13


Es bedeutete nicht nur, dass man wiederbelebt wurde. Es tat weh … schrecklich weh!

Während sie mühsam das Bewusstsein wiedererlangte, konzentrierte sich Amber Hastings auf den Schmerz. Er war das einzig Reale in ihrem Universum und, in gewisser Hinsicht, auch willkommen – denn wenn sie Schmerz empfand, musste sie lebendig sein. Abgesehen vom Schmerz gab es noch die Kälte. Tausend eiskalte Messer schnitten in ihr Fleisch, wo immer sie mit nacktem Metall in Berührung kam.

Sie öffnete ihre Augen zum ersten Mal ganz. Zwei Zentimeter über ihrem Gesicht befand sich ein Gebilde aus geschwungenem Glas, das sich abwechselnd beschlug und wieder klar wurde. Sie beobachtete den Wechsel mit halbherzigem Interesse. Der Nebel schien sich jedes Mal beim Einsetzen eines Schmerzes in der Rippengegend zu verdichten und bei seinem Nachlassen zu verflüchtigen.

Sie zwang sich dazu, tief einzuatmen. Das Glas beschlug sich noch stärker, doch ihr müdes Gehirn begann auf die vermehrte Sauerstoffzufuhr zu reagieren. Sie erinnerte sich daran, wo sie sich befand und warum.

Ihr Name war nach dem Start der Admiral Farragut als sechster aufgerufen worden. Sie hatte sich in der auf der Mittelachse hinter dem Kontrollraum gelegenen Kabine gemeldet, wo ihr Dr. Barnard eine goldene Flüssigkeit injiziert, sie sich nackt hatte ausziehen lassen und ihr in das aus Glas und Metall bestehende Innere des Tanks geholfen hatte. Als Amber an die Leitungen angeschlossen wurde – ein zutiefst erniedrigender Vorgang -, hatte sie ihre Augen kaum noch offen halten können. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war das gurgelnde Geräusch, als der mit Sauerstoff angereicherte Fluorkohlenwasserstoff in ihre Lungen strömte. Sie hatte ihn auszuhusten versucht, jedoch feststellen müssen, dass sie es nicht konnte. Dann hatte sie das Bewusstsein verloren.

Nachdem sie die Orientierung wiedererlangt hatte, griff Amber nach dem Öffnungshebel. Erst beim dritten Versuch konnte sie die Kraft aufbringen, ihn zu ziehen. Sie beobachtete, wie die Glashaube langsam von ihrem Gesicht glitt. Sie blieb unbewegt, erschöpft liegen und atmete in rauen Stößen. Doch sie brauchte nicht lange liegenzubleiben. Sobald die Deckhaube zurückgefahren war, erschien ein Besatzungsmitglied und half ihr, sich aufzusetzen.

Ein plötzlicher Schwindelanfall ließ sie krampfhaft würgen. Als es vorbei war, sackte sie zusammen und lehnte ihre Stirn an das Oberteil des Tanks. Sie blieb in dieser Haltung, bis vor ihren Augen keine schwarzen Flecken mehr waberten. Endlich fühlte sie sich stark genug, sich aufzusetzen und umzusehen.

»Geht’s jetzt besser?«, fragte der Mann.

»Ein bisschen«, antwortete sie. Ihre Stimme war ein raues, kratzendes Geräusch in ihren Ohren. »Tut mir leid, aber ich komme einfach nicht mehr auf Ihren Namen.«

»Raumfahrer erster Kategorie Bernardo Velduccio, Miss Hastings.«

»Haben wir es geschafft, Mr. Velduccio? Haben wir den Jupiter erreicht?«

»Wir brauchen noch eine Woche.«

»Wer ist wach?«

»Die ganze Crew, Mr. Thorpe, die Barnards, John Malvan und jetzt auch Sie.«

»Und der Komet?«

»Wir können ihn mit dem bloßen Auge sehen. Er ist ein kleiner Nebelfleck hinter dem Jupiter.«

»Ich will ihn selbst sehen«, sagte sie und straffte sich, um aus dem Tank zu klettern.

»Jetzt noch nicht«, erwiderte er, während er sie sanft auf die Liege drückte. »Zuerst muss ich eine Infusion machen. Anschließend möchte die Ärztin Sie untersuchen. Dann wollen Sie bestimmt duschen und frische Kleidung anziehen. Glauben Sie mir, Sie sollten den 3ekantierungsvorgang nicht überstürzen. Es würde Sie nur schwächen und Ihre Schmerzen verlängern.«

Amber lehnte sich gegen das gepolsterte Ende des Tanks zurück. Irgendwie hatte das Metall seine anfängliche Kälte verloren. Bei der Erwähnung von frischer Kleidung war sie daran erinnert worden, dass sie überhaupt nichts anhatte. Sie wunderte sich darüber, wie sie hier nackt sitzen und sich ruhig mit einem Fremden unterhalten konnte. Sie sagte sich, dass der Apparat ihr Drogen eingeflößt haben musste, die, unter anderem, das Schamgefühl ausschalteten.

Nach einer Viertelstunde hatte sie sich so weit erholt, dass sie aus eigener Kraft aus dem Tank klettern konnte. Nach einer heißen Dusche kleidete sie sich mit Velduccios Hilfe unbeholfen an, dann ließ sie sich von ihm zur Krankenstation schleppen. Die Admiral Farragut befand sich in freiem Fall, was die Fortbewegung gleichzeitig komplizierter und leichter machte, als es unter der Einwirkung von Schwerkraft der Fall gewesen wäre. Tom Thorpe erwartete sie bereits.

»Irgendwelche Probleme?«, fragte Thorpe Velduccio, während er dabei half, Amber zu einer Untersuchungsliege zu geleiten. Die beiden Männer schnallten sie darauf fest. Sie trugen beide Schiffsstiefel, deren Klettsohlen am Decksboden hafteten.

»Keine«, antwortete Velduccio. »Sie hat sich so schnell gefangen wie nur irgendeiner.«

Amber, die sich schwach wie ein Baby fühlte, blickte zu Thorpe hoch. Er hatte sich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seine Sonnenbräune war verblasst, und er hatte an Gewicht verloren. Sie war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, dass in sein Haar auch mehr Grau gekommen war. Sie fragte sich, wie sie wohl auf ihn wirkte.

»Hallo«, sagte sie schwach. »Ich hatte eigentlich erwartet, dein Gesicht zu sehen, als ich den Tank aufmachte.«

»Der Kapitän hat mir befohlen wegzubleiben. Sie meinte, ich würde nur im Wege sein. Wie fühlst du dich?«

»Ungefähr so, wie ich aussehe«, sagte Amber. »Ich glaube, ich will nicht mehr sterben, aber weiterzuleben reizt mich auch nicht besonders.«

»Du hörst dich großartig an! Ich konnte kaum sprechen, als sie mich 3ierhergebracht haben.«

»Vor wie langer Zeit?«

»Einer Woche.«

»Wie läuft es?«

»Gut. Wir liegen genau im Zeitplan und haben Kontakt mit Callisto Control. In einer Woche sind wir dort. Zwei Wochen darauf wird der Komet das Jupitersystem durchfliegen, und wir können uns endlich an die Arbeit machen. Übrigens, auf dich warten Nachrichten vom Farside-Observatorium aus sechs Monaten. Ich hab sie mal durchgeblättert. Sie haben die Berechnung der Orbitalparameter ziemlich verbessert. Der Kapitän möchte, dass du die Daten für die Einsatzplanung nach Callisto durchsiehst.«

Amber setzte sich mühsam auf. »Ich erledige das sofort.« Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter und hielt sie zurück. Als sie aufsah, erkannte sie Cybil Barnard.

»Dafür ist später noch genug Zeit«, sagte die Ärztin. »Jetzt werden Sie erst mal gründlich untersucht, und dann schlafen Sie acht Stunden. Mr. Thorpe, bitte lassen Sie mich mit meiner Patientin allein.«

»Ich verschwinde schon, Doc.«

»Und Sie sagen meinem Sklaventreiber von einem Ehemann, dass seine Assistentin bis morgen verhindert ist. Also dann, Amber, bitte machen Sie den Arm frei.«


Amber saß an den Kontrollen im Teleskopüberwachungsraum der Admiral Farragut und betrachtete auf dem Bildschirm eine Nahaufnahme des Jupiter. Der Anblick erinnerte sie an das erste Foto, das sie von dem Planeten gesehen hatte.

Die Oberfläche des Gasriesen bestand aus einer Reihe von abwechselnd weißen und blassroten Wolkenstreifen. An ihren Rändern bildeten die Streifen komplizierte Wirbel aus Dunkelrot und Blassgelb. Andere Streifen wiederum hatten blaue oder graue Ränder. Viele der Wirbel waren größer als die Erde, doch beim Jupiter machten sie die kleinsten erfassbaren Einzelheiten aus. Die Strudel und Zyklone waren charakteristisch für die Jupiteratmosphäre.

Indem sie den Gottvater der Welten aufmerksam betrachtete, bemerkte Amber, dass sich die Fadenkreuze in der Bildschirmmitte langsam nach rechts bewegten. Sie griff nach vorn und korrigierte die Bewegung per Joystick. Von weither kam das knallende Geräusch der Steuerdüsen, als diese auf ihren Befehl reagierten.

Die Fadenkreuze kamen in der Nähe eines schwarzen Flecks zur Ruhe, der sich seinerseits über die Oberfläche des Planeten bewegte. Unter Berücksichtigung des Einfallswinkels des Sonnenlichts suchte und entdeckte Amber bald darauf das, was eine Verzerrung der Jupiteratmosphäre zu sein schien. Die Verzerrung war der Jupitermond Io, der sein Muttergestirn überflog. Der schwarze Fleck war sein Schatten.

»Wieder mal mit dem Jupiter beschäftigt, wie ich sehe!«

Als Amber sich umwandte, stand hinter ihr Cragston Barnard. Ihr ehemaliger Professor an der Universität Luna lächelte, als er sich zu dem Sitz an Ambers Seite zog. Barnard hatte das schlaksige, ein wenig unbeholfen wirkende Äußere, das bei Lunariern häufig anzutreffen war. Von einer zu weit vorstehenden Nase abgesehen, war er recht stattlich und zu Ambers Universitätszeiten der Gegenstand nicht weniger Spekulationen seiner Studentinnen gewesen.

»Fertig mit den Vorbereitungen zur Kometenbeobachtung?«

»Fertig«, antwortete sie. »Ich dachte mir, ich seh mir mal den Dicken an, solange ich auf Sie warte.«

»Das kann einem schon den Atem verschlagen, finden Sie nicht?«

Amber nickte. »Aber wirklich.«

Barnard tippte mehrere Befehle in den Kontrollcomputer des Teleskops ein. »Ehe wir mit der Arbeit anfangen, was halten Sie davon, wenn wir uns Callisto ansehen? Er müsste um diese Zeit eigentlich hinter dem Planeten hervorkommen.«

Amber bewegte die Fadenkreuze des Teleskops zur derzeitigen Position von Jupiters äußerstem Mond.

»Erhöhen Sie die Vergrößerung auf einhundert«, ordnete Cragston an, als die Steuerdüsen die Rotation des Schiffes stoppten.

Amber reagierte entsprechend und wurde mit dem Anblick eines nur wenig aus dem Zentrum des Bildschirms verschobenen runden Himmelskörpers belohnt. Callisto hatte die Größe des Merkur und war mit Einschlagskratern übersät. Die Krater unterschieden sich jedoch von denen des Mondes oder des Mars. Wo Lunas Krater in der Mitte eine Erhebung hatten, waren sie auf Callisto gleichmäßig flach. Manche besaßen sogar Vertiefungen in der Mitte. Der Grund für diese andersgeartete Struktur war die Zusammensetzung von Callistos Oberfläche, die zum größten Teil aus gefrorenem Wasser bestand. Unter der Eiskruste lag ein Meer von flüssigem Wasser, ein Meer zweihundertmal tiefer als jedes auf der Erde.

Dass Callisto bewohnt war, zeigte sich innerhalb von Sekunden. Nahe dem Mondäquator erschien ein heller grüner Fleck.

»Offenbar möchte die Forschungsstation mit Kapitän Olafson sprechen«, sagte Barnard und deutete auf den Schirm. »Sollen wir mithören?«

»Nur, wenn Sie den Rest des Flugs bei Wasser und Brot verbringen wollen«, scherzte Amber. »Kommen Sie, lassen Sie uns mit der Kometenbeobachtung anfangen.«


Kapitän Olafson lehnte sich in die Beschleunigungsliege zurück und starrte besorgt zum Jupiter an der Kuppel über sich hinauf. Das Bild des Planeten war nicht vergrößert, so dass der König der Welten geringfügig kleiner erschien als von der Erde aus betrachtet der Mond. Drei der Jupitermonde waren an einer Seite des Planeten aufgereiht. Zwei waren so groß, dass sie deutlich als Scheiben zu erkennen waren, während der dritte noch ein rötlicher Lichtpunkt war. Doch was Karin Olafson Sorgen machte, war weder der Planet noch seine Monde. Was sie beschäftigte, waren die wohlbekannten Strahlenrisiken des Jupitersystems.

Wie die Erde besaß auch der Jupiter ein Magnetfeld, das Partikel des Sonnenwinds einfing, sie konzentrierte und zu Strahlungsgürteln formte. Da das Magnetfeld des Jupiter weitaus stärker als das der Erde war, war auch sein Strahlungsgürtel bedeutend ausgedehnter und stärker – an manchen Stellen 10.000-mal so stark wie der der Erde. Als die erste Raumsonde, Pioneer 10, das Jupitersystem durchquert hatte, war sie einer Strahlung ausgesetzt gewesen, die das Hundertfache der für einen ungeschützten Menschen tödlichen Dosis betrug.

Die Van-Allen-Gürtel der Erde wurden häufig als den Äquator umkreisende alte Autoreifen beschrieben. In Wahrheit jedoch war die ringförmige Strahlungsregion keineswegs symmetrisch. Der Sonnenwind und die magnetischen Felder der Sonne trugen gemeinsam dazu bei, die Strahlung über der Tageshemisphäre auszudünnen, während sie sie in mehreren Planetendurchmessern Entfernung über der Nachthemisphäre verstärkten. Das Bild, das sie sich vorstellte, war ein Boot, das im munter dahinfließenden Fluss des Sonnenwinds vor Anker lag. Die Strömung warf eine kleine Bugwelle auf, ließ dem Heck jedoch ein langgestrecktes Kielwasser folgen.

Das Gleiche galt für den Jupiter. Die Strahlungsgürtel des Planeten durchmaßen über der sonnezugewandten Seite nur wenige Planetendurchmesser, breiteten sich auf der Nachtseite jedoch Millionen Kilometer weit aus. Die Folge davon war, dass Callisto während zwölf von sechzehn Tagen in einer Niedrigstrahlenregion umlief. Die restliche Zeit über war der Mond in einen unsichtbaren tödlichen Nebel gehüllt. Diese Tatsache vor allem machte die Navigation im Jupitersystem für Schiffsführer so quälend.

Kapitän Olafsons erstes Problem betraf das Ansteuern von Callisto. In sechs Tagen würden sie während des Abbremsvorgangs bis auf eine Million Kilometer an Jupiter herangekommen sein. Wenn sich ihre Fahrt erst einmal verlangsamt hatte, würden sie um die Riesenwelt herumschwingen, um Callisto von rückwärts und unten her einzuholen, und dann mit dem Mond weit über der Tageshemisphäre und den Strahlungsgürteln zusammentreffen. Wenn sie jedoch hinter dem Planeten vorbeiflog, würde die Admiral Farragut ins Herz einer der stärksten Strahlenregionen des Jupiter eintauchen.

Die Abschirmung des Frachters reichte zwar für die meisten Zwecke aus, war jedoch völlig unzureichend, um die Besatzung vor der Jupiterversion der Van-Allen-Gürtel zu schützen. Zum Glück hatten die Schiffsdesigner für diesen Fall vorgesorgt. Aus Strahlenschutzgründen hatten sie den Kontrollraum in die Mitte des Habitatmoduls gelegt und mit den schweren Trägern des Stützrahmens umgeben. Hinter dem Kontrollraum befand sich ein gleichermaßen gut abgeschirmter Raum, der ›Sturmbunker‹ des Schiffes, in den sich die Besatzung während der Strahlungsstürme zurückziehen konnte. Für die Kometenexpedition war der Sturmbunker mit Kälteschlaftanks ausgerüstet worden. Und während die Passagiere und die Crewmitglieder die meiste Zeit über in den Außendecks lebten und arbeiteten, würden sie sich während des Flugs durch den Strahlungsgürtel des Jupiter dorthin begeben.

Die Passagiere und die Crew würden während des Durchflugs gut abgeschirmt, wenn auch ein wenig beengt sein. Doch die empfindlichen Elektronikelemente des Schiffes waren völlig ungeschützt. Sie würden die Strahlung aushalten müssen – und nicht nur einmal.

Der Einsatzplan sah für die Admiral Farragut dreimaliges Eintauchen in die Strahlungsgürtel des Jupiter vor. Der erste Sturm würde bei der Ansteuerung von Callisto über sie hereinbrechen, der zweite, wenn sie den Mond auf seinem Flug durch die Nachthemisphäre begleiteten; der dritte, wenn sie das System mit dem Kometen zusammen verließen. Die Schiffe, die normalerweise das Jupitersystem anflogen, waren speziell für die Abschirmung derart hoher Strahlendosen konstruiert. Karin Olafsons Schiff jedoch nicht.

»Laserbotschaft von Callisto«, sagte Rodriguez neben ihr. Sie beide hielten sich im Moment allein im Kontrollraum auf.

»Legen Sie sie rüber.«

Die Nachricht umfasste eine Aktualisierung der lokalen Messdaten und einen Vorschlag zur Ansteuerung, der die Strahlenbelastung geringfügig senken würde. Da die Zeitverzögerung zwischen Schiff und Station jeweils sechsundsechzig Sekunden betrug, erwartete sie kein zweiseitiges Gespräch mit jemandem auf dem Boden. Alles über fünfzehn Sekunden war so lästig, dass man Unterhaltungen vermied. Dennoch machte sie sich die Mühe, eine lange Nachricht aufzuzeichnen, mit der sie der Stationsbesatzung für ihre Mühen dankte. Sie führten ein einsames Leben dort, und von ein wenig Liebenswürdigkeit konnte man hier in der großen Leere sehr lange zehren.


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