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Millionen Jahre lang war die Sonne nichts weiter gewesen als die hellste Lichtquelle am Himmel, ein kalter Stern, der sich wenig von den abertausend anderen unterschieden hatte, die am schwarzen Firmament sichtbar waren; jetzt wurde sie Monat für Monat, Jahr für Jahr zusehends größer. Die Veränderung ging nicht ohne Präzedenzfall vonstatten. Vor einer Milliarde Jahre war der Planetoid mit einem die Erde weit jenseits des Pluto umkreisenden Trümmerstück kollidiert. Die Wucht des Zusammenpralls hatte seine Umlaufbahn für immer verändert. Einhundertundelfmal war der Planetoid tief in das feurige Innere des Sonnensystems eingetaucht, war um die Sonne herumgewirbelt und hatte sich dann ein weiteres Mal in die kalte Schwärze zurückgezogen. Jedes Mal war das Ereignis von einem Hellerwerden des fernen gelben Sterns angekündigt worden.

Etwa zu dem Zeitpunkt, als die Sonne als Scheibe erkennbar wurde, regten sich über den vereisten Ebenen und Felsklüften ätherische Winde, denn Wasserstoff und Sauerstoff verwandelten sich allmählich in Dampf. Die Winde waren zunächst so unstofflich wie Gespenster, kaum mehr als einzelne Moleküle, die der schwachen Gravitation des Planetoiden entschlüpften. Später dann, als die Sonne am Himmel noch größer geworden war, begann die verschneite Oberfläche schwache Gasströme auszustoßen, Staub und Dampf. So schwach sie auch war, reichte die Schwerkraft des Planetoiden doch aus, ihn mit einer Schicht von hauchdünnem Nebel zu umhüllen. Als das fliegende Gebirge die Umlaufbahn des Uranus kreuzte, war der Nebel so dicht geworden, dass er den Planetoiden vor jedem verbarg, der ihn unter den Hintergrundsternen anpeilen mochte.


Amber Hastings saß an ihrem Schreibtisch und beobachtete versonnen, wie das große Hundert-Meter-Komposit-Teleskop des Farside-Observatoriums schwerfällig in Position schwang. Ihr Blickwinkel lag von dem riesigen Apparat aus beinahe exakt in Sonnenrichtung. Beim Zusehen streckten sich länger werdende Schatten über den Boden des Mendelejew-Kraters aus. Das Bild stammte von einer der Hochkameras, die so angebracht waren, dass sie ein Panoramabild des größten astronomischen Instruments im Sonnensystem lieferten. Im Hintergrund erhob sich der graubraune Rand der westlichen Kraterwand, von keiner Atmosphäre getrübt, als scharfes Relief über den gewölbten Horizont.

Das Teleskop schien eine Art riesige metallische Blume zu sein, die Lunas luftlosem, sterilem Boden entspross. Die sechseckigen Blätter der Pflanze reflektierten die Umgebung mit der Verzerrung parabolischer Spiegel. An drei Stellen an der Peripherie des Instruments hoben sich auf ausfahrbaren Galgen flache Spiegel himmelwärts, die an sonderbar verrenkte Staubgefäße erinnerten. Die Ähnlichkeit mit einer fremdartigen Pflanze wurde noch durch die Schutzhülle des Teleskops verstärkt, deren acht Elemente wie die Blütenblätter einer Rose zurückgefaltet waren.

Amber sah zu, wie der riesige Apparat bei einer Ausrichtung ungefähr auf den galaktischen Süden zur Ruhe kam. Von den Fünf-Meter-Spiegeln des Teleskops wurde Sternenlicht zu dem Fokusverdichter Nummer drei reflektiert, der das hochgradig gebündelte Bild in den Strahlenleiter schickte. Von dort wurden die Photonen in den Messraum des Observatoriums geleitet, fünfzig Meter unter der Oberfläche des Kraters. Dort wurde das Licht von einer Reihe komplizierter Geräte untersucht, in der Hoffnung, dass es dazu gebracht werden konnte, seine Geheimnisse preiszugeben.

Amber Elizabeth Hastings war eine typische Lunarierin, hochgewachsen nach irdischen Maßstäben – ein Meter achtzig – und mit einer Neigung zur Schlaksigkeit. Die Shorts, das ärmellose Trikot und die Slipper, die die normale Kleidung in den klimatisierten Städten Lunas darstellten, verbargen ihre volle, wenn auch grobknochige Figur nur wenig. Sie war eine nordische Blondine mit blauen Augen. Im Gegensatz zu den kurzgeschnittenen Frisuren, die von den meisten Frauen auf Luna bevorzugt wurden, trug sie ihr Haar schulterlang.

Amber war vor fünfundzwanzig Jahren in der kleinen Siedlung Miner’s Luck geboren worden, nahe dem Darwin-Krater auf der Hochebene von Nearside, der erdzugewandten Seite des Mondes. Im Alter von achtzehn Jahren war sie mit der Absicht, Umwelttechniker zu werden, zur Universität von Luna gewechselt. Bald schon hatte sie erkannt, dass ein Leben in den Eingeweiden der Mondstädte keine große Attraktivität für sie besaß, und hatte sich nach einem neuen Beruf umgesehen.

Der Besuch einer Universität sollte eine Vorbereitung auf das spätere Leben sein. In Ambers Fall hatte sich ihre Abneigung gegenüber den meisten Studienfächern nur verstärkt. Die einzige Vorlesung, an der sie während ihres ersten Jahres Freude hatte, war eine Einführung in die Astronomie.

Wie die meisten Lunarier, so hatte auch Amber dem Himmel niemals viel Beachtung geschenkt. Lunas unterirdische Städte boten wenig Gelegenheit zur Beobachtung der Sterne. Und da Amber auf Nearside aufgewachsen war, hatte die Erde, wann immer sie die Gelegenheit zur Himmelsbeobachtung wahrgenommen hatte, den Ausblick dominiert. Verglichen mit der Wiege der Menschheit erschienen die winzigen Lichtpünktchen, die die Sterne waren, blass und unbedeutend.

Die Einführung in die Astronomie hatte ihr für das Universum jenseits von Luna die Augen geöffnet. Sie hatte den spiralförmigen Schwung der Andromedagalaxis bestaunt, hatte sich von der strahlenden blauweißen Pracht der Plejaden beeindrucken lassen und hatte über der stillen vielfarbigen Schönheit des Pferdekopfnebels geseufzt. Jede neue Entdeckung hatte ihren Wunsch verstärkt, mehr lernen zu wollen. Und so hatte Amber nach ihrem ersten Studienjahr Astronomie als Hauptfach gewählt, wobei der Wechsel einen Notbehelf darstellen sollte, bis sie etwas Dauerhaftes gefunden hätte.

Drei Jahre später – und ein wenig zu ihrer eigenen Überraschung – erhielt Amber den Bakkalaureus der Astronomischen Wissenschaften. Gleichzeitig wurde ihr eine Stelle am Farside-Observatorium angeboten. Den Kopf voller Phantasien über rasche, brillante Entdeckungen, hatte sie freudig zugesagt. Die Realität hatte sich als weniger abenteuerlich herausgestellt.

Wie so viele andere Bereiche auch, hatte die Computerrevolution die Astronomie für immer verändert. Vorbei waren die Tage, da sich ein einsamer Astronom warm anzog und die Nacht in der Beobachtungskuppel eines riesigen Teleskops verbrachte. Und ebenfalls vorbei war es mit den Wochen und Monaten des Vergrößerns der Fotoplatten und des mühsamen Zuordnens der Absorptionslinien des Sternenspektrums.

Ein moderner Astronom konnte an einem beliebigen Ort im Sonnensystem in seinem Sessel sitzen, ein Beobachtungsprogramm ausarbeiten und sein Vorhaben und seine Berechtigungsnummer an das Observatorium seiner Wahl übermitteln. Zu gegebener Zeit würde er Multispektralaufnahmen und numerische Daten erhalten, alles sauber mit Kommentaren versehen. In der Zeit, die zwischen Anfrage und Resultat lag, lief der Prozess praktisch ohne menschliche Einwirkung ab.

Im letzten Viertel des einundzwanzigsten Jahrhunderts war es der Computer des Observatoriums, der seine Teleskope ausrichtete und sie so steuerte, dass sie der Bewegung der Sterne über den Himmel folgten. Die Computer überwachten die Beobachtungszeiten, zeichneten die Daten auf und schrieben die Berichte. Manchmal stießen die Computer bei der Analyse der Daten auf Phänomene, die mit den zu beobachtenden Objekten nichts zu tun hatten. Wenn das geschah, meldeten sie sich beim menschlichen Personal.

Und so kam es, dass Amber Hastings das große Teleskop überwachte, als der Observatoriumscomputer um ihre Aufmerksamkeit bat.

»Was gibt es?«, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen.

»Ich habe eine Meldung über die Entdeckung eines Asteroiden /Kometen«, sagte das Gerät mit seinem allzu vollkommenen Bariton. »Wollen Sie es jetzt gleich überprüfen?«

»Nichts dagegen«, erwiderte sie. »Ich habe sowieso noch vier Stunden Dienst.«

Wie die meisten jüngeren der am Farside Observatorium Beschäftigten war Amber als Intra-System-Spezialistin eingeteilt worden, was bedeutete, dass sie für die Bestätigung und Einordnung neugesichteter Kometen und Asteroiden zuständig war. Während ihrer drei Jahre am Observatorium hatte sie ein halbes Tausend Sichtungen überprüft. Die Erregung, die sie anfangs dabei empfunden hatte, war längst verschwunden.

Auf dem Bildschirm vor ihr erschien das Bild eines Himmelsausschnitts. Sie erkannte den offenen Sternenhaufen NGC 2301, der vor zwei Wochen Gegenstand eines langen Beobachtungsprogramms gewesen war. Rund um den Sternenhaufen herum befand sich ein Dickicht von Sternen. Amber ließ ihren Blick rasch über den Bildschirm schweifen. Zunächst fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. Dann wurden ihre Augen von der rechten unteren Bildschirmecke angezogen. Dort entdeckte sie einen schwachen Lichtflecken.

»Das da?«, fragte sie und berührte das Bild mit ihrem Finger.

»Positiv«, erwiderte der Computer. »Dieses Bild wurde vor zehn Tagen um 13:12:15 Weltzeit aufgenommen.«

Amber las die Positionsdaten des Objekts ab und nahm zur Kenntnis, dass es beinahe in der Ebene der Ekliptik und in der Richtung des Sternbilds Einhorn lag. »Wie kommst du darauf, dass es sich um einen Kometen handelt? Dieses Gebiet liegt nahe dem Rosettennebel und dem großen Fleck im Sternbild Orion.«

»Das Spektrum entspricht dem einer typischen Kometenkoma, die von Sonnenlicht zum Leuchten gebracht wird.«

»Dopplereffekt?«

»Ja.«

»Wie groß?«

»So groß, um auf eine Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Sekunde relativ zum Beobachtungsvektor zu schließen.«

»Interessant«, meinte Amber nachdenklich. »Größenschätzung?«

»Keine.«

»Entfernungsschätzung?«

»Keine. Dies ist die einzige Aufnahme des Objekts.«

Amber nickte. Das Fehlen einer Methode zur Entfernungsbestimmung bei Vorliegen nur einer einzigen Aufnahme stellte eines der großen Probleme der Astronomen dar. Um eine Triangulation der Position eines Objekts durchzuführen, musste man entweder zwei Aufnahmen von weit auseinanderliegenden Punkten, oder drei Aufnahmen zu verschiedenen Zeiten von einem einzigen Beobachtungspunkt aus machen.

Amber notierte sich die Einzelheiten der ersten Sichtung, einschließlich der Tatsache, dass nur ein Viertel der Spiegel des Großen Auges aktiv gewesen war. Es war nicht ungewöhnlich, dass das Teleskop in drei selbstständige Untereinheiten aufgeteilt wurde, die gleichzeitig verschiedene Himmelssektoren untersuchten. Gerade die Fähigkeit, mehrere Beobachtungen simultan ausführen zu können, versetzte das Farside-Observatorium in die Lage, mit der Nachfrage Schritt zu halten. Selbst so gab es eine lange Warteliste für das große Teleskop.

»Wann kann Das Große Auge die Sichtung überprüfen?«, fragte Amber.

»In acht Monaten, es sei denn, es kommt zu Streichungen im Programm oder zu unvorhergesehenen Störungen.«

Amber seufzte. »Bring das 60-cm-Teleskop in Position und mach mir eine zweite Aufnahme.«

»Ich kann Ihre Anweisung nicht ausführen. Dieser Himmelsausschnitt ist vor drei Tagen hinter dem westlichen Kraterrand untergegangen.«

»Wann taucht er wieder auf?«

»In zwei Wochen.«

»Sehr schön«, sagte Amber. »Reserviere eine 60-cm-Beobachtung zu einem Zeitpunkt möglichst bald nach seinem Wiederauftauchen. Wenn du das Objekt nicht an seiner früheren Position vorfindest, führe eine Standardvermessung in drei Beobachtungsfeldern um diesen Punkt herum durch. Benachrichtige mich, wenn du deine Aufgabe durchgeführt hast. Wiederhole.«

Der Computer wiederholte Ambers Anweisungen, dann erschien auf dem Bildschirm wieder das Große Auge. Amber wandte sich wieder ihrer übrigen Arbeit zu und dachte nicht mehr an das, was der Computer entdeckt hatte, was immer es auch sein mochte.


Thomas Bronson Thorpe sprang mit einem Satz in den schwarzen Himmel, von dem kein olympischer Athlet auch nur geträumt hätte. Das Geräusch seines Atems war laut in seinen Ohren, als er ein Dutzend Meter hoch über die pockennarbige Ebene aufstieg. Die Sonne befand sich hinter dem Horizont, doch die sichelförmige Erde, mit dem ein wenig volleren Mond unter ihr, stand hoch am Himmel. Der blauweiße Glanz der Erdsichel goss ein zwielichtiges Dämmerlicht über die öde Landschaft des Felsens. Als er den höchsten Punkt seiner Flugbahn erreicht hatte, ließ Thorpe seinen geschulten Blick über die kleine Welt schweifen. Überall um ihn herum erstreckte sich das Wirrwarr der Schwerindustrie. Den meisten wäre es wie ein sich von Horizont zu Horizont erstreckender Schuttabladeplatz erschienen, für Tom Thorpe stellte jede leere Gasflasche und jedes gebrauchte Kabelstück ein Zeugnis des menschlichen Triumphs über ein gleichgültiges Universum dar.

Seinem Namen zum Trotz war der Gesteinsanteil des Felsens äußerst gering. Genau genommen bestand er fast ausschließlich aus Nickelerz. Milliarden Jahre lang war der Asteroid seiner elliptischen Bahn um die Sonne gefolgt und war dem wunderschönen blauweißen Planeten nur gelegentlich nahe gekommen. Wegen seines kleinen Durchmessers – vier Kilometer – und der Zehn-Grad-Neigung seines Orbits war der Felsen lange Zeit der Aufmerksamkeit entgangen. Mit seiner Anonymität war es im Jahre 2037 vorbei. In jenem Jahr hatte er sich Luna auf weniger als zwei Millionen Kilometer genähert, der naheste Vorbeiflug des Felsens seit mehr als einem Jahrhundert.

Der Asteroid hätte selbst dann noch unbemerkt bleiben können, wenn seine Entdeckung allein den optisch arbeitenden Astronomen überlassen gewesen wäre. Diese hatten ihre Instrumente weit über den cislunaren Raum hinaus ausgerichtet; genau genommen in den Raum jenseits des Sonnensystems. Ihr Interesse galt explodierenden Galaxien und weit entfernten Quasaren. Sie hatten die prosaische Beschäftigung, zur langen Liste der sich der Erde nähernden Asteroiden einen weiteren unbedeutenden Planeten hinzuzufügen, hinter sich gelassen.

Glücklicherweise wurde der Raum zwischen Erde und Mond seit langem von Radargeräten zum Zwecke der Verkehrskontrolle überwacht. Bei der Annäherung des Felsens kam es bei einem dieser Geräte zu einer Störung der Messkreise. Anstatt lediglich diejenigen Signale weiterzumelden, für die es gedacht war, begann das Radargerät alles zu registrieren, was sich in seinem Erfassungsbereich befand. Als es ein schnellbewegtes Objekt zwei Millionen Kilometer über Luna meldete, kümmerte sich das Verkehrskontrollzentrum in Luna City sofort darum. Das Zentrum verfolgte den vorwitzigen Asteroiden länger als eine Stunde, bis er hinter seinem lokalen Horizont verschwand. Die Verkehrslotsen ermittelten die Flugbahn des mysteriösen Objekts. Sie gaben die Informationen an die Astronomische Vereinigung weiter, wo sie zwei Jahrzehnte lang nicht beachtet wurden.

Bereits in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es Pläne gegeben, den mineralischen Reichtum der Asteroiden auszubeuten, und erste Versuche dazu wurden im einundzwanzigsten Jahrhundert angestellt. Alle waren gescheitert. Die Flugzeit und die Entfernungen, die beim Flug zum Asteroidengürtel und wieder retour zurückgelegt werden mussten, hatten den Betrieb der Minen zu teuer gemacht.

Im Jahr 2060 wählte ein Student mit Namen Halver Smith den Asteroidenbergbau zum Thema seiner Doktorarbeit in den Wirtschaftswissenschaften. Smith gelangte zu dem Schluss, dass ein solches Vorhaben nicht notwendigerweise unrentabel sein musste. Schließlich überstieg der Wert eines Kubikkilometers Asteroidenmetall, das zur Erde geschafft wurde, das vereinte Bruttosozialprodukt der drei größten Nationen. Das Problem des mit dem Transport von Versorgungsmaterial zum Asteroidengürtel und dem Abtransport der Produkte zur Erde verbundenen Zeitaufwands blieb jedoch weiter bestehen.

Smith schlug eine Lösung des Problems vor. Anstatt zum Asteroidengürtel zu fliegen, könnte man doch einen Asteroiden in eine Umlaufbahn zur Erde bringen, argumentierte er. Er nannte seine Idee die ›Berg-zum-Propheten-Methode‹. Zur Verwirklichung dieses Plans musste der geeignete Asteroid in der geeigneten Umlaufbahn gefunden werden. Um seine Argumente abzusichern, durchsuchte er die Datenbanken der Astronomischen Vereinigung nach möglichen Kandidaten. Bei dieser Suche stieß er auf den Bericht des nahen Vorbeiflugs im Jahre 2037.

Halver Smith wurde der Doktortitel in den Wirtschaftswissenschaften verliehen. Seinen Vorschlag hielt man jedoch nicht für besonders praktikabel. Nach der Promotion benutzte er eine kleine Erbschaft dazu, in eine neue Methode zur Extraktion seltener Erden aus minderwertigen Erzen zu investieren. Als sein Reichtum zunahm, begann er ernsthaft über eine Verwirklichung seiner Hypothese nachzudenken.

Tom Thorpe war ein frischgebackener Studienabgänger der Bergbauschule von Colorado, als er auf Halver Smiths Anzeige antwortete, in der dieser für die Arbeit im Vakuum qualifizierte Bergbauingenieure suchte. Der Job, fand er bald heraus, bestand in der Ausbeutung eines sich der Erde nähernden Asteroiden. Er und ein Dutzend weiterer Weltraumaffen drängten sich beim Anflug um die Sichtluken des Prospektionsschiffes Sierra Madre. Als sie ihres Zieles ansichtig wurden, rief Perry Allen, der Vorlauteste der Gruppe: »Es ist ja bloß ein gottverdammter Felsen!«

Sie verbrachten den nächsten Monat damit, überall auf dem Asteroiden herumzuschwärmen. Sie bohrten tief in seine Oberfläche und untersuchten die Reinheit ihrer Proben. Mittels Ultraschall untersuchten sie sogar noch tiefere Schichten. Ihre Analysen bestätigten, dass der Felsen ein Glücksfund war, ein beinahe reiner Klumpen Nickelerz, vermengt mit Spuren von Kupfer, Silber und Gold. Zehn Monate später fand sich Thorpe ein weiteres Mal auf dem Felsen wieder, in Begleitung einer ganzen Crew von Bergbauspezialisten und einer Schiffsladung an schwerem Gerät.


»Pass besser auf mit diesem Herumgespringe!«, sagte eine Frauenstimme in seinem Ohrhörer. »Ich möchte nicht, dass du dir irgendetwas brichst.«

Thorpe blickte zu der Gestalt hinunter, die etwa dreißig Meter unter ihm auf dem Boden stand. Der orangefarbene Raumanzug verbarg vollständig die Identität seines Trägers; nur mit seinem geistigen Auge konnte Thorpe die kleine, ein wenig pummelige Gestalt Nina Pavolevs erkennen. Zwei Jahre jünger als er, war Nina Pavolev seine Assistentin und manchmal auch seine Bettgenossin.

»Ich mache das jetzt schon zehn Jahre«, sagte er über die allgemeine Frequenz, »und hab mir immer noch nicht den Hals gebrochen!«

»Das sagen sie alle, bevor es einmal doch passiert!«

Thorpe sank langsam wieder auf den Boden zurück, wofür er nach dem schwachen Sprung, der ihn nach oben getragen hatte, ganze drei Minuten brauchte. Er federte den Aufprall mit den Knien ab und absorbierte genügend Energie, um nicht wieder emporgetragen zu werden.

»Als kleiner Junge damals auf der Erde habe ich immer davon geträumt, wie ein Adler fliegen zu können. Jetzt kann ich es. Es ist phantastisch. Du solltest es mal ausprobieren.«

»Nein, schönen Dank. Das Leben ist zu kurz, um unnötige Risiken einzugehen.«

»Du weißt nicht, was dir da entgeht«, beharrte er.

»Ich will’s dir glauben. Sollen wir jetzt den Rundgang machen, Chef?«

»Wann immer du willst, mein Gewissen!«

Tom Thorpe war kein Weltraumaffe geblieben. In den drei Jahren nach seiner Rückkehr zum Felsen war er zum Gruppenleiter, dann zum Schichtleiter aufgestiegen. Das waren die Jahre gewesen, in denen sie den Felsen in das größte Raumschiff des Sonnensystems verwandelt hatten. Zunächst hatten sie eine Schubkammer aus dem schwereren Ende des Asteroiden herausgesprengt, das sie Eichelnapf getauft hatten. Während Thorpes Team mit dem Aushöhlen der Kammer und der Verbindungstunnel beschäftigt gewesen war, hatten andere Arbeitsgruppen Unmengen von Steuerdüsen installiert, die den zeitraubenden Prozess eingeleitet hatten, den Achtstundentag des Asteroiden zu verlängern. Bald nachdem die Aufhebung der Eigenrotation eingeleitet worden war, kam Percy Allen bei einem Unfall ums Leben. Tom Thorpe fand sich plötzlich in der Position des zweiten energietechnischen Assistenten wieder.

Eine seiner neuen Pflichten hatte darin bestanden, die Arbeit des Antriebssystems des Felsens zu überwachen. Wie die meisten großen Raumschiffe, so wurde auch der Asteroid durch Antimaterie angetrieben. Tausende von Batterien waren von den großen Energiesatelliten herbeigeschafft worden. Die Batterien waren simple ringförmige, unter Hochvakuum stehende Rohre, die von permanenten magnetischen Feldern ummantelt waren. Jedes von ihnen enthielt genug Antimaterie, um ein normales Raumschiff einhundertmal von der Erde zum Mond fliegen zu lassen, doch wenn sie die gewaltigen Ionentriebwerke des Felsens kaum einen Tag lang mit Energie versorgt hatten, waren sie ausgebrannt.

Die Triebwerke hatten vier Jahre arbeiten müssen, um den Felsen in einen Orbit zwischen 800.000 und 1,2 Millionen Kilometern über der Erde zu bringen. Nach der Beendigung des angetriebenen Fluges wurde das Personal neu eingeteilt. Thorpe wurde zum Kontrolleur befördert, zuständig für Oberflächenarbeiten. Später stieg er zum Einsatzleiter-Assistenten auf, und zuletzt zum Einsatzleiter. Trotz seines Aufstiegs in die höchste Position auf dem ganzen Asteroiden ließ er es sich nicht nehmen, einmal wöchentlich die zahlreichen Einrichtungen des Felsens zu inspizieren.

Thorpe und Nina Pavolev hakten sich an einer der zahlreichen Führungsleinen fest, die auf der Oberfläche des Asteroiden ausgespannt waren. Gleich darauf waren sie mit einer Serie von Riesensätzen zum Horizont unterwegs. Nach wenigen Hundert Metern tauchten die riesigen, von Gesteinsstaub bedeckten Verkleidungen des Sonnenofens am Horizont auf. Thorpe rief Nina eine Warnung zu, dass sie den Blendschutz an ihrem Helm einstellen sollte, und dann tat er das Gleiche, gerade als sich die Sonne über den Horizont erhob. Bevor sie weitergingen, warteten sie so lange, bis sich ihre Augen angepasst hatten.

Zu ihrer Linken konnte Thorpe die Warnschilder erkennen, die rund um Eichelnapf aufgestellt waren. Dieses Ende des Asteroiden war noch ›heiß‹ von dem Kernreaktor, der hier gearbeitet hatte. Die Annihilierungsreaktion hatte eine Milliarde Tonnen des Felsen in den Raum hinein verbrannt. Es würde länger als ein Jahrhundert dauern, bis das Gebiet rund um die Schubkammer kalt genug für den Abbau wäre. Selbst dann wäre es immer noch zweifelhaft, ob das Metall genutzt werden konnte.

Thorpe legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den drei großen konischen Formen hoch, die über ihm Gestalt annahmen. Es handelte sich um die Erzcontainer, die das Transportsystem des Felsen für veredeltes Metall darstellten. Aus vakuumgeschäumtem Eisen bestehend, besaß jeder EC ein spezifisches Gewicht kleiner als eins. Wenn sie in die Erdatmosphäre fallengelassen wurden, verlangsamten sie sich rasch bis auf wenige Hundert Stundenkilometer. Am Ende ihres langen Falls angelangt, plumpsten sie in einen Ozean und schnellten anschließend wieder zur Oberfläche empor.

»Laut Arbeitsplan wird in ein paar Minuten eine neue Ladung hochgebracht«, hallte Ninas Stimme in Thorpes Ohrhörer. »Lust, zuzusehen?«

»Klar. Wir sehen uns mal an, wie dieser neue Aufzugführer mit seiner Crew klarkommt.«

Thorpe führte Nina an der Führungsleine noch einen Viertelkilometer weiter. Während sie weitersprangen, hoben sich allmählich drei Türme über den Horizont. Sie hatten das Aussehen von altertümlichen Startrampen. Als sie sich ihnen weiter näherten, konnten sie eine dicke graue Metallplatte in der Mitte des Dreiecks liegen sehen, das die Türme bildeten.

Die Türme stellten das Förderwerk samt Startrampe des Felsen dar. Drahtseile liefen über die Außenseite jeder Rampe und führten über die Spitze wieder nach unten, wo sie an den Ecken einer sechseckigen Metallscheibe befestigt waren. Beim Start wurden die Seile von elektrisch betriebenen Winden eingeholt, wodurch die Scheibe zwischen den Türmen hochgehoben und himmelwärts beschleunigt wurde. Wenn sie die Spitze erreicht hatte, wurden die Winden ausgekuppelt. Die Platte setzte dann ihren Aufstieg mit einer Geschwindigkeit weit über der örtlichen Fluggeschwindigkeit fort. Sie stieg so lange auf, bis sie sich den über ihr schwebenden Transportfahrzeugen genähert hatte. Dann wurden die sich abwickelnden Seile abgebremst. Wurde die Bremsung richtig ausgeführt, kam die Platte aus Nickelerz genau dann zum Stehen, wenn sie die Arbeitsebene zwei Kilometer über dem Boden erreicht hatte.

Die beiden Beobachter sahen zu, wie sich die schwere Nickelerzplatte zu heben begann. Sie gewann rasch an Geschwindigkeit. Innerhalb von Sekunden schwebte sie, ungehindert von den nachschleifenden Seilen, nach oben. Thorpe beobachtete sie, bis sie beinahe unsichtbar geworden war. Er war gerade im Begriff, sich abzuwenden, als etwas Unvorhergesehenes geschah. Die Platte, die sich während ihres langen Aufstiegs vollkommen stabil verhalten hatte, begann plötzlich zu taumeln!

»Was ist da los?«, fragte Nina, in deren Stimme deutliche Angst mitschwang.

»Eins der Seile hat sich verklemmt!«, schrie Thorpe und schaute nach oben. Er erhaschte einen Blick auf ein herunterfallendes schlangenähnliches Etwas, rief eine Warnung, wandte sich um und rannte los. Als Nächstes fühlte er einen brennenden Schmerz in seinem rechten Bein. Sein Schrei verwehte in weniger als einer Sekunde, und sein Raumanzug wurde in eine Wolke roten Nebels gehüllt.


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