6
Tom Thorpe saß neben dem jugendlichen Fahrer in der Steuerkabine des Rolligon und sah in die von den starken Scheinwerfern erhellte Mondnacht hinaus. Trotz der Panoramasicht gab es nicht viel zu sehen. Vor drei Tagen war hier die Sonne untergegangen, und die Landschaft auf der erdabgewandten Seite des Mondes war so dunkel wie die tiefste Nacht auf der Erde.
Vor zwölf Stunden hatte die mondumspannende Einschienenbahn Thorpe an Hardley’s Crossroads abgesetzt, und vor vier Stunden hatte der Rolligon seine Hundertzwanzig-Kilometer-Fahrt zum Observatorium begonnen. Von Hadley hatte er wenig mehr gesehen als das sich andauernd verändernde Muster der Reifenspuren, die von früheren Fahrten stammten.
Da es nichts Interessantes zu sehen gab, hatte Thorpe die Zeit dazu genutzt, seine Gedanken zu ordnen. Am Morgen nach der Dinnerparty hatte er Hobarts Vorschlag in einem langen Telegramm an die Geschäftsleitung zusammengefasst. Dann hatte er ein Ticket für die Viertagesreise zum Friedensdenkmal gekauft, wo er ein paar andere Spuren gesehen hatte – die seltsamen geriffelten Fußabdrücke, die Armstrong und Aldrin vor fast einem Jahrhundert hinterlassen hatten. Die Vertiefungen, wo sie Bodenproben genommen hatten, waren noch so deutlich wie an dem Tag, als sie entstanden waren, doch das blaue Feld und die roten Streifen ihrer Flagge waren fast vollständig verblasst.
Bei seiner Rückkehr nach Luna City fand er zu seiner Überraschung im Hotel eine Antwort auf sein Telegramm vor. Er entschlüsselte es und las:
BIN AM TAUSCH EISEN FÜR EIS HÖCHST INTERESSIERT. FAHREN SIE MIT IHRER ARBEIT FORT, ABER HOLEN SIE WEITERE INFORMATIONEN EIN. HABE OFFENBAR DEN RICHTIGEN MANN NACH LUNA GESCHICKT. DAS MUSS DER GRUND SEIN, WESHALB DER RUBEL ROLLT.
Halver Smith
Das hatte das Ende von Thorpes Urlaub bedeutet. Seine letzten Tage in Luna City hatte er mit dem Studium der wirtschaftlichen Hintergründe des Eisbergbaus und der Selenologie des Orientbeckens zugebracht. Was er erfuhr, ermutigte ihn. Es sprach offenbar nichts dagegen, Eisen in Millionen-Tonnen-Einheiten auf den Mond zu befördern.
Thorpe wurde aus seiner Stimmung aufgeschreckt, als der Rolligon um eine Ecke bog und auf einen abschüssigen Hang zuzurutschen begann.
»Ist es nicht gefährlich, in der Nacht so schnell zu fahren?«, fragte er, nachdem der Fahrer die Kontrolle wiedererlangt hatte. Wie Thorpe trug der Fahrer einen Leichtgewichts-Vakuumanzug. Sein Anzug war blau-metallic, wenn die Originalfärbung unter einer dicken Schmutzschicht auch kaum zu erkennen war. Thorpes Anzug war orange reflektierend und trug das Firmenzeichen und die Registriernummer von Verns Raumanzugsverleih in Hadley’s Crossroads, Luna. Er war ebenfalls stark verschmutzt. Innendrin roch er nach zu vielen ungewaschenen Männern.
»Nachts fährt sich’s besser als bei Tag«, sagte der Fahrer mit seinem silbenverschluckenden Luna-Akzent. »Lass mich ohne meine Unterwäsche aus Blei nicht gern von’ner solaren Leuchtbombe erwischen.«
»Das habe ich nicht gemeint. Sollten Sie nicht besser langsamer fahren?«
»Nee! Bin die Strecke schon hundertmal gefahren. Kenn sie wie mein’n Handrücken. Uih!«
Thorpe fühlte, wie sich sein Magen hob, als der Rolligon auf einen Buckel traf und zwei Meter hoch in den schwarzen Himmel geschleudert wurde. Sie befanden sich länger als zwei Sekunden in der Schwerelosigkeit, ehe das Fahrzeug mit einem dumpfen Schlag in einer Staubwolke landete. Der Fahrer drehte sich um und grinste. Seine Haartolle war vor dem Hintergrund der Instrumentenleuchten deutlich sichtbar. »Tut mir leid, Boss. Ich dachte schon, ich wär dran vorbei. Dieser Wummi hätt mich letztes Mal beinahe umgekippt.«
»Dann fahren Sie langsamer, verdammt nochmal!«
»Kein Grund zur Panik, Boss. Von hier ab ist die Fahrbahn glatt wie Glas. Hinter dem nächsten Hügel ist schon das Observatorium.«
Thorpe setzte sich gerade auf und spähte nach vorn. Seit sie die Kraterwandung überwunden hatten, hatten sie die Lichter der Oberflächenanlagen des Farside Observatoriums sporadisch aufleuchten sehen. Wie der Fahrer gesagt hatte, erschien in geringer Entfernung vor ihnen eine Ansammlung weißer Lichter, sobald sie die Hügelkuppe erklommen hatten.
»Wie weit noch?«, fragte Thorpe.
»Die Erhebung hier heißt Twelve Klick Rise.«
»Zwölf Kilometer noch?«
»Bisschen weniger. Sagen wir, elfeinhalb.«
»Wo sind die Teleskope?«
»Sehen Sie die Hauptschüssel?«, fragte der Fahrer und deutete auf ein blitzendes rotes Licht an der Spitze eines Turmes, der sich im Mittelpunkt einer Ansammlung von Glimmlampen befand.
»Ja.«
»Das Große Auge befindet sich links davon. Sie können’s nicht sehen, weil der größte Teil schwarz ist.«
Thorpe lehnte sich enttäuscht zurück. Er hatte erwartet, die großen Teleskope von Flutlicht erleuchtet zu sehen. Aber es gab natürlich keine Veranlassung, sie in der Mondnacht anzustrahlen, und gute Gründe, es nicht zu tun. Ein Lichtstrahl, der auf einen der Spiegel fiel, konnte eine astronomische Beobachtung wertlos machen.
Sie fuhren weiter und hielten nach einer Viertelstunde vor einer Art Nissenhütte, die mit einer dicken Schicht Mondstaub bedeckt war. Der Fahrer sprach kurz in sein Funkgerät, und eine schwere Schleusentür schwang auf. Der Fahrer lenkte sein Fahrzeug hinein. Die Tür schloss sich, und der Rolligon wurde durchgeschüttelt, als die Umgebung unter Atmosphäre gesetzt wurde.
Thorpe fühlte seinen Anzug um sich herum schlaff werden, wartete jedoch mit dem Absetzen des Helms so lange, bis ihm der Fahrer signalisierte, dass er es gefahrlos tun konnte. Die Luft war kalt und schmeckte metallisch.
»Endstation, Mr. Thorpe«, sagte der Fahrer lachend. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr in Schrecken versetzt.«
»Gut, dass ich mich an der Kreuzung wieder nach vorne gesetzt habe. Bei diesem Luftsprung hätte ich mir sonst bestimmt in die Hose gemacht.« Thorpe schnallte sich los und stand auf. Er begann sich allmählich besser zu fühlen.
»Kommen Sie, machen wir, dass wir nach unten kommen! Sie können den Anzug im Umkleideraum lassen. Ich hol ihn dann später, wenn ich die Flüssigtanks gewechselt und alles fürs Entladen vorbereitet habe. Die Schleusenkontrolle sagt, dass Direktor Meinz Sie bereits unten erwartet.«
»Danke für die Fahrt«, sagte Thorpe und hob seine Reisetasche hoch, die er hinter dem Sitz verstaut hatte. »Es war ein Erlebnis.«
Der Teenager grinste. »Warten Sie, bis Sie mich auf der Rückfahrt erlebt haben, wenn der Laderaum leer ist. Dann zeige ich Ihnen, was Fahren wirklich heißt!«
»Mr. Thorpe? Ich bin Hermann Meinz, Direktor des Observatoriums. Das ist Niels Grayson, leitender Astronom.«
Thorpe schüttelte den beiden Männern, die vor dem Lift auf ihn gewartet hatten, die Hand. Der Direktor war ein magerer Mann. Sein Gesicht sah aus, als wäre es zu fest über den Schädel gespannt. Bis auf einen Streifen Weiß an der Rückseite seines Kopfes war er haarlos. Thorpe schätzte, dass der Direktor in den Siebzigern und Grayson, ein dunkler, muskulöser Mann, in den Fünfzigern war.
»Sie wollen bestimmt aus dem Anzug heraus«, sagte der Astronom. »Nehmen Sie Kabine Drei.«
Thorpe dankte Grayson und begab sich in die genannte Umkleidekabine. Er streifte den Anzug ab und gab sich einer Kratzorgie hin, bevor er sich abrieb und ein ärmelloses Hemd, Shorts und Slipper anzog. Zuletzt kämmte er sich die Haare, nahm die Reisetasche und den Raumanzug und kehrte dorthin zurück, wo das Empfangskomitee auf ihn wartete.
»Sollen wir in mein Büro übersiedeln?«, fragte Direktor Meinz.
»Da bin ich sehr dafür«, erwiderte Thorpe. Er hängte den Anzug an einen Haken, wo der Fahrer ihn sehen würde, dann folgte er den Astronomen über einen langen Korridor mit einer Serie von Notdruckschleusen.
Sie kamen an Büroräumen voller Computerterminals und Geräten zur Fotoauswertung vorbei, an Lagerräumen und Werkstätten. Trotz seiner Abgeschiedenheit schien es im Observatorium alle möglichen Annehmlichkeiten zu geben, eingeschlossen eine gut ausgestattete Turnhalle.
Professor Meinz’ Büro wurde von einem wandgroßen Foto beherrscht, auf dem das Hundert-Meter-Teleskop und dahinter die Sonne zu sehen waren.
»Rektor Cummings hat uns über den Zweck Ihres Besuchs informiert, Mr. Thorpe«, sagte der Professor, nachdem er den anderen Mann gebeten hatte, Platz zu nehmen. »Ich muss sagen, es überrascht mich, dass sich die Sierra Corporation für den Kometen P/2085(G) interessiert.«
»Ist das der Komet, der nahe an Jupiter vorbeifliegen wird?«
»Das ist er. Ich war sogar noch mehr überrascht, als ich entdeckte, dass das Farside-Observatorium ein kommerzielles Interesse an dieser Angelegenheit hat.«
Thorpe zuckte mit den Achseln. »Mr. Smith hat unsere Rechtsabteilung die Geschichte des Gesetzes über Rechte an Weltraumentdeckungen überprüfen lassen. Die Bestimmung, die den Entdeckern zehn Jahre lang die alleinigen Nutzungsrechte überlässt, war ursprünglich dazu gedacht, den wissenschaftlichen Wert neuentdeckter Himmelskörper zu bewahren. Ob man das so gewollt hat oder nicht, Sie besitzen die Rechte und können damit tun, was Sie wollen. Wir hoffen, dass Sie uns ein Vorkaufsrecht einräumen werden.«
»Warum, Mr. Thorpe?«, fragte Niels Grayson. »Selbst wenn er die günstigste aller denkbaren Umlaufbahnen einschlagen sollte, dürfte die Geschwindigkeit des Kometen am Perihel in der Größenordnung von fünfzig Kilometern pro Sekunde liegen. Das macht ihn nicht gerade zu einem geeigneten Kandidaten fürs Einfangen.«
Thorpe hatte sich eine Antwort darauf bereits zurechtgelegt. »Ich habe nie etwas von Einfangen gesagt.«
»Aber der Rektor teilte uns mit …«
Thorpe nickte. »Er sagte Ihnen, dass wir diesen Kometen einfangen und in eine weite Umlaufbahn um die Erde bringen wollten. Das war seine persönliche Annahme, der ich lediglich nicht widersprochen habe. Wenn unsere Konkurrenten von unserem Interesse Kenntnis erhalten sollten, werden sie vielleicht ebenfalls die falschen Schlüsse ziehen.«
»Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr«, sagte Grayson.
»Was diesen speziellen Kometen potenziell wertvoll macht, ist nicht seine Geschwindigkeit, sondern die Ebene seines Orbits. Der Asteroid wird Jupiter sehr nahe der Ekliptik hinter sich lassen. Das ist zutreffend, nicht wahr?«
Grayson nickte. »Plus oder minus zwei Grad.«
»Das ist es, was Mr. Smith ins Auge gefallen ist. Vor einiger Zeit hat er eine preisgünstige Methode entwickelt, um Frachtgut in modifizierte Hohmann-Transfer-Orbits zu bringen. Damit das funktioniert, muss die Ladung von der Ebene der Ekliptik aus gestartet werden. Wenn dieses Kriterium erfüllt ist, können wir veredelte organische Stoffe auf profitable Weise über interplanetare Distanzen befördern.«
»Ich weiß nichts von einer solchen Arbeit«, sagte Meinz kurzangebunden.
Thorpe lächelte, wie es ihm aufgetragen worden war. »Es tut mir leid, aber es steht mir nicht frei, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Betriebsgeheimnis.«
Der Direktor murmelte etwas wie ›Blödsinn‹, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Grayson wandte sich an Thorpe. »Ich nehme an, dass Sie zusätzliche Informationen benötigen, bevor Sie eine Entscheidung treffen.«
»Ich muss die Größe und die Zusammensetzung des Kometenkerns kennen. Darüber gab es in dem Bericht der Astronomischen Vereinigung keine Angaben.«
»Ja, klar. Weil der Kern von der ihn umgebenden Gaswolke verdeckt wird. Wir können ihn noch nicht sehen.«
»Überhaupt noch nicht?«
»Nicht mit den Geräten, die wir verwendet haben.«
»Das bedeutet, dass Sie noch nicht die richtigen Geräte eingesetzt haben«, sagte Thorpe und deutete auf das Wandbild hinter Meinz’ Schreibtisch.
»Falls Sie damit das Große Auge meinen, haben Sie Recht.«
»Darf ich fragen, warum nicht?«
»Das ist eine Frage der Auslastung. Es sind im Moment eine ganze Reihe wichtiger Beobachtungsprogramme im Gange. Selbst mit seiner Fähigkeit zur simultanen Beobachtung verschiedener Objekte gibt es nur eine bestimmte Anzahl von Richtungen, die das Große Auge zu einem gegebenen Zeitpunkt beobachten kann. Ich fürchte, es ist bis Ende des Jahres bereits ausgebucht.«
»Wie lange würde es dauern, den Kometenkern zu untersuchen?«
»Ein bis vier Stunden, abhängig von den Beobachtungsbedingungen innerhalb der Koma.«
»Es muss doch irgendwo eine Lücke im Terminplan geben. Niemand arbeitet dermaßen hart an der Auslastungsgrenze. Was machen Sie denn, wenn ein mechanisches Problem auftritt?«
»Wir tun unser Bestes, alles umzustellen«, erwiderte Meinz. »Und falls irgendwann einmal Zeit übrigbleibt, haben wir eine lange Warteliste. Ich fürchte, P/2085(G) schafft es nicht einmal über diese Liste.«
»Es könnte eine erhebliche Geldsumme für das Observatorium ausmachen. Ergibt sich daraus nicht eine Priorität?«
Meinz räusperte sich. »Sie haben es auf den Punkt gebracht, Mr. Thorpe.«
»Also wie sieht es aus? Ist Ihnen das Angebot von SierraCorp eine Stunde der Beobachtungszeit des Großen Auges wert?«
Meinz schwieg ungefähr eine Minute lang. Endlich beugte er sich vor. »Wir werden ein paar Tage für die Vorbereitungen brauchen, aber wir werden sehen, ob wir nicht das Hundert-Meter-Gerät für eine Stunde oder so freistellen können.«
»Ausgezeichnet«, sagte Thorpe. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich jetzt gern zurückziehen. Ich habe jetzt seit fast zwanzig Stunden nicht mehr geschlafen.«
»Ganz gewiss nicht«, antwortete Meinz. »Professor Grayson wird Sie zu Ihrer Unterkunft begleiten.«
Thorpe schlief bis weit in den nächsten Morgen hinein. Diesen Luxus gestattete er sich nicht oft, doch außer einem Besuch des Observatoriums am Nachmittag hatte er sich ja nichts vorgenommen. Als er gebadet, sich rasiert, die Zähne geputzt und angezogen hatte, war es kurz vor zehn.
Nachdem er sich zweimal verlaufen hatte, schaffte er es, eine Kantine ausfindig zu machen. Die Kantine war leer bis auf einen Mann, der mit einem Laptop und einem Stoß Ausdrucke beschäftigt war. Er brauchte eine Weile, bevor ihm auffiel, dass dem Mann der rechte Arm fehlte. Er musste unwillkürlich daran denken, dass er selbst ebenfalls leicht ein Krüppel sein könnte, wenn sich die Dinge bei seinem Unfall ein wenig anders entwickelt hätten.
Thorpe nickte dem Mann zu, dann begab er sich zum Essensautomaten. Dreißig Sekunden später hielt er ein Tablett mit zwei Scheiben Toast, einem verschlossenen Karton Orangensaft und einen großen Becher Kaffee in der Hand. Er trug sein Essen zu einem Tisch nahe der Eingangstür und setzte sich, um sein Frühstück zu genießen.
»Mr. Thorpe?«
Die raue Altstimme erreichte ihn mit einem Mund voller Toast. Thorpe sah auf und erblickte neben sich eine hochgewachsene blonde Frau. Ihr Haar war um ihr herzförmiges Gesicht herum in der für niedrige Schwerkraft typischen Weise hochtoupiert. Als Nächstes fiel ihm das tiefe Blau ihrer Augen auf und der große Mund, der ein freundliches Lächeln zeigte. Die Frau trug ein ärmelloses Hemd, Shorts und Mondslipper wie er. An ihr sah die Kleidung gut aus. Thorpe schluckte rasch und verschluckte sich beinahe, als er sich aufrappelte.
»Ah … hallo!«
»Sie sind doch Mr. Thorpe, oder?«, fragte die Frau und ihr Gesicht wechselte zu einem Ausdruck milder Verwunderung.
»Ja, das bin ich.«
»Ich bin Amber Hastings. Professor Grayson wird Sie heute nun doch nicht herumführen können. Er hat mich gebeten, Ihnen seine Entschuldigung zu überbringen und seine Stelle einzunehmen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«
»Der Tag, an dem mir eine schöne Frau etwas ausmacht, ist der Tag, an dem ich mir mein Grab schaufeln lasse.«
»Wie galant!« Trotz ihres Versuchs, besonders kultiviert zu erscheinen, bemerkte Thorpe ein plötzliches Rotwerden als Reaktion auf sein Kompliment. »Was dagegen, wenn ich mich setze?«
»Bitte sehr.«
Sie schob ihre langen Beine unter den Tisch und nahm ihm gegenüber Platz.
»Möchten Sie ein Stück Toast?«, fragte er.
»Nein, danke. Es sind nur noch zwei Stunden bis zum Mittagessen. Ich möchte mir meinen Appetit nicht verderben.«
»Ich hatte vor, bis dahin zu warten, aber ich komme um vor Hunger. Das muss wohl die Fahrt im Rolligon gewesen sein.«
Amber lachte. »Das geht jedem so. Das ist die natürliche Antwort darauf, dass man den Trip überlebt hat.«
»Das glaube ich Ihnen auf der Stelle«, stimmte Thorpe zu. »Besonders wenn man bedenkt, wie dieser junge Mann fährt!«
»Oh, Sie hatten Vad als Fahrer? Da können Sie sich noch glücklich schätzen. Verglichen mit seiner Schwester ist er die Vorsicht in Person.«
»Das meinen Sie nicht im Ernst!«
»Absolut. Ich fahre nämlich mit der Sonnenaufgangstour auf Urlaub nach Hause, und ich bete darum, dass dann Vad am Steuer sitzt. Wie ich höre, sind Sie hier, um unseren Kometen zu leasen.«
Er nickte. »Falls die Antworten auf einige Fragen positiv ausfallen. Genau genommen …« Thorpe brach ab und starrte seine Fremdenführerin an. »Hastings? Natürlich, Sie sind der Astronom, der ihn als Erster entdeckt hat, nicht wahr?«
»Eigentlich hat ihn der Observatoriumscomputer entdeckt. Ich habe ihn nur gemeldet.«
»Ich hätte Ihren Namen sofort wiedererkennen müssen«, sagte Thorpe. »Irgendwie hatte ich den Eindruck, Sie wären ein Mann.«
»Ich bin keiner.«
»Das sehe ich«, erwiderte Thorpe mit einem Tonfall, der weit mehr implizierte.
»Machen Sie so weiter, und Sie verdrehen mir den Kopf.«
»Das ist meine Absicht.«
Sie schwiegen, während er sein Frühstück beendete. Sobald er den letzten Schluck der schwarzen Flüssigkeit getrunken hatte, schlug Amber vor, den Rundgang sofort zu beginnen, dann zu Mittag zu essen und ihn am Nachmittag fortzusetzen. Er stimmte sofort zu. Als sie die Cafeteria verließen, übersah Thorpe den einarmigen Mann, der etwas in sein Notizbuch schrieb.
Amber führte ihn zwei Stockwerke nach unten und durch einen Korridor, bis sie zu einem Kontrollraum gelangten.
»Von hier aus steuern wir das Große Auge«, sagte sie und zeigte auf eine hufeisenförmige Konsole. »Das heißt, von hier aus steuern wir die Computer, die das Teleskop überwachen.«
»Weshalb ist niemand hier?«
»Im Moment läuft noch die Nachtschicht. Das Einzige, was nachts schiefgehen kann, ist, dass sich eins der Teleskopsegmente aus der Arretierung löst. Falls das passiert, benachrichtigt der Computer den Diensttuenden, und dieser versucht das Problem zu beheben. Falls er es nicht schafft, ruft er die Wartungstechniker.«
»Ich nehme an, Sie pausieren während des Tages.«
»Aber nein! Luna hat keine Atmosphäre, und somit gibt es auch keine Lichtstreuung, deshalb stört uns die Sonne überhaupt nicht. Jedenfalls achten wir sehr genau darauf, dass das Große Auge während der Positionswechsel keiner direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt wird. Sollte das Licht von Sol jemals auf einen Primärfokus fallen – und sei es auch nur für einen Sekundenbruchteil -, würde der Wärmefluss das Teleskop zerstören. Wir haben alle möglichen Sicherheitssperren in das System eingebaut, um das zu verhindern. Trotzdem hat immer einer von uns hier Dienst, solange die Sonne scheint. Übrigens hatte ich gerade Tagesdienst, als mich der Computer darüber informierte, dass er einen Kometen entdeckt hatte.«
»Wie entdeckt?«
»Er hat die Koma auf einer Aufnahme entdeckt.«
»Könnte ich sie sehen?«
»Natürlich«, sagte sie.
Sie bedeutete ihm, sich neben sie zu stellen, während sie im Operatorsessel Platz nahm. Ihre Finger glitten geschickt über das Keyboard, und der große Bildschirm füllte sich mit Sternen. Einer von ihnen sah anders aus als die anderen.
»Obwohl dies hier unsere erste Aufnahme des Kometen ist, ist sie doch unsere beste. Der Grund dafür ist, dass sie vom Großen Auge stammt. Die Ziffern unten am Rand geben das Datum und die Zeit an, dass 102 Spiegelsegmente aktiviert waren und dass Kollektor und Photonenverstärker Nummer zwei benutzt wurden.«
»Irgendwelche Spuren des Kerns feststellbar?«
»Auf diesem Bild nicht, aber diese spezielle Kombination ist für diese Dinge auch nicht besonders empfindlich.« Amber ließ die Finger über das Keyboard tanzen, und das Bild wurde durch ein anderes ersetzt. Es zeigte die gleiche Sternregion, war jedoch weniger detailliert, so als wäre es aus einer größeren Entfernung aufgenommen. »Das ist unsere zweite Aufnahme, drei Wochen später gemacht. Das ist die, mit der ich die erste Näherungsberechnung des Kometenorbits durchgeführt habe. Wir haben diese erste Näherung natürlich im Wochenturnus verfeinert.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Thorpe. »Ich habe Kopien aller Aktualisierungen der Astronomischen Vereinigung. Interessieren würde mich, was Sie herausgefunden haben und was nicht in den Berichten steht.«
»Nicht viel«, sagte Amber. »Wir haben Spuren aller üblichen Bestandteile entdeckt: Wasserdampf, Kohlenmonoxid, Methan, Stickstoff, Cyanwasserstoff. Das überrascht uns nicht. Die meisten sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Messungen von Kometen ergeben ähnliche Verteilungsmuster flüchtiger Gase.«
Thorpe nickte. »Professor Grayson erwähnte das gestern Abend. Er sagte auch, dass Sie die Größe des Objekts noch nicht quantifizieren könnten.«
»Noch nicht. Sie könnte irgendwo zwischen der eines Schneeballs und der eines großen Mondes liegen.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie als Astronomin eine ganze Menge aus dem nahen Vorbeiflug an Jupiter lernen werden. Schließlich kommt so etwas nicht alle Tage vor!«
»Es passiert öfter, als Sie vielleicht denken.«
»Ach?«
»Ich will damit nicht sagen, dass wir alle Tage Asteroiden oder Kometen bis auf zwei Millionen Kilometer am Jupiter vorbeischwirren sehen. Das wird die engste Begegnung werden, die von Menschen jemals beobachtet wurde. Aber der gute alte Jupiter übt doch einen ziemlichen Einfluss aus. Er ist für die Umlaufbahnen rund der Hälfte der periodischen Kometen des Sonnensystems verantwortlich. Glauben Sie mir, nach den Maßstäben des Universums backen wir hier ziemlich kleine Brötchen. Wenn es nicht so wäre, würde man bestimmt jemand Bedeutenderes als eine junge astronomische Angestellte damit beauftragen, die Sache zu verfolgen. Übrigens«, sagte Amber, »ich würde darauf wetten, dass sich in zehn Jahren niemand mehr an den Kometen P/2085(G) erinnern wird.«
Später sollte Thorpe es bedauern, dass er auf die Wette nicht eingegangen war.