hat er.«

»Warum bleiben Sie dann hier in einem einsamen Paß auf einem fremden Planeten? Warum hier und warum jetzt?«

Marquoz seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es wirklich nicht. Nennen Sie es Halsstarrigkeit. Nennen Sie es Narretei oder vielleicht sogar ein wenig Angst davor, mit denen zu gehen und auf das zu stoßen, was dort sein mag. Vielleicht wäre es eine Schande, Körper und Verstand hier nicht für einen wichtigen Zweck einzusetzen. Ich kann Ihnen wirklich keine Antwort geben, die mich befriedigt, Ortega. Wie sollte ich eine geben können, die es bei Ihnen tut?«

Ortega schaute sich in der Dunkelheit um.

»Vielleicht kann ich das erklären — wenigstens zum Teil«, meinte er nachdenklich. »Ich wette, wenn wir jetzt zu allen unseren Leuten gehen würden, die ausschließlich Freiwillige sind, wohlgemerkt, würden wir dasselbe Gefühl erleben, das ich auch habe. Ein Gefühl, etwas Wichtiges, ja Entscheidendes zu leisten. In jedem Zeitalter, in jeder Rasse kommt es wohl vor, daß einige wenige sich in einer solchen Lage befinden. Sie glauben an das, was sie tun, und an die Richtigkeit ihrer Sache. Es ist wichtig. Deshalb erzählt man die Geschichten immer noch und ehrt das Andenken an solche Leute und Taten, obwohl das, wofür sie sich eingesetzt haben, in manchen Fällen sogar ihre ganzen Welten, längst tot und vergangen sind, ihre Rassen Staub wurden. Aber Sie sind nicht in einer ausweglosen Lage, Marquoz. Sie haben sich selbst hineinbegeben, obwohl Sie Abstand hätten halten und Gewinn erzielen können.«

»Genau das habe ich mein ganzes Leben lang getan«, erwiderte der Hakazit. »Ich paßte nie in meine Chugach-Gesellschaft hinein. Ich war der Außenseiter, der Unangepaßte. Meine Familie war reich, angesehen und ohne echte Verantwortung, so daß ich nie zu irgend etwas gezwungen war. Ich studierte, ich las, ich befaßte mich mit Dingen außerhalb der Chugach-Welt. Ich wollte das Universum sehen, während der Großteil meiner Rasse nicht einmal die nächste Stadt kennenlernen wollte. Ich war wohl der absolute Hedonist, nehme ich an — alles, was ich wollte, und ohne Kosten für mich. Ich haßte das. Immer ich, ich, ich — die meisten Leute behaupten, ja, so wollten sie es. Ich kann nicht behaupten, ich hätte meinen Glauben verloren, weil ich nämlich von Anfang an keinen hatte. Im Universum stand es eben so, daß die Leute mit der Macht die anderen unterdrückten. Und wenn die anderen sie durch Revolution oder Reform plötzlich erhielten, gingen sie her und unterdrückten wieder andere oder bekämpften sich gegenseitig, um in den Besitz der ganzen Macht zu gelangen. Mit Hilfe von Religion hielt man das Volk nieder. Ich habe noch nie erlebt, daß ein Gott für irgend jemanden irgend etwas getan hätte, und die meisten Religionen aller Rassen, die ich kannte, waren gute Ausreden für Krieg, Massenmord und die Erhaltung korrupter Macht. Politik war dasselbe, unter einem anderen Namen. Ideologie. Die größten Sozialrevolutionäre verwandelten sich in absolute Herrscher, sobald sie ihre Machtposition gefestigt hatten. Nur die Technologie brachte Verbesserungen, und selbst sie wurde gelenkt von den Machthabern, die sie für ihre eigenen Zwecke benützten. Und was, wenn jedermann reich wurde und niemand mehr zu arbeiten brauchte? Dann hatte man einen Haufen fetter, reicher, nicht mehr entwicklungsfähiger Klötze vor sich.«

Ortega grinste über den Zynismus seines Gegenübers. Es war der erste, der den seinen weit übertraf.

»Keine Romanzen in Ihrem Leben?« fragte er.

Der andere seufzte.

»Nein, eigentlich nicht. Ich habe mich von anderen nie körperlich besonders angezogen gefühlt. Die Chugach sind in einem gewissen Sinn romantisch, ja; sie sitzen herum, saufen, prahlen mit ihren Klans, singen Lieder und erfinden Tänze. Aber ich persönlich, nein. Ich habe meinesgleichen nie sehr gemocht. Auch ein Haufen von fetten, reichen, faulen Klötzen. Wissen Sie, es gibt auf vielen Welten Geschichten über Leute, die als Säuglinge in der Wildnis verlorengingen und von Tieren aufgezogen wurden. Sie kommen heraus und denken und handeln wie Tiere. Es steckt mehr dahinter als die äußere Form. Äußerlich war ich ein Chugach, ja, und innerlich… etwas anderes. Fremdes.«

»Fremdes?« sagte Ortega und zog die Brauen hoch. »Wie das?«

Marquoz wählte seine Worte mit Bedacht.

»Ich bin einmal ein paar Kom-Menschen begegnet, die Männer waren, innerlich aber fest davon überzeugt, sie seien in Wahrheit Frauen. Sie wollten sich behandeln lassen und auch biologisch Frauen werden. Vielleicht war das psychologisch bedingt, vielleicht durch Hormone, was weiß ich — aber es hatte eigentlich nichts Sexuelles an sich. Die beiden Männer liebten einander und wollten doch beide Frauen werden. Verrückt, nicht? Ich identifizierte mich aber mit ihnen, einfach deshalb, weil ich ein fremdes Wesen im Körper eines Chugach war. Aber für mich gab es keine Operation — so einfach war das nicht. Der Fremde im Körper eines Chugach saß dort in der Falle. Ich fühlte nicht wie ein Chugach, handelte nicht wie einer, dachte nicht einmal wie einer. Ich kam mir mitten unter meinen eigenen Leuten völlig fremd vor.«

»Ich muß zugeben, so etwas ist mir neu«, räumte Ortega ein. »Aber ich kann mir denken, wie unausweichlich so etwas ist.«

»Nicht so neu. Ich glaube, alle Rassen haben da ihren Anteil. Hier auf der Sechseck-Welt mit 1560 eng aufeinander lebenden Rassen bin ich oft darauf gestoßen. Ich vermute, daß das viel weiter verbreitet ist, als man uns glauben machen will. Man redet nur nicht darüber, weil es keinen Sinn hat. Man nennt solche Leute einfach geisteskrank, hängt ihnen irgendeine medizinische Bezeichnung an und erklärt ihnen, daß sie lernen müssen, sich anzupassen. Und was kann man dagegen tun? Man kann nicht zu seinem Arzt gehen und sagen: ›Machen Sie aus mir etwas anderes.‹ Überlegen Sie, wie viele von den Menschen die Sechseck-Welt mit Sehnsucht betrachtet haben. Ein romantischer Ort, ein Ort, wo man in ein völlig anderes Wesen verwandelt werden konnte. Und für jeden, den der Gedanke abstieß, gab es mindestens einen, der sich in seiner Phantasie vorstellte, was er gerne gewesen wäre, und dadurch erregt wurde.«

»Und deshalb haben Sie sich freiwillig gemeldet, um die Menschen als Spion zu beobachten?«

Marquoz lachte leise.

»Nein, ich habe mich eigentlich nicht freiwillig gemeldet — obwohl ich das vielleicht getan hätte, wenn mir etwas davon bekannt gewesen wäre. Man suchte mich aus. Mein psychologisches Profil war das, was sie suchten — jemand, der sich in einer völlig fremdartigen Kultur ebenso zu Hause fühlte wie bei seinen eigenen Genossen.«

Ortega nickte.

»Ergibt Sinn. Und waren Sie im Kom-Bereich glücklicher?«

»Glücklicher? Nun ja, in gewisser Beziehung, mag sein. Ich blieb natürlich ein fremdes Wesen, aber jetzt war ich ein exotisches. Das veränderte meine Gefühle gegenüber meiner eigenen Rasse nicht, aber ihre Erscheinungsform war nun wenigstens etwas Aufregendes.«

Es wurde immer dunkler, und Ortega schaute sich um. Er konnte nicht mehr viel erkennen, doch von Zeit zu Zeit blitzte ein Signal auf, das den anderen mitteilte, alles sei in Ordnung. Nicht weit entfernt konnte er zwei undeutliche Gestalten erkennen, die dabei waren, die Netze im Fluß zu überprüfen und sich zu vergewissern, daß die Minen geschärft waren. Auch auf diesem Weg würde niemand unbemerkt herankommen können. Er wandte sich wieder Marquoz zu und einem Gespräch, von dem er wußte, daß es unter keinen anderen Umständen hätte geführt werden können.

»Sie sind kein Chugach mehr«, meinte er. »Wie hat sich das auf Ihr Selbstverständnis ausgewirkt?«

Marquoz zog die Schultern hoch.

»So groß ist die Veränderung eigentlich nicht. Und ich hatte dabei nicht mehr mitzubestimmen als vorher. Fällt nicht ins Gewicht.«

»Aber das bringt mich zu meiner ersten Frage zurück«, erklärte Ortega. »Sie hätten werden können, was immer Sie wollten, wenn Sie mit den anderen gegangen wären.«

Marquoz seufzte.

»Sie müssen das in dem Zusammenhang sehen, den ich erwähnt habe. Das ist wirklich das erste Unternehmen, an dem ich beteiligt bin, das irgendeinen Sinn hat. Es entspricht dem, was Sie selbst gesagt haben. Tot im Bett gefunden zu werden, hat noch nie etwas bewirkt. Es spielte gar keine Rolle, ob jemand gelebt hatte oder nicht. Das könnte der Nachruf für fast jeden sein, der gelebt hat, ob hier oder sonst irgendwo im Universum. Es spielt im großen Rahmen überhaupt keine Rolle, ob mehr als eine Handvoll von Leuten gelebt hat oder nicht. Es ist nicht bedeutsamer als das Dasein einer einzelnen Blume, eines Grashalms, irgendeiner Pflanze oder eines Vogels. Es würde keine Rolle spielen, wenn die Männer, die damals den Paß hielten oder das alte Fort, statt dessen an Krankheit oder in hohem Alter oder bei einer Schlägerei in einer Kneipe gestorben wären. Aber es spielte eine Rolle, daß sie dort starben, wo sie es taten. Es kam darauf an. Es rechtfertigte ihr ganzes Dasein. Und es kommt darauf an, daß ich jetzt hier bin und diese Wahl treffe. Für mich und für sie. Für die Sechseck-Welt und das ganze gottverdammte Universum.« Er hob die Arme und erfaßte mit einer Bewegung die ganze Dunkelheit. »Ist Ihnen wirklich klar, was wir hier tun?« fuhr er fort. »Wir werden das gesamte Schicksal des Universums vielleicht auf Jahrmilliarden hinaus entscheiden. Nicht Brazil, nicht Mavra Tschang, wenn man es genau nimmt. Sie treffen die Entscheidungen nur deshalb, weil wir sie in die Lage dazu versetzen! Hier und jetzt, morgen und übermorgen. Sagen Sie, Ortega, lohnt es nicht, dafür zu sterben? Andere mögen Einzelgänger sein, auf irgendeiner schäbigen kleinen Welt oder in einem verrückten Sechseck geboren, und sie werden später Landwirte oder Verkäufer oder Diktatoren oder Generäle oder Könige. Werden alt und sterben, ersetzt durch andere, nicht unterscheidbare kleine Würmer, die genau dasselbe Unwichtige tun. Und es wird überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Aber wir fallen ins Gewicht, Ortega, und das spüren wir alle. Deshalb werden unsere Feinde Lieder über uns singen, und unsere Namen und unser Andenken werden für zahllose Rassen niemals alternde Legenden werden. Denn letzten Endes zählt allein, wer wir sind und was wir in den folgenden Tagen tun. Wir sind die einzigen, auf die es ankommt.«

Ortega starrte ihn an, obwohl er von dem Wesen nur die glühenden roten Augen erkennen konnte. Nach einer langen Pause sagte er:»Wissen Sie, Marquoz, Sie sind völlig wahnsinnig. Was mich stört, ist, daß ich Ihnen einfach nicht widersprechen kann — und Sie wissen, was das aus mir macht.« Er griff an den breiten Ledergürtel zwischen seinem zweiten und dritten Armpaar und zog eine große Flasche heraus. »Ich scheine mich von früheren diplomatischen Empfängen her undeutlich zu erinnern, daß die Hakazit seltsame Trinkmethoden haben, aber dazu neigen, aus denselben Gründen wie die Ulik dasselbe zu trinken. Wollen wir auf die Geschichte trinken?«

Marquoz lachte und griff nach der Flasche.

»Auf die Geschichte, ja! Auf die Geschichte der Zukunft, die wir in den nächsten Tagen schreiben werden! Auf unsere Geschichte, die wir ausgesucht und über die wir bestimmt haben!«

Er legte den Kopf zurück und schüttete den Schnaps in seine Kehle, dann hustete er und gab die Flasche an Ortega zurück, der sich den Rest zu Gemüte führte.

»Schmeckt sehr gut«, sagte der Hakazit lobend.

»Nichts als das Beste für die Legion am Abend vorher«, gab Ortega zurück.

Eine Stimme in der Nähe sagte:»Habt ihr noch etwas für mich? Oder bringt mich das um?«

Sie zuckten zusammen und lachten, als sie Zigeuner erkannten.

»Verdammt. Ich erwarte dauernd, daß Gunit Sangh aus den Felsen herausschießt«, murrte Ortega. Er warf dem anderen die Flasche zu. Zigeuner fing sie auf, trank einen Schluck und verdrehte angenehm überrascht die Augen.

»Hui! Nichts künstlich Nachgemachtes!« sagte er, dann wurde er ernst. »Ich bin dabei, zu Yua zu gehen und ihr die Lage zu erklären. Soviel ich weiß, hat sie Leute mitgenommen und ist um Khurtirs Armee herumgeflogen, auf dem Weg hierher. Sie hatten den alten General ordentlich überrascht und ihm kräftig eins auf die Nase gegeben. Aber sie sind immer noch drei Tagesmärsche entfernt.«

Marquoz lachte leise.

»Drei Tage. Zwei durften es nicht sein.«

»Soll ich ihr irgend etwas ausrichten?« fragte Zigeuner.

»Sagen Sie ihr —« Ortegas Stimme schwankte ein wenig -»sagen Sie ihr… daß wir für Brazil standhalten werden. Wir halten stand, bis sie eintrifft, verdammt — sagen Sie ihr, ein ganzer Haufen sehr tapferer und sehr dummer Leute wird dafür sorgen, daß alles klappt. Der alte Serge Ortega läßt sich bedanken und wünscht alles Gute.«

Zigeuner nickte verständnisvoll und lächelte ein wenig traurig.

»Ich werde rechtzeitig zum Kampf zurück sein, Serge.«

Der Ulik lachte leise in sich hinein und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Sie auch? Die Zahl der Märtyrer bei uns muß einen neuen Rekord erreichen! Was sagt man!«

»Praktische Überlegungen«, erklärte Zigeuner. »Wenn Brazil in den Schacht geht, ihn abschaltet, verliere ich meine Verbindung zu ihm. Ich werde nicht länger ein Wesen des Universums sein, sondern nur noch eines der Sechseck-Welt, von der ich vor so langer Zeit gekommen bin. Und ich war ein Tiefsee-Wesen. Ich werde so rasch durch den Druck umkommen, daß ich nicht einmal Zeit finde, zu ersticken.«

»Sie können immer noch nach Oolakash zurückgehen, Doktor, und von vorne anfangen«, schlug Ortega vor. »So sehr hat sich das nicht einmal in tausend Jahren verändert.«

Marquoz sah die beiden verwirrt an.

»Doktor? Oolakash? Was hat denn das zu bedeuten?«

Zigeuner starrte Ortega kurz an.

»Wie lange wissen Sie das schon?«

»Na ja, gewiß erst jetzt in diesem Augenblick«, gab der Ulik zu. »Den Verdacht hatte ich schon fast seit unserer ersten Begegnung. Sie konnten das Unmögliche möglich machen, und das wollte ich einfach nicht schlucken. Die einzige mögliche Erklärung war die, daß Sie das markovische Rätsel völlig gelöst hatten, daß sie genau begriffen, was die getan hatten und wie sie es machten. Und mir fiel nur ein einziger Mann ein, der dazu imstande gewesen wäre. Wenn Sie von einer Rasse kamen, die das geleistet hatte, dann mußte es mehrere von Ihnen geben. Wenn Sie ein übriggebliebener Markovier gewesen wären, hätte Brazil Sie eigentlich kennen müssen, jedenfalls dann, als er Ihnen begegnete. Es blieb also nur ein einziger Mann, einer, den ich einmal gekannt hatte, der einzige, von dem ich wußte, daß er begriffen hatte, wie der Schacht funktionierte, und dessen Lebenswerk darin bestand, darüber alles in Erfahrung zu bringen, was möglich war — ein Mann, der vor langer Zeit verschwunden war und längst als tot galt.«

»Gut, gut«, knurrte Marquoz. »Ich glaube, ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, wovon hier eigentlich die Rede ist.«

»Marquoz«, sagte Ortega munter, »ich möchte Sie mit dem ersten Mann bekanntmachen, der die markovischen Energien zu bändigen vermochte, mit dem Mann, der den Supercomputer Obie gebaut hat und dem wir fast alles verdanken, was passiert ist. Marquoz, Doktor Gilgram Zinder.«

Der Hakazit blickte zu Zigeuner hinüber und lachte.

»Zigeuner? Sie? Zinder? Das ist das Absurdeste, was ich in meinem ganzen Leben je gehört habe.«

»Das gab mir auch solche Rätsel auf«, räumte Ortega ein. »Der Mann, der das alles getan hat, dem es schließlich, zuerst mit und dann ohne Obies Hilfe gelang, sich mit den markovischen Computern in Verbindung zu setzen und sie seinem Willen zu unterwerfen — und er geht nach Hause und wird ein wandernder Zigeuner und Landstreicher?«

Gilgram Zinder lachte leise.

»Nun ja, nicht am Anfang, nein. Und das menschliche Gehirn ist dem Training nicht gewachsen und auch für perfekte Kommunikation nicht geeignet. Aber ich gelangte zu dem Punkt, wo ich den Schacht beeinflussen konnte, was meine Person anging. Das kostet viel Mühe und führt außerhalb der Sechseck-Welt zu unerträglichen Kopfschmerzen. Ich bin eigentlich nie in der Lage gewesen, außer in Bezug auf mich, viel zu erreichen, und mir wurde klar, daß ich ohne alle möglichen Zusatzgeräte nicht weiterkommen würde, und gegen dieses Gerät wäre Obie ein Spielzeug gewesen. Es würde etwas in der Größe des Schachtes selbst erfordern, und aus naheliegenden Gründen lohnte es gar nicht, sich damit zu befassen. Ich gebrauchte die Kraft also dazu, eine Weile umherzustreifen, wie Obie und Mavra es taten, und zwar in verschiedener Form, bis ich mich langweilte. Schließlich konnte ich im Gegensatz zu Obie nicht viel mehr tun, als zu überleben und mich anzupassen. Ich kehrte also schließlich zu den Kom-Welten zurück und stellte fest, daß sich gegenüber meiner Zeit viel verbessert hatte. Es verschaffte mir große Befriedigung, festzustellen, daß viele der ärgsten Dinge beseitigt waren, was zumindest zum Teil dem zu verdanken war, was wir viele Jahre vorher geleistet hatten. Ich hatte immer ein sehr eng eingegrenztes Leben geführt, wissen Sie. Ein einsames Leben. Ich war nicht gutaussehend und nicht einmal auffällig. Ich hatte meine Arbeit, und das war alles. Ich mußte eine Frau bestechen, damit sie mein Kind gebar, und baute mein anderes Kind selbst.«

»Aber Ihr Werk ist über jede Vorstellung hinaus gelungen«, betonte Ortega.

»Über jede — ja, das mag sein. Ich bin einem Markovier jetzt so ähnlich, wie ich das bei einem Geschöpf unserer Zeit überhaupt für möglich halte.«

»Vielleicht hätten Sie Ihre Arbeit zu Ende führen sollen«, meinte der Schlangenmann. »Vielleicht befänden wir uns jetzt nicht in dieser Lage, wenn Sie es getan hätten.«

»Mag sein. Aber ich habe mein ganzes Leben der Wissenschaft geweiht, und sie lachten mich aus, diejenigen, die nicht versuchten, die neue Macht für bösartige Zwecke zu gebrauchen. Und dann mußte ich auch meine Tochter, meine Rasse und meine Umwelt dafür hergeben. Und selbst die gute Seite bei diesem Kampf erschrak, als ihr meine Arbeit präsentiert wurde, und versuchte sie für immer zu vergraben. So sah ich mir das an und dachte: Was ist mit mir? Was habe ich davon, außer, daß ich immer wieder der Betrogene bin? Selbstlose Menschen enden in vernachlässigten Gräbern. Ich hatte das Gefühl, mir wäre ein neues Leben gegeben, eine neue Chance, all das zu erlangen, was ich versäumt hatte, und ich ergriff sie. Ein neues Leben — eines nach dem anderen. Selbst die Sechseck-Welt gab einem nur einen einzigen neuen Anfang, aber ich hatte eine unendliche Zahl davon. Ich war ein reicher und gutaussehender Playboy. Dann versuchte ich es andersherum, als eine exotische, wunderschöne Tänzerin, die sich mit Gewalt gegen zudringliche Anbeter wehren mußte. Ich lernte eine Vielzahl von Instrumenten zu spielen und komponierte Musik, die großen Anklang fand. Ich malte, ich war Bildhauer, ich schrieb Kurzgeschichten und Gedichte. Ich war im Begriff, alles zu sein, was jemals jemand hatte werden wollen. Der Gipfel des Gedankenspiels war mein: Ich konnte sein, was ich wollte, und war es. Ich genoß auch alles. Die Zigeuner-Phase war nur ein Teil davon, etwas, das mir besonders gefiel, nachdem ich mich mit Marquoz hier zusammengetan hatte — ich genoß es, meine ich, bis die Narren mein Werk ausgruben, es mißverstanden, falsch anwendeten und es zu ihrer eigenen Zerstörung mißbrauchten, die Dummköpfe.«

»Warum sind Sie da nicht eingeschritten?« fragte Ortega. »Warum haben Sie ihnen nicht erklärt, was sie falsch machten?«

»Was konnte ich tun?« meinte Zinder achselzuckend. »Bis ich erfuhr, was sie trieben, war es schon zu spät. Selbst ich konnte nichts unternehmen. Angenommen, ich wäre wirklich plötzlich aufgetaucht und hätte erklärt: ›Hallo, ich bin Gilgram Zinder! Ich weiß, Sie halten mich seit tausend Jahren für tot, aber das habe ich nur vorgetäuscht‹ Wer hätte mir geglaubt oder auf mich geachtet? Ich wäre gegen die Bürokratie nie angekommen. Es ist viel leichter, eine Bürokratie zu veranlassen, daß sie dich nicht beachtet, als daß sie dich beachtet und ernst nimmt. Ich hinterließ ihnen die Schlüssel zur Göttlichkeit, zum Universum, und sie gingen her und vernichteten sich damit. Und ich — sehen Sie sich an, was es mich gekostet hat! Nikki… Obie… alles, was mir etwas bedeutete.«

Marquoz konnte es immer noch nicht glauben.

»Sie haben also Zinder getötet? Ihre eigene Tochter! Wußte Obie das?«

»Er wußte es«, bestätigte Zinder. »Obwohl mir das erst klarwurde, als ich mich selbst in ihm befand und wir miteinander reden konnten. Wir besprachen alles sehr ausführlich, eine Art gegenseitigen Abreagierens. Wenn ich es nicht tat, hätte er es tun müssen, und das war das einzige, wozu er einfach nicht imstande war. Er konnte Nikki nichts antun. Ich versuchte ihm sogar auszureden, daß er versuchte, sich mit Brazil zu integrieren, aber es half nichts.«

»Brazil«, murmelte der Hakazit. »Warum hat Brazil Obie das angetan?«

»Ihn kurzgeschlossen, meinen Sie? Praktisch aus demselben Grund, warum ich meine Kräfte verliere, wenn er abschaltet. Wir haben es hier mit einer mathematischen Matrix zu tun, wissen Sie, mit einer Reihe von Beziehungen, die besagen: ›Ich bin das Universum und bin genau so, diesen Gesetzen entsprechend‹ Das ist das ursprüngliche Universum, das markovische oder natürlich entstandene. Es ist im Vergleich zu dem unsrigen eigentlich sehr klein. Das Ganze hatte kaum den Umfang einer kleinen Galaxis. Die Markovier gestalteten es selbst um. Sie hatten eine zweite Schöpfung, könnte man sagen, die, da sie um der Sicherheit willen von demselben Punkt wie ihre eigene ausging, ihre Planeten zerstörte und dieses alte Universum in das unsrige mit aufnahm. Und da die Explosion bei uns eine viel größere war, dehnte sich ihr Universum zusammen mit dem unsrigen aus, was der Grund dafür ist, daß man dort draußen mehr markovische Welt findet als hier in der Gegend. Aber sie sind das alte, tote, ursprüngliche Universum. Das unsere ist diesem überlagert — sie wagten es nicht, das ihre auszulöschen, weil sie sich sonst mit ausgelöscht hätten. Das ist die vom Schacht durchgesetzte Matrix, die mathematische Formel der markovischen Computer, und das vermochte ich schließlich zu entziffern. Damit kann ich die übereinander gelagerten Blöcke ganz gering nach meinen Wünschen verschieben. Obie konnte nicht mehr als ich, aber in planetarischem Rahmen. Die einzelnen Markovier konnten es, wie ich annehme, noch besser, weil das ihren Gehirnen genau entsprach. Aber es ist der Schacht, der diesen mathematisch aufgelagerten Komplex aufrechterhält. Wenn Brazil ihn abschaltet, wird dieser mathematische Komplex aufhören zu existieren. Und wenn er ihn instand setzt und wieder einschaltet, wird er ihn anweisen müssen, ein neues mathematisches Modell zu bauen. Ein neues. Es wird dem Original sehr ähnlich sein, aber sich in vielen Einzelheiten davon unterscheiden. Es kann beispielsweise nicht so weitreichend sein, weil er hier nur 1560 Rassen hat, von denen er ausgehen kann. Außerdem wird es aus der Kraft seines Verstandes entspringen und damit eine gewisse leichte Färbung erhalten. Es wird ein wenig anders sein. Ganz gering, vielleicht eine Stelle in einer Zahl von einer Milliarde Stellen, aber doch anders. Er kann das nicht ändern. Obie ist Teil der alten Mathematik. Ebenso das Universum, das wir gekannt haben — Kom-Welten, Sterne und Planeten, alle Rassen dort draußen.«

»Ich glaube, ich verstehe Sie«, warf Ortega ein. »Obie wurde gebaut, um mit diesen aufgelagerten Regeln oder dieser Mathematik, wie man es auch nennen will, zurechtzukommen. Ebenso alles andere, was wir kennen — ausgenommen die Sechseck-Welt, die an einem eigenen Modellcomputer hängt, der nicht davon betroffen ist. Und Brazil ist von der alten Mathematik, der markovischen, und Obie wurde mit ihm einfach nicht fertig, weil er ein wenig, ganz gering nur, abwich, wodurch Obies Schaltkreise kurzgeschlossen wurden.«

Zinder nickte.

»Ein winziger, aber entscheidender Unterschied. Er kam damit einfach nicht zurecht. Aus demselben Grund kann Brazil sein Aussehen nicht wirklich verändern, sobald er es im Schacht einmal einstellt. Er gehört nicht zur Mathematik des bekannten Universums; er fließt immer wieder in die alte Form zurück. Wir können ihn nicht einmal töten. Die Umstände liefern ihm stets einen Ausweg, mit anderen Worten, der Schacht behütet ihn. Nur innerhalb des Schachtes kann er sterben, weil der Schacht zum Teil dazu konstruiert worden ist, Markovier nach der neuen Mathematik umzuwandeln.«

»Meinen Sie, daß er sich töten wird?« fragte Ortega. »Ich glaube, ich verstehe ihn jetzt ein bißchen. Ich war zu lange am Leben und bin bereit, abzutreten, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden. Jetzt kann ich es, und es ist ein Segen und eine Erleichterung. Sie können sich nicht vorstellen, wie befreit ich mich fühle. Man kann wirklich zu lange leben, Doktor, vor allem dann, wenn man sich nicht zu verändern vermag.«

Zinder dachte darüber nach.

»Ob er sich töten wird? Er hat es selbst gesagt, sehr oft sogar. Er sagte, es sei das einzige, was er wirklich tun möchte. Ich glaube, das ist der Grund, warum Mavra Tschang dabei ist — damit sie die Stafette übernehmen kann. Sie wird hineingehen und lernen, wie der Schacht funktioniert; er wird auf sie eingestellt werden. Sobald das geschehen ist, kann er mit reinem Gewissen sterben. Es wird jemand da sein, der die Wahrheit bewacht, und statt des Ewigen Juden werden die neuen Menschen die rätselhafte, unsterbliche Frau haben.«

»Was für ein grauenhaftes Schicksal«, sagte Ortega seufzend.

»Aber es geschieht aus ihrem freien Willen«, erklärte Zinder. »Wenn sie ihn auffordert, die Maschine abzuschalten, übernimmt sie die volle Verantwortung für alle Folgen. Wenn sie herauskommt, wird sie das einzige Wesen sein, das noch auf der Gegenwart beruht, statt auf der neuen Mathematik. Man wird sie nicht töten oder verändern können, und sie wird so bleiben, bis sie an eine weisere Rasse der Zukunft übergeben kann, falls diese je entsteht, die erneut die Gleichungen des Schachtes entdeckt und damit etwas anderes unternimmt, als sich zu vernichten. Wenn sie sich doch vernichtet, vielleicht in Milliarden Jahren von jetzt an, wird sie die Aufgabe haben, alles wieder neu zu erschaffen und zu diesem Zeitpunkt vielleicht selbst die Stafette weiterzugeben.«

Sie dachten darüber nach, dachten an die Einsamkeit, das ziellose Umherstreifen, ohne Veränderung, ohne Ende. Eine Zeitlang würde sie es natürlich genießen, wie das bei Brazil der Fall gewesen sein mußte, wie bei Ortega in seiner begrenzteren, aber nicht weniger drückenden Selbstverbannung. Aber schließlich würde sie zu dem Punkt gelangen, an dem sie zu lange gelebt hatte, und sie würde es wissen.

»Ich glaube nicht, daß sie erkennt, was für einen Teufelspakt sie da schließt«, sagte Ortega traurig.

»Weiß das überhaupt jemand?« sagte Zinder mit einem Achselzucken. »Und können wir zurückgehen und alle noch einmal von vorn beginnen? Kann ich den Schaden für das Universum ungeschehen machen? Für den Schacht? Nein, ich glaube nicht. Sowenig, wie Sie irgendeinen Ihrer entscheidenden Entschlüsse zurücknehmen können.« Er schwieg kurze Zeit. »Ich gehe jetzt besser. Yua muß unterrichtet werden — und ich möchte zurück sein, bis es hell wird.«

Serge Ortega streckte die Hand aus, und Zinder ergriff sie.

»Also bis zum Morgengrauen, Gilgram Zinder. Wir treffen uns unten am Kanal, ja?«

»Am Kanal«, bestätigte der andere. »Aber nicht Doktor Gilgram Zinder, nein, nicht mehr. Das meiste von ihm starb vor ungefähr neunhundert Jahren in Oolakash. Das wenige von ihm, das noch überlebte, starb mit Nikki auf Olympus, und der Rest mit Obie auf ›Nautilus‹. Ich bin nur Zigeuner, Ortega. Das will ich sein, also bin ich es. Ich kann sein, wer und was ich will.«

»Warten Sie! Noch eines!« rief der Ulik. »Woher wissen wir, ob wir lange genug die Stellung gehalten haben? Können Sie mir das sagen?«

Zigeuner lachte.

»Wenn ich hier bin, wissen Sie es genau, und auf sehr plötzliche und schmutzige Art. Wenn nicht — falls Sie bis zur Nacht durchhalten können, und wenn die Nacht klar ist und Sie vom Himmel etwas sehen können, werden Sie sehen, wie die Sterne erlöschen.«

»Aber das ist doch ausgeschlossen«, wandte Ortega ein. »Selbst wenn das Universum erlischt, würde es Tausende von Jahren dauern, bis wir es erfahren.«

»Wenn er abschaltet«, sagte Zigeuner zu den beiden anderen, »wird das Universum nicht einfach aufhören, zu bestehen. Es wird praktisch niemals existiert haben. Es wird diese Sterne und den Staub, der im Licht aufleuchtete, nie gegeben haben. Es wird nichts geben als das tote markovische Universum — und die Sechseck-Welt. Nichts sonst wird daneben existieren oder je existiert haben.«

Ein ernüchternder Gedanke.

»Noch eine letzte Frage«, sagte Marquoz. »Haben Sie Brazil gesagt, wer Sie sind?«

Zigeuner lachte.

»Nein. Er wollte es wissen, aber er wollte mir auch nicht verraten, warum ein markovischer Wächter ein jüdischer Rabbiner ist, also gleicht es sich wieder aus.« Er verschwand.

»Auch wahr«, sagte Ortega zu niemand Bestimmtem. Schließlich wandte er sich an Marquoz. »Wenn Sie schon hier sind, werden Sie das Kommando über die Verion-Seite übernehmen, hoffe ich.«

Marquoz nickte.

»Alles geregelt. Wenn ich soweit bin, fliegen sie mich hinüber.«

Zum zweitenmal in dieser Nacht streckte Ortega die Hand in einer freundschaftlichen Geste aus, und zum zweitenmal wurde sie in diesem Geist ergriffen.

»Wie bei Zigeuner«, sagte Ortega. »Wir treffen uns am Kanal.«

»Am Kanal«, wiederholte Marquoz. »Wir werden nur dreißig Meter auseinander sein.«

»Die schwimmen wir«, sagte Ortega jovial.

Stromabwärts gab es eine heftige Explosion, weit entfernt noch, und Lichter flammten dort unten auf. Feuersalven lösten sich automatisch, dann erlosch und verstummte alles wieder.

»Ich gehe lieber«, sagte der Hakazit, während der Widerhall von Explosion und Schüssen in der Schlucht noch zu hören war. Er drehte sich um, stutzte und drehte den Kopf.

»Wissen Sie was? Wäre es nicht irre, wenn wir siegen würden?«

Ortega lachte.

»Das würde alles durcheinanderbringen.«

Marquoz stapfte in die Dunkelheit davon. Ortega blieb sitzen und starrte in die Schwärze, wartete und versuchte von Zeit zu Zeit einen Blick auf die verschleierten Sterne über sich zu erhaschen.

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