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Harold Barnes hatte größere Angst als je zuvor in seinem ganzen Leben. Vor sechs Monaten war es so leicht erschienen, seine Evakuierungspriorität aufzugeben, um bis ganz zuletzt in Luna City zu bleiben. Die Entscheidung war ihm leichtgefallen. Indem er blieb, hoffte Barnes, ein reicher Mann zu werden.

Die Idee war ihm das erste Mal gekommen, kurz nachdem Premierminister Hobart vor der Forderung der Terrestrier, die Avalon-Option weiterzuverfolgen, kapituliert hatte. Barnes’ Position als inoffizieller Berater des Premierministers hatte ihm bald einen Überblick über die Probleme der Evakuierung Lunas verschafft. Den Mond zu evakuieren bedeutete weit mehr, als lediglich seine Bewohner zur Erde zu transportieren. Man musste sich auch mit dem Bruch in ihrem Leben befassen, den die Umsiedlung mit sich brachte. Die Bewohner Lunas hatten über Generationen daran gearbeitet, ihre atmosphärelose Welt zu einem Heim für ihre Kinder zu machen. Mit der Zeit hatten sie beträchtlichen Reichtum angehäuft. Und wenn Reichtum oft auch in aus Einsen und Nullen bestehenden Zahlenkolonnen in einem Bankcomputer gemessen wird, so bestand doch ein Teil davon aus Gütern, die zu groß waren, um sie auf Schiffe zu laden.

Jeder Flüchtling durfte Gepäck von fünf Kilogramm Gewicht oder einem halben Kubikmeter Volumen mitnehmen. Das reichte für ein paar Kleider und ein paar Erinnerungsstücke. Die meisten Lunarier waren gezwungen gewesen, wertvolle Besitztümer aufzugeben und sollten, entsprechend einer Übereinkunft mit der Erde, für den Verlust entschädigt werden. Nach der öffentlichen Bekanntgabe der Avalon-Option war es eine der ersten Maßnahmen der Regierung gewesen, ein System zur Erstattung der Entschädigungen für verlorenen Besitz einzurichten.

Für jemanden, der sich um Entschädigung bemühte, bestand der erste Schritt darin, dass er bei der örtlichen Filiale der Bank von Luna seine Ansprüche geltend machte. Für bestimmte Gegenstände wurde die Forderung problemlos anerkannt. Für gewisse Besitztümer von hohem Wert, wie Kunstwerke, Gold und andere kostbare Materialien, war ein Gutachten erforderlich. Der Eigentümer wurde aufgefordert, den fraglichen Gegenstand bei einer zentralen Schiedsstelle abzuliefern, wo Expertenteams seinen Marktwert festlegten.

War ein Gegenstand erst einmal geschätzt, erhielt der Besitzer seinen Wert auf seinem Evakuierungskonto auf der Erde gutgeschrieben. Anschließend übergab er den Gegenstand der Bank, damit darauf keine zweite Forderung erhoben werden konnte. Diese Vorsichtsmaßnahme war in erster Linie deshalb erforderlich, weil Goldbarren und ähnliche Dinge nicht individuell unterscheidbar waren. Obwohl es unnötig war, wurde mit Gemälden, Skulpturen und anderen Kunstwerken gleichermaßen verfahren.

Einen Monat vor dem Eintreffen des Kometen hatte Harold Barnes damit begonnen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er nutzte seinen Einfluss aus, um eine Starterlaubnis für sechs Frachtcontainer zu bekommen, die er mit den gesammelten Schätzen aus dem Tresor der Bank belud. Nur die wertvollsten Stücke wurden in die Container geladen. Neben Kunstwerken schaffte er mehrere Tonnen Edelmetall in die Container. Anschließend hatte Barnes zugesehen, wie die Container von einem Beschleunigungsturm zum nächsten schossen und im schwarzen Himmel verschwanden.

Und er allein kannte die Daten ihrer Flugbahnen!

Dann war es nur noch darum gegangen, darauf zu warten, dass er bei der Evakuierung an die Reihe kam. Ursprünglich hatte er eine Woche vor dem Eintreffen des Kometen abfliegen sollen, war jedoch benachrichtigt worden, dass es eine Verzögerung von zwei Tagen geben würde. Aus zwei Tagen waren vier geworden. Dann folgte das mehr als einen Tag dauernde nervenaufreibende Schlangestehen, während er darauf wartete, an Bord gehen zu können.

Er hatte die usschiffungsschleuse bereits in Sichtweite gehabt, als eine Gruppe bewaffneter Männer versucht hatte, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen. So wie tausend andere hatte sich Barnes zitternd auf den Boden gekauert, während ihm die Kugeln um die Ohren flogen. Er hatte erwartet, die Sicherheitskräfte würden kurzen Prozess mit den Angreifern machen, aber das taten sie nicht. Als das Licht ausgefallen war, hatten die Angreifer die zweite Sicherheitsbarriere gestürmt, bloß um zu entdecken, dass die Verteidiger geflohen waren. Ihr Triumphgeheul hatte sich in ein Geschrei der Enttäuschung verwandelt, als eine Boden-Orbit-Fähre nach der anderen abhob. Und Harold Barnes hatte fünfzig Meter vor seinem Ziel erkennen müssen, dass man ihn aufgegeben hatte.

Barnes war zur Durchgangshalle zurückgegangen. Dort gab es wenigstens Fenster, durch die die Sonne schien. Er war nicht der Einzige. Mehr als tausend Menschen, die in Panik ziellos durcheinanderdrängten, füllten die Kuppel von Wand zu Wand. Barnes fand einen freien Flecken nahe einem der Beobachtungsfenster und ließ sich hineinfallen. Allmählich dämmerte ihm, dass seine sechs Container, so wertvoll sie auch sein mochten, weniger wert waren als sein Leben.

»He, Bürger! Wie wär’s, wenn Sie Ihre Beine einziehen würden, damit sich noch jemand setzen kann?«

Barnes blickte teilnahmslos zu dem jungen Punk auf, der über ihm stand. Sie schienen zahlreicher denn je zu sein. Noch vor wenigen Monaten hätte kein solcher Abschaum ihn anzusprechen gewagt, zumindest nicht auf so unverschämte Art und Weise. Jetzt stolzierten sie herum, als gehörte ihnen der Mond! Barnes dachte daran, sich zu beschweren, sagte sich aber, dass es sinnlos war. Um sie herum saßen Hunderte von Menschen, umklammerten ihre Knie und schaukelten in stummer Verzweiflung hin und her. Einige Leute weinten, andere fluchten, die meisten aber saßen schweigend da. Es war Stunden her, dass sie jede Hoffnung auf Rettung verloren hatten, und jetzt gab es nichts anderes mehr zu tun, als auf das Ende zu warten.

»He!«, schrie jemand. »Was ist denn das?« Barnes blickte zu dem Panoramafenster hoch. Im ersten Moment sah er nichts. Dann entdeckte er einen Zylinder, der sich an den Türmen des Massebeschleunigers entlangbewegte. Er drehte den Kopf, um durch das linke Fenster hindurchzusehen. Er konnte gerade noch den Zylinder die Lücke zwischen zwei Türmen überspringen und in der Ferne verschwinden sehen. Er hatte bis zuletzt beschleunigt. Dessen war Barnes sich ganz sicher!

Plötzlich erhob sich lautes Geschrei in der Beobachtungskuppel, als die, die den Zylinder gesehen hatten, ihren Nachbarn davon erzählten. Das Geschrei schwoll rasch an, als tausend Menschen gleichzeitig denselben Einfall hatten. Wie so viele andere war Barnes aufgesprungen und schrie aus voller Lunge. Ob es ein Schrei der Wut oder der Erleichterung war, hätte er nicht sagen können. Er fletschte die Zähne, nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Wolf.


»Weg sind sie!«, sagte Amber, während sie den kleiner werdenden Container auf dem Monitor im Kontrollraum des Massebeschleunigers beobachtete. Die Instrumente zeigten einen nahezu perfekten Start an. Als der Container zwischen den letzten Starttürmen hervorgekommen war, hatte seine Geschwindigkeit 3,2 Kilometer pro Sekunde betragen, was die Fluchtgeschwindigkeit ausreichend überstieg. Auf seiner Flugbahn würde er die Erde umfliegen, bevor er sich wieder dem Mond nähern würde. Der Container würde seine Flugbahn niemals vollenden. Wenn sie hinter der Erde vorbeikamen, würden die Insassen des Containers ihren beschränken Treibstoffvorrat zum Abbremsen einsetzen und in einen stark elliptischen Orbit um die Erde gehen. Anschließend würden sie auf ihre Rettung warten – oder darauf, dass ihr Sauerstoffvorrat zu Ende ging.

»Wie viel Strom haben wir verbraucht?«, fragte Thorpe neben ihr.

»Fünfundachtzig Prozent der Gesamtladung«, gab sie bekannt. »Das bedeutet, dass wir in fünf Stunden wieder volle Ladung haben.«

»Mach, so schnell du kannst. Ich gehe wieder runter, um unsere Schutzmaßnahmen zu überprüfen.«

Bis jetzt hatten sie sich darauf verlassen, dass niemand wusste, was im Innern des Massebeschleunigers vor sich ging. Thorpe war sicher, dass sich dies mit ihrem ersten Start geändert hatte. Hunderte mussten beobachtet haben, wie der Container an dem Startkomplex entlang beschleunigte. Bald würden Tausende davon wissen. Und Menschen, deren letzte Hoffnung auf ein Entkommen soeben zunichte geworden war, musste der Hinweis, dass es doch noch eine Möglichkeit gab, von Luna wegzukommen, wie eine göttliche Offenbarung erscheinen. Thorpe zweifelte nicht daran, dass sie schon bald Besuch bekommen würden. Die Frage war nur, von wem?

Der Zugang, dessen Verteidigung ihnen zunächst am schwierigsten erschienen war, hatte sich als der am leichtesten zu verteidigende herausgestellt. Der Hauptkorridor nach Luna City war eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. So breit wie eine zweispurige Straße auf der Erde, war der Korridor die wichtigste Route, über die ständig Eisblöcke, Rohstoffe und andere Großgüter zum Massebeschleuniger transportiert wurden.

Die Korridore auf Luna wurden alle paar Hundert Meter von druckfesten Toren unterbrochen, die im Falle eines Druckverlustes den Schaden begrenzen sollten. Wie bereits im Hotel, hatten die Observatoriumstechniker zwei aufeinanderfolgende Schleusentore veranlasst, sich irrtümlich zu schließen. Von dem Abschnitt aus, den sie abgeriegelt hatten, führte eine Korridorabzweigung zu einer Oberflächenschleuse. Nachdem sie die Tore verschlossen und in ihren Rahmen verschweißt hatten, klemmte ein Techniker die Sicherheitsvorrichtungen ab, welche die Schleusentore davon abhielten, gleichzeitig geöffnet zu werden. Dann öffnete er die innere Tür, klemmte sie mit Eisenrohr fest und betätigte den Schalter, der die Außentür öffnete. Der folgende Orkan von ausströmender Luft zerfetzte die Außentür und riss den Techniker beinahe mit sich hinaus.

Normalerweise hätte die plötzliche Dekompression eines ganzen Abschnitts des Hauptkorridors in der ganzen Stadt die Alarmglocken klingeln lassen. Vielleicht tat sie das auch noch, doch es gab niemanden, der darauf hätte reagieren können. Die doppelte Vakuumbarriere würde alle Eindringlinge aufhalten. Doch ob sie sie lange genug aufhalten würde, um die Astronomen entkommen zu lassen, war eine Frage, die niemand beantworten konnte.

Bevor die äußeren Drucktore verschlossen waren, hatte Thorpe die Korridorkameras wieder anschließen lassen, um die der Stadt zugewandte Seite der Barriere zu überwachen. Fünfzehn Minuten nach dem Start des ersten Containers informierte ihn Amber über Handfunk darüber, dass sich auf der Außenseite Menschen drängten.

»Was tun sie?«, fragte er.

»Nichts. Sie wirken verwirrt.«

»Gut, hoffen wir, dass es so bleibt!«

Während er seine Inspektionsrunde fortsetzte, versuchte er, nicht daran zu denken, was sich auf der anderen Seite der Barriere abspielte. Wenn er gesehen hätte, wie die Massen verzweifelter Menschen mit den Fäusten auf die Barriere einschlugen, hätte er sich nur allzu leicht die Frage gestellt, welches Recht er hatte, ihnen ihre einzige Fluchtmöglichkeit zu verweigern. Was er tat, war notwendig, aber Thorpe mochte sich dafür nicht.

Den nächsten Halt auf seinem Rundgang legte er in einem Wartungskorridor ein, genau unter dem hinteren Ende des Massebeschleunigers. Dort hatten sie ebenfalls die Schleuse manipuliert – sie hatten die offene Innentür festgeschweißt, nachdem sie außen eine Kamera montiert hatten, um auch diesen Anmarschweg zu überwachen. Mit der offenstehenden Innentür konnte die Außentür, einer Kraft von mehreren Tausend Kilogramm ausgesetzt, nicht aufgedrückt werden. Einer der Techniker beobachtete den Monitor, der ihm ein Bild von der Oberfläche lieferte. Er trug seinen Raumanzug, und der Helm hing an einem Tragriemen vor seiner Brust.

»Irgendeine Bewegung?«

»Bis jetzt nicht, Mr. Thorpe.«

»Passen Sie gut auf! Es wird nicht mehr lange dauern. Sobald sie entdecken, dass die Innentür offen ist, werden sie möglicherweise versuchen, die Sicherheitsluke aufzubrechen. Achten Sie darauf, dass Sie die Dekompression nicht auf der falschen Seite der Drucktür überrascht. Wir werden keine Zeit haben, um Sie zu retten.«

»Verstanden«, antwortete der Techniker, ein junger Lunarier namens Albert Segovia.

»Tom!«

»Ja, Amber?«

»Ich sehe Männer in Raumanzügen vor unserer Außentür. Sie haben etwas dabei. Ich glaube, es ist eine tragbare Schleuse. Sie lassen die Luft aus dem Abschnitt vor unserer Barriere ab und versuchen, ob sie hindurchkommen können.«

»Ganz schön clever«, antwortete er. »Halt mich über ihre Fortschritte auf dem Laufenden. Wie geht’s mit dem Beladen voran?«

»Nach Plan, vielleicht ein bisschen schneller. Ich hab doch so viel wie möglich abgeschaltet und setze zusätzlich noch das bisschen Stadtstrom ein, das wir bekommen.«

»Gute Idee. Ich bin in der Halle, wenn du mich brauchst.«

Thorpe sah auf seine Armbanduhr. Fünfundzwanzig Minuten waren vergangen, seit sie den ersten Container gestartet hatten – mehr als vier Stunden mussten sie noch aushalten!

Der zweite Container wurde nur von zwei Arbeitslampen beleuchtet, die beide über Batterie liefen. Der ganze restliche Strom wurde zu den Kondensatoren umgelenkt. Den flüssigen Sauerstoff hatten sie bereits vor Stunden eingefüllt, und das hintere Ende des Behälters war mit einer dicken Reifschicht bedeckt, da die Luftfeuchtigkeit kondensiert und auf der kalten Oberfläche festgefroren war. Jamie Byrant schlang in regelmäßigen Zeitabständen ein Drahtseil um die Hülle und kratzte den Reif ab. Thorpe befürchtete, er könnte beim Start an einer der Halteklammern hängenbleiben und den Container ins Taumeln bringen.

»Wie läuft’s denn so?«, fragte er Byrant.

»Wir sind so weit, ihn in den Flaschenzug einzuhängen. Wann sollen wir einsteigen?«

»Im Moment noch nicht. Mit sieben Leuten können wir nicht viel gegen den Mob ausrichten, wenn er reinkommen sollte, aber wenn wir erst mal in diesem Ding eingeschlossen sind, können wir gar nichts mehr tun. Hören Sie den Funkverkehr ab?«

Byrant nickte.

»Passen Sie auf, wenn ich die Anweisung gebe, die Anzüge anzulegen. Machen Sie dann, so schnell Sie können. Wo sind Niels und Margaret?«

Byrant winkte mit dem Daumen in Richtung Container. »Sichern drinnen die Ladung. Wir haben nicht ganz so viele Ösen an die Wand geschweißt, wie wir hätten sollen. Sie haben Probleme, alles festzubinden.«

»Ich bin sicher, es gibt hundert Dinge, die wir hätten besser machen können«, erwiderte Thorpe. »Wir haben alles getan, wofür die Zeit gereicht hat.«

»Äh, Thomas …«

»Ja?«

»Ich habe nachgedacht. Was passiert, wenn der Mob hier reinkommt?«

»Sie werden uns in Stücke reißen und dann darum kämpfen, wer in den Container kommt, und ihn dabei wahrscheinlich zerstören.«

»Und wenn sie begreifen, dass sie nicht hereinkommen können? Was werden sie dann tun?«

»Wenn ich dort draußen wäre und wirklich verzweifelt, dann würde ich, glaube ich, versuchen, den Massebeschleuniger zu beschädigen und den Start zu verhindern. In der Not ist man nicht gern allein, wissen Sie.«

»Was für ein netter Gedanke!«

Thorpe lächelte ihm aufmunternd zu. »Hoffen wir, dass sie nicht darauf kommen.«


Drei Stunden später war es offensichtlich, dass sie sich mit dieser Möglichkeit nicht würden beschäftigen müssen. Die Menschenmenge im Korridor hatte sich zügig darangemacht, ihre tragbare Schleuse aufzustellen, und hatte es geschafft, den Korridorabschnitt vor der Barriere leerzupumpen. Der ganze Vorgang hatte weniger als neunzig Minuten in Anspruch genommen. Während eine Gruppe arbeitete, waren mehr und mehr hinten im Korridor verschwunden. Vermutlich waren sie ihre Anzüge holen gegangen, denn nach mehreren Minuten tauchte eine gleiche Anzahl von Personen in Raumanzügen auf.

Wenn Thorpe versucht hätte, die Barriere zu durchbrechen, dann hätte er vor der Sperre eine weitere Drucktür geschlossen und die Luft im Korridor nach außen abgelassen. Das hätte das Aufstellen der unhandlichen Notschleuse überflüssig gemacht. Natürlich wäre auf diese Weise auch jedermann auf der Stadtseite vor der neugeschlossenen Drucktür ausgesperrt worden, und nur die mit Raumanzügen ausgerüsteten Personen hätten Zugang gehabt, die an dem Durchbruchunternehmen teilnahmen. Die Masse der Leute, vermutete Thorpe, war nicht einverstanden gewesen, es mit der schnellen Methode zu versuchen.

Das Ausbruchsunternehmen stieß auf ein Hindernis, als die Leute bemerkten, dass sich die Drucktür auch nach Entfernen des Differenzials nicht öffnen ließ. Dadurch wurden sie weitere fünfzehn Minuten aufgehalten, während deren sie auf der gegenüberliegenden Seite der Notschleuse berieten. Die Schleuse bestand aus einem durchscheinenden Material, durch das hindurch Schatten zu erkennen waren, das die Einzelheiten jedoch vor Thorpes Kameras verbarg. Der düstere Schein der Notbeleuchtung trug ein Übriges dazu bei.

Der Grund für die Verzögerung wurde offenbar, als die Korridorkamera plötzlich ausfiel und wenige Sekunden darauf ein entferntes Wumm! durch die Hallenwände hindurch zu hören war. Die erste Absperrtür war gesprengt worden.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange, Leute. In die Anzüge! Schnell!«

Thorpe hatte seinen vorsichtshalber bereits angelegt. Er schränkte zwar seine Beweglichkeit ein, würde ihm aber das Leben retten, wenn die Menge im Korridor es schaffte, die Anlage in den Raum hinaus zu entlüften. Die Ladehalle war von einer Größe, bei der eine Unterteilung durch Sicherheitsschotts nicht mehr möglich war. Wenn die Drucktüren in den Korridoren aufgebrochen wurden, wäre eine explosive und vollständige Dekompression die Folge.

Er eilte zum Kontrollraum. »Wie lange noch, bis wir genug Ladung haben, um starten zu können?«

»Wir brauchen noch neunzig Minuten bis zur vollen Ladung«, sagte Amber. Sie hatte ebenfalls ihren Raumanzug angelegt und ihren Helm aufgesetzt.

»Wir haben nicht mehr die Zeit, bis zur vollen Ladung zu warten. Wann können wir frühestens starten, vorausgesetzt, dass nichts schiefgeht?«

»In fünfundzwanzig Minuten«, sagte sie. »Damit kommen wir knapp über den Berg.«

Der ›Berg‹ war Lunas Fluchtgeschwindigkeit. Von einem Schiff, das mit wenig mehr als den 2,38 Sekundenkilometern Fluchtgeschwindigkeit startete, sagte man, es sei ›knapp über den Berg‹. Es würde im Raum beinahe zum Stillstand kommen, bevor es in das Gravitationsfeld der Erde überwechseln und dann seinen langen Fall in Richtung des größeren Planeten beginnen würde.

»In Ordnung«, sagte er. »Stell die Kontrollen auf einen Start in dreißig Minuten ein, dann mach, dass du in den Container kommst.«

»Wir sollten eine größere Reserve haben«, warnte sie.

»Wir haben nicht mehr die Zeit. Tu jetzt, was ich dir sage, verdammt nochmal!«

»Ja, Thomas. In fünf Minuten bin ich unterwegs.«

Thorpe suchte als Nächstes Segovia auf. »Was Neues?«

»Weiß nicht. Ich glaube, ich habe vor ein paar Minuten einen Schatten im Gesichtsfeld gehabt.«

»Wo?«, fragte Thorpe.

»Genau da!« Er zeigte auf die Unterkante des Bildschirms. Die Sonne stand hinter der Kamera, und wenn jemand hinter ihr vorbeigegangen war, konnte sein langer Schatten gut in den Blickwinkel der Kamera geraten sein.

Thorpe überlegte, was er tun sollte, wenn das Bild ausfallen sollte.

»Wir sind jetzt so weit!«, sagte er. »Gehen Sie in den Container. Ich kümmere mich darum.«

Während Segovia den Korridor entlangrannte, beugte sich Thorpe vor und tat einen Schritt über die hochgezogene Einfassung der Drucktür ins Innere der Schleuse. Vorsichtig spähte er um das Schleusensüll herum, bis er die zehn Zentimeter kleinen Fenster in der Außentür sehen konnte. Dahinter war das helle Sonnenlicht der Mondebene. Plötzlich erschien ein Schatten jenseits des Fensters. Der Schatten verschwand und machte einem ringförmigen Gegenstand Platz, von dem zahlreiche Drähte zur Glasaußenseite führten.

Thorpe machte einen Satz rückwärts und stolperte über die Türeinfassung, als die Glasscheibe auch schon nach innen explodierte und ein Orkan an ihm vorbeibrauste. Der Orkan dauerte nur so lange, bis die Drucktür ihre Explosivladung zündete und aus der Wandvertiefung sprang, um den Korridor abzuschließen. Dabei verfehlte sie Thorpes Stiefel um einen Zentimeter. Er starrte sie ein paar Sekunden lang an und schauderte. Drucktüren waren so konstruiert, dass sie sich schlossen, ungeachtet dessen, was sich ihnen in den Weg stellte. Wäre sein Bein in der Tür gewesen, hätte sie es amputiert.

Er rappelte sich auf und trat vor, um sich die Tür anzusehen. Die Eindringlinge hatten die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Sie konnten die Innentür aufdrücken, sie wieder schließen und den Zwischenraum belüften, was es ihnen ermöglichen würde, die Sicherheitstür zu öffnen. Oder aber sie konnten sie aufsprengen und die gesamte Luft des Massebeschleunigers ins Vakuum entlassen.

»Helme aufsetzen, Leute!«, kommandierte er in sein Funkgerät. »Bestätigung.«

Er wartete, bis er die unheimlich hallenden Antworten aus der Höhle empfangen hatte, dann setzte er seinen eigenen Helm auf.

Fünf Minuten später befand er sich wieder am Container. Alle sechs anderen waren bereits da.

»Gehen wir an Bord. Ich bleibe draußen, um die Winsch zu bedienen.«

Wenn ein Container startfertig war, wurde er von einem automatischen Ladesystem durch eine Schleuse zum Ende der elektromagnetischen Kappe hinaufgehievt. Da der Vorgang automatisch ablief, blieben jedem, der den Mechanismus auslöste, weniger als dreißig Sekunden, um die Halle zu durchqueren, an Bord zu klettern und die Luke hinter sich zu schließen, bevor sie in der Startschleuder platziert wurden. Ohne seinen Raumanzug wäre es kein Problem gewesen. Mit ihm bestand die Möglichkeit, dass er es nicht schaffen würde.

»Fertig, Tom«, meldete ihm Amber. Sie lehnte sich aus dem Container und beobachtete ihn. Er ging zum nahen Computerterminal hinüber und drückte den Schalter, der den Vorgang auslöste. Gleich darauf stürmte er zum Container zurück, während der Automatikkran mit langen, biegsamen Armen hinuntergriff, um diesen zu packen.

Er schaffte es fünf Sekunden vor der Zeit und hechtete mit dem Kopf voran durch die Luke des Containers, gerade als er hochkant gestellt und zum Zubringerschacht im Dach gehoben wurde. Im Innern lag er auf dem 3eschleunigungsnetz, das sie aus Stromkabeln geflochten hatten. Er half Amber, die behelfsmäßige Luke von innen zu sichern, und legte sich dann auf das Netz nieder, um wieder zu Atem zu kommen.

In dem Moment, als der Container die Frachtschleuse erreichte, durch die er an die Oberfläche gelangen würde, hörten sie die Explosion.

Thorpe wandte den Kopf der neben ihm liegenden Amber zu. »Na, eine von beiden Gruppen hat sich endlich durchgeboxt. Wie viele Minuten noch bis zum Start?«

»Sechs«, antwortete sie.

»Wie schwer ist es für sie, unseren Start abzubrechen?«

»Das können sie nicht«, sagte sie und schüttelte im Innern des Helms den Kopf. »Ich habe alles auf höchste Priorität gestellt. Sie müssten das Passwort haben, um reinzukommen und uns aufzuhalten.«

»Und wie lautet das Paßwort?«

»Hundertfünfzigjährig«, sagte sie lachend.

»Das müsste es tun. Können sie die Geräte im Kontrollraum zertrümmern und uns dadurch aufhalten?«

»Nur wenn sie den Computer ein Stockwerk weiter unten erwischen. Diese Tür ist gepanzert.«

»Sie haben Sprengstoff.«

»Ich hoffe, sie kommen erst dann darauf, wenn es zu spät ist.«

Einmal durch die Schleuse durch, dauerte der Ladevorgang noch dreißig Sekunden. Sie fanden sich auf einem Hängeschlitten wieder, der den Container mit einer Reihe von Seilrollen verband. Die Konstruktion war jedoch nicht massiv, und Niels Grayson gab bekannt, dass er hinter den Streben des Startbeschleunigers sonnenbeschienenen Boden sehen könne.

Zwei Minuten warteten sie schweigend. Plötzlich meldete Niels, dass er draußen sich bewegende Gestalten sähe.

»O mein Gott, Thomas! Sie klettern an der Anlage hoch. Sie können den Container sehen.«

»Immer mit der Ruhe. Wie lange noch, Amber?«

»Zwei Minuten, zwölf Sekunden«, sagte sie mit zusammengepressten Zähnen.

»Sagen Sie mir, wann sie da sind«, sagte Thorpe. Seine Gedanken überschlugen sich, während er überlegte, was sie unternehmen könnten. Endlich hatte er einen Einfall. »Alle auf Kanal Sieben umschalten, schnell. Wenn sie nah genug sind, um Sie durch die Luke sehen zu können, geben Sie ihnen Zeichen, dass Ihr Funkgerät ausgefallen ist.«

Es klickte mehrmals, als jeder von ihnen auf einen der Spezialkanäle umschaltete, die so gut wie nie für Kommunikationszwecke benutzt wurden.

»Sie sind da«, meldete Grayson einen Moment später. Jemand hämmerte auf die Seitenwand des Containers. Dann beugte sich eine der vakuumbekleideten Gestalten vor, um in die abgedunkelte Luke zu schauen. »Sie sehen mich.«

»Signalisieren Sie, dass Ihr Radio ausgefallen ist.«

»Tue ich. Er wirkt erregt. Ich signalisiere, dass ich ihn nicht höre … Jetzt bedeutet er mir mit Handzeichen, ich solle herauskommen … Ich signalisiere zurück, dass ich ihn nicht verstehe … Warten Sie, er ist weg.«

»Wie lange noch?«

»Neunzig Sekunden.«

»Lässt sich draußen erkennen, dass wir im Begriff sind zu starten?«

»Ich glaube nicht.«

»Er ist wieder da«, meldete Grayson. »Er hat soeben etwas an die Luke geheftet. Es sieht aus wie ein Pfannkuchen, mit dicken Drähten, die nach außen abgehen. Er bedeutet mir wieder, ich solle rauskommen, zeigt auf das Ding und gibt Handzeichen. Ich kann mir keinen Reim drauf machen.«

»Ich schon«, sagte Thorpe. »Er sagt, dass wir rauskommen sollen, oder er sprengt uns in die Luft. Schnallen Sie sich los und kriechen Sie auf ein Netz weiter oben. Kann er sonst jemanden sehen?«

»Nein.« Die Luken befanden sich genau vor der Containermitte, nahe dem hinteren Spant. Grayson hatte den Fensterplatz aufgrund des Vorrechts des Alters für sich beansprucht. Thorpe hörte ihn mehr, als dass er ihn sah, als Grayson sich langsam vom Netz herunterbewegte und vorwärtskroch, als wollte er zur Luke. »Wie lange noch?«, fragte Thorpe.

»Dreißig Sekunden.«

»Passen Sie auf, dass Sie gesichert sind«, warnte er Grayson. »Jetzt nur noch einen Moment.«

»Was war das?«

»Bleibt ihnen noch Zeit, dieses Ding zu zünden, wenn wir uns anfangen zu bewegen, und wenn nicht, wird das Magnetfeld so viel Strom in den Zünddrähten induzieren, dass es von allein losgeht?«

Darauf gab es keine Antwort. Amber begann die Sekunden bis zum Start zu zählen. Der Container hallte plötzlich von einem lauten Schlag wider, als die Männer draußen ihrer Forderung, dass sie rauskommen sollten, Nachdruck verliehen. Amber zählte »fünf«, und Thorpe hielt den Atem an.

Er wollte gerade sagen, dass die Uhr nachging, als sein ganzer Körper von einer Faust gepackt und niedergedrückt wurde. Das war das Letzte, woran er sich für lange Zeit erinnerte.


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