36


Das Evakuierungsschiff Preserver war ein großer, geräumiger Viehstall von Schiff, dessen Geruch am besten als unbeschreiblich zu beschreiben war. Da es sich auf der Erde-Mond-Route befand, waren weniger als fünfhundert Passagiere an Bord. Für die Preserver war das eine Rumpfbelegung.

Kapitän Jesus García-Gomez war ein großer, freundlicher Mann, der gar nicht erst zu verbergen suchte, was er von Thorpes Wunsch hielt, sich nach Luna befördern zu lassen. Der Kapitän, der bis jetzt fünf Evakuierungsflüge gemacht hatte, hielt jeden, der in die entgegengesetzte Richtung wollte, für verrückt. Er hatte Thorpes Transportgenehmigung sogar so lange zurückgewiesen, bis Halver Smith bei den zuständigen Autoritäten persönlich interveniert hatte. Selbst als alle Genehmigungen vorlagen, hatte Thorpe die Columbus-Station erst verlassen dürfen, nachdem man ihn eindringlich gewarnt hatte, dass er Luna nur dann würde wieder verlassen können, wenn ›Transportraum‹ verfügbar wäre.

Kapitän García-Gomez begrüßte seinen Ehrengast an der Luftschleuse und machte mit ihm einen kurzen Rundgang durchs Schiff. Sie begannen mit einem der großen Stauräume, der bis vor kurzem einer der Flüsigsauerstofftanks der Preserver gewesen war. Die Kojen waren in langen Reihen vom Boden bis zur Decke zu zehnt übereinandergestapelt. Die individuellen Kojen waren durch rote Begrenzungslinien markiert. Bei voller Belegung, erkannte Thorpe, würden die Passagiere mit den Köpfen an die Füße der nächsten Reihe stoßen, und die Ellbogen würden an den Grenzlinien überlappen.

»Muss ganz schön laut sein hier drin, wenn Sie voll belegt sind«, sagte er zum Kapitän.

»Laut, heiß, stickig und schmutzig«, bestätigte García-Gomez. »Am schlimmsten ist die andauernde Kotzerei. Egal welche Vorkehrungen an Bord getroffen werden, in jedem Stauraum gibt es mindestens einen Idioten, der sein Antibrechmittel nicht eingenommen hat. Kaum dass wir sie festgeschnallt haben, geben sie ihr Essen auch schon wieder von sich und bringen praktisch jeden in dem Fach dazu, es ihnen nachzumachen. Das ist, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, der Hauptgrund für den Geruch. Die Schotts sind praktisch mit den Mageninhalten der Passagiere gesättigt.«

Thorpe hatte den Geruch erkannt, hatte jedoch versucht, möglichst wenig an dieses Thema zu denken.

»Falls Sie Geld zu viel haben, haben Sie vielleicht Lust, sich an der Mannschaftswette zu beteiligen.«

»Was für eine Wette?«

»Jedes Crewmitglied versucht zu schätzen, wie viele Kinder während jedes Flugs zur Welt kommen. Falls Sie Interesse haben, die Statistiken unserer früheren Flüge hängen in der Messe.«

»Ich nehme an, es sind eine ganze Menge.«

»Mehr, als man erwartet und wofür man Vorkehrungen getroffen hatte«, bestätigte der Kapitän. »Ich weiß nicht, was die Frauen bei einer Raumreise Wehen bekommen lässt. Aber bei 300.000 Passagieren kann man sich auf zwei Dinge verlassen: ein paar der Alten werden sterben, und eine erkleckliche Anzahl von Babys wird sich gerade diesen Zeitpunkt aussuchen, um geboren zu werden. Bei der Landung haben wir immer mehr Passagiere an Bord als beim Start.«

Das Schiff startete von der Erde, zwei Stunden nachdem Thorpe an Bord gekommen war. Weil es keine eigenen Triebwerke besaß, wurde es von einem Raumschlepper auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt. Drei Tage später trafen sie sich hinter dem Mond mit einem gleichartigen Schlepper. Er dockte an und verlangsamte ihre Fahrt, bis sich die Preserver in einem hohen Parkorbit befand. Wie ein Crewmitglied bemerkte, waren die Schlepper Teilnehmer eines Distanzspiels, bei dem die Evakuierungsschiffe die Rolle von Gummibällen spielten.

Der Schlepper löste sich erst von der verstärkten Druckhülle der Preserver, als sie die ersten Boden-Orbit-Fähren umschwärmten. Ein Dutzend von ihnen machten gleichzeitig an den Mehrfachschleusen des Schiffes fest. Unverzüglich begannen sie damit, ihre menschliche Fracht in den umgebauten Schüttgutträger zu ergießen.

»Nun, Mr. Thorpe«, sagte Kapitän García-Gomez, als er vor einer der Schleusen Thorpes Hand schüttelte, »ich glaube immer noch, dass Sie verrückt sind. Sollte ich jedenfalls zufällig im Orbit sein, wenn Sie sich entschließen, zurückzufliegen, dann achten Sie darauf, dass Sie an Bord eines Shuttles der Preserver gehen. Ich werde einen Platz für Sie finden, und wenn ich meine eigene Kabine mit Ihnen teilen müsste.«

»Danke, Captain. Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Wer weiß, vielleicht komme ich noch darauf zurück!«

Damit hob Thorpe seine Reisetasche und seinen Raumanzug auf. Als er sich umwandte und sich in Richtung der Schleuse abstieß, durch die sich eine Menschenmenge in das Schiff ergoss, kam er sich vor wie ein Lachs, der flussaufwärts schwamm, um zu laichen.

Luna City Spaceport war im Wesentlichen so, wie er ihn in Erinnerung hatte. Der große Massebeschleuniger erstreckte sich immer noch pfeilgerade über die Mondebene, und die unterirdischen Abfertigungshallen waren immer noch wie die Speichen eines Rades um die Oberflächenkuppel der Haupthalle herum angeordnet. Was anders war, das war die Anzahl der Menschen, die sich im Bereich des Raumhafens drängten.

Wo er auch hinsah, warteten Evakuierwillige darauf, dass sie an die Reihe kamen, an Bord zu gehen. Zum ersten Mal begann Thorpe die Logistik zu verstehen, die nötig war, um zehn Millionen Menschen von einem Planeten fortzubringen. Schreiende Babys, Kinder, die sich verlaufen hatten, und grimmig dreinschauende Eltern erwiderten seinen Blick, als er sich mit den Ellbogen einen Weg zu den unteren Ebenen und den Beförderungsmitteln bahnte.

Die U-Bahnwagen waren in seiner Richtung fast leer. Da er zwölf Stunden totzuschlagen hatte, bis ihn der gecharterte MoonJumper nach Hadley’s Crossroads bringen würde, hatte er ein Zimmer im gleichen Hotel wie bei seinem vorigen Aufenthalt gemietet. Erst als er den Großen Verteiler erreicht hatte, wurde ihm klar, wie weit die Evakuierung bereits fortgeschritten war. Was einmal das betriebsame geschäftliche und kulturelle Zentrum Luna Citys gewesen war, lag nun beinahe verlassen da. Elegante Geschäfte hatten geschlossen, die Schaufenster noch voller Ware. Die wenigen Cafés, die noch geöffnet hatten, waren Treffpunkte der Alten. Er konnte ihre Augen auf sich gerichtet fühlen, als er die Rampe zu seinem Hotel hinunterging. Beim Einchecken erkundigte er sich beim Empfangschef nach ihnen.

»Sie gehen nicht weg.«

»Sie meinen, sie werden nicht evakuiert?«

»Nö.«

»Warum nicht?«

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Aus verschiedenen Gründen, nehme ich an. Manche weigern sich einfach zu gehen. Andere sind zu alt. Sie verkraften die Erdschwerkraft nicht mehr.«

»Das müssen sie doch auch nicht«, erwiderte Thorpe. »Jeder, der mit der Erdschwerkraft nicht zurechtkommt, wird so lange auf den Raumstationen untergebracht, bis andere Regelungen gefunden werden.«

»Vielleicht mögen sie diese anderen Regelungen nicht«, sagte der Mann. Er reichte Thorpe eine Schlüsselkarte. »Drei Ebenen weiter unten, zweites Zimmer rechts. Sie werden Ihr Gepäck selber tragen müssen, fürchte ich.«

»Kein Problem.«

An diesem Abend aß Thorpe bei Luigi’s und bat sogar um denselben Tisch, an dem er und Amber mal gesessen hatten. Die Wandbilder waren immer noch dieselben, aber die Waldlichtung funkelte nicht mehr so wie früher. Die wenigen Ober waren offenbar Aushilfskräfte. Thorpe vermutete, dass sie einfach nur Leute waren, die auf ihre Evakuierung warteten. Und das Essen war, als es endlich gebracht wurde, die fade Hausmannskost einer Autoküche. Der Ober entschuldigte sich halbherzig dafür und erklärte, dass der Koch vor einer Woche evakuiert worden sei.

Später, auf dem Rückweg zu seinem Hotel, entdeckte Thorpe, dass die alten Leute verschwunden waren. Ihre Stelle hatten vereinzelte Banden Jugendlicher eingenommen. Etwas in ihrem Verhalten sagte ihm, dass sie ebenfalls nicht vorhatten abzureisen.

Zum ersten Mal fragte er sich ernsthaft, wie vollständig die Evakuierung sein würde. Die ersten Simulationen an der Sorbonne waren fürchterlich gewesen. Gegen Ende der Konferenz hatten die Computer errechnet, dass es möglich wäre, Luna in der zur Verfügung stehenden Zeit zu evakuieren – wenn auch knapp. Doch Computer wurden von Menschen programmiert, und während er ein jugendliches Trio vorbeistolzieren sah, fragte sich Thorpe, ob die Programmierer wohl alle Eventualitäten berücksichtigt hatten.

Am nächsten Morgen bot er der Menge am Raumhafen erneut die Stirn und kämpfte sich zu einer Umkleidekabine durch, wo er in seinen Raumanzug schlüpfte. Dann ging er, den Helm unter den Arm geklemmt, zur Abfertigungshalle für lokale Flüge. Sein Pilot wartete bereits auf ihn.

»Sind Sie Thorpe?«, fragte der kleine grauhaarige Mann.

»Ja.«

»Ich bin Gianelli. Ausrüstung dabei? Gut, machen wir, dass wir hier wegkommen, bevor es sich jemand in den Kopf setzt, ich hätte einen Flug von hier weg anzubieten. Könnte einen Tumult auslösen.«

»Hat es viele Krawalle gegeben?«

»Hängt davon ab, wie man ›viele‹ definiert«, lautete die knappe Antwort.

Sie gingen an Bord des Hüpfers, der denen glich, die Thorpe während der Forschungsexpedition zu Donnerschlag geflogen hatte. Der Pilot stieg mit vollem Schub aus dem Mare Procellarum auf, sobald sie sich angeschnallt hatten.

»Schaffen Sie es bis zum Orbit?«, fragte Thorpe, als er aus der Kabinenkuppel auf die unter ihnen vorbeiziehende Landschaft hinausschaute.

»Wenn ich es schaffen würde, glauben Sie, ich wäre dann noch da?«, fragte Gianelli. »Ich bin erst in zwei Wochen dran, weil sie Hüpfer brauchen, um die Bürokraten herumzuchauffieren. Die verdammte Republik zahlt mir kaum etwas dafür. Das war einer der Gründe, warum ich mich auf diesen Charter gestürzt habe. Was für eine Art von Narr sind Sie eigentlich, he?«

»Das habe ich mich die letzten zwölf Stunden über auch schon gefragt«, antwortete Thorpe. »Es sieht so aus, als gerieten die Dinge in Luna City allmählich außer Kontrolle.« Er erzählte Gianelli von den Banden, die er gesehen hatte.

»Yeah«, bestätigte der Pilot. »Meistens sind es Kids, die aus dem einen oder anderen Grund ihre Platzreservierung haben verfallen lassen. Manche sind zurückgeblieben, um zu plündern, andere hatten Krach mit ihren Eltern und haben sich davongemacht. Die Politik der Regierung ist, dass jeder, der seinen Platz verfallen lässt, ans Ende der Liste rückt. Diejenigen, die dann immer noch gehen wollen, werden den letzten Schiffen zugeteilt.«

»Warum erlaubt ihnen die Stadt, so im Großen Verteiler herumzuziehen?«

»Der Stadt bleibt im Grunde gar keine andere Wahl. Die ganze Polizei ist unten im Raumhafen, um dort für Ordnung zu sorgen. Sie machen gelegentlich mal eine Razzia im Großen Verteiler, aber bei seiner Spiralstruktur ist es leicht für die Gangs, sie rechtzeitig zu sehen.«

Anschließend sprachen sie nicht mehr viel. Gianelli war mit der Navigation beschäftigt, und Thorpe tief in Gedanken versunken. Sie landeten in Hadley’s Crossroads ohne Zwischenfall. Thorpe erfuhr bald darauf, dass der Rolligon von der Regierung requiriert worden war, um bei der Evakuierung zu helfen.

»Wie soll das Observatoriumspersonal rauskommen?«, fragte er den Beamten, den er am Schalter der Einschienenbahn vorfand.

»Ich hab keine Ahnung, Mister! Es heißt, sie haben ihre eigenen Vorkehrungen getroffen. Ich weiß, dass noch’ne Menge da draußen sind. Sie versuchen, dieses Teleskop mitzunehmen. Eine Verschwendung von Frachtraum, wenn Sie mich fragen.«

»Wie komme ich zum Observatorium hinaus?«

»Sie haben doch den MoonJumper«, erklärte der Beamte. »Warum nehmen Sie nicht den?«

»Ich dachte, Flüge zum Observatorium wären untersagt?«

»Sie haben die Einschränkungen gelockert, als der Notstand ausgerufen wurde. Ich weiß genau, dass dort drau ßen seit einem Monat Schiffe landen und starten.«

»Danke«, sagte Thorpe. Er spürte seinen Piloten auf, der einige Familien, die auf die Evakuierung durch die Einschienenbahn warteten, für einen Rückflugcharter zu gewinnen versuchte. Thorpe bot Gianelli für den Hundertzwanzig Kilometer-Sprung das Gleiche, was er ihm für den Flug von Luna City bis hierher gezahlt hatte.

Als sie den Mendelejew-Krater erreicht hatten, ließ sich Thorpe vom Piloten einen ganzen Kilometer vom gro ßen Teleskop entfernt absetzen. Er wollte es vermeiden, dass die Arbeit zunichte wurde, die die Astronomen in die Rettung des Teleskops investiert hatten. Er ließ sich an einem der vier Landebeine des Hüpfers hinunter und begann in Richtung des Observatoriums zu wandern. Er war kaum zweihundert Meter weit gekommen, als ein heftiger Windstoß den Mondstaub um ihn herum aufwirbelte. Als er sich umwandte, sah er, wie der Hüpfer auf einer weißen Flammensäule rasch in den schwarzen Himmel stieg. Er wendete auf der Stelle und verschwand in Richtung Westen.

Als sich Thorpe dem Teleskop näherte, bemerkte er zahlreiche Gestalten, die sich auf den Trägern zu schaffen machten. Eine von ihnen löste sich aus der Arbeitsmannschaft und kam ihm entgegen. Wer es auch sein mochte, er hatte offenbar das Schiff abheben sehen und nur darauf gewartet, bis Thorpe zu ihnen herübergekommen war.

»Wer in aller Welt sind Sie?«, fragte die Stimme eines Mannes über den allgemeinen Anrufkanal. Die Stimme gehörte Cragston Barnard.

»Hallo, Crag. Hier ist Tom Thorpe. Ist Amber Hastings hier?«

»Thomas!«, rief Amber sofort auf dem gleichen Kanal. Als er sich umdrehte, sah er eine Gestalt vom oberen Teil des Teleskoprahmens abspringen und in der niedrigen ondschwerkraft langsam herunterschweben. Sobald sie am Boden angekommen war, stürmte Amber mit raumgreifenden Schritten auf ihn zu.

Sie erreichte ihn mit so großer Geschwindigkeit, dass sie ihn beinahe umgeworfen hätte. Sie schlang ihre Arme um ihn und presste ihren Helm gegen seinen. Der Kuss, durch zwei Lagen unzerbrechliches Plastik getrennt, war der nbefriedigendste, den Thorpe jemals erlebt hatte. Aber er war immer noch besser als gar nichts. Als sie ihn endlich freigab, fragte sie ihn, was er hier täte.

»Du wolltest doch eigentlich dreißig Tage vor Eintreffen des Kometen von hier verschwinden. Warum bist du immer noch hier?«

»Ich kann noch nicht weg, Thomas. Wir sind immer noch dabei, das Teleskop abzubauen.«

»Ich bin gekommen, um dich herauszuholen.«

»Mich herausholen?«, rief sie mit einem Anflug von Ärger in der Stimme. »Was gedenkst du zu unternehmen, um selber wegzukommen?«


Niels Grayson blickte Thorpe über einen Tisch in der Kantine des Observatoriums hinweg an. Amber saß neben Thorpe, den Kopf auf seine Schulter gelegt.

»Die Ordnung beginnt zusammenzubrechen«, sagte Grayson, während er zusah, wie Thorpe ein Steak verschlang. »Zu viele Beamte haben ihre Posten verlassen und sind mit den Schiffen verschwunden. Nur noch die wichtigsten Dienste sind besetzt, und dann auch nur mit der geringstmöglichen Anzahl von Leuten.«

Thorpe erzählte ihnen von den Ansammlungen alter Menschen und den herumlungernden Banden, die er in Luna City gesehen hatte.

»In Tycho Terrace ist es noch schlimmer«, erwiderte Amber. »Dort haben sie die Kontrolle über die Stadt ganz verloren. Die Polizei und sämtliche für die Evakuierung vorgesehenen Leute haben sich im Raumhafen versammelt. Seitdem sie von Banden außerhalb der Stadt angegriffen wurde, fährt die Bahn nicht mehr.«

»Das glaube ich gern. ransportmittel scheinen sehr gefragt zu sein. Ich dachte schon, ich wäre gestrandet, als ich in Hadley’s Crossroads keinen Rolligon bekommen konnte.«

»Die Republik hat alles beschlagnahmt, was sich bewegt«, sagte Grayson. »Sie haben sogar die beiden Raupenfahrzeuge eingezogen, mit denen wir Schwergerät transportieren. Sie kamen einfach hierher, klatschten ein Beschlagnahmungsformular auf den Tisch und nahmen sie beide mit!«

»Das war noch nicht alles«, sagte Amber. »Sie haben die Raumstation von Farside nach Nearside geschafft. Jetzt läuft unsere Fernkommunikation nur noch über einen niedrig stehenden Satelliten. Die meiste Zeit über haben wir überhaupt keine Verbindung.«

Thorpe nickte. »Bevor ich losgeflogen bin, habe ich euch anzurufen versucht. Man sagte mir, die Verbindungen würden erst heute spät am Tag wiederhergestellt werden.« Nach einem kurzen Moment fragte er: »Wie wollt ihr also von hier wegkommen?«

»Wir haben ein Schiff gechartert. Es ist ein kleiner Frachter, der bis vor kurzem Ladung in den Orbit hochgeschafft hat, die den Transport über den Massebeschleuniger nicht überstanden hätte. Er soll zwei Wochen vor dem Kometen eintreffen. Der Frachter wird die Spiegel rausschaffen und uns auch. Ich hoffe nur, dass wir rechtzeitig fertig werden.«

»Wie viele seid ihr hier noch?«

»Vierzehn«, sagte Amber. »Niels, seine Frau, Crag und Cybil Barnard, Professor Dornier und mehrere Techniker und jüngere Angestellte. Alle andern sind schon weg. Oh, und noch was, Thomas, das hätte ich beinahe vergessen. Niels ist zum Direktor des Observatoriums ernannt worden!«

»Meinen Glückwunsch.«

»Wofür?«, fragte der Astronom. »Ich überwache den Abriss der Anlage.«

»Sie retten das beste Teleskop, das je gebaut wurde«, sagte Amber. »Wenn Sie es schaffen, werden Sie für die Astronomie mehr getan haben, als Meinz je geleistet hat.«

»Außerdem«, spann Thorpe den Faden fort, »wird sich die Position auf Ihrem Lebenslauf gut machen.«

Grayson schnaubte verächtlich. »Was hat ein Astronom in dieser Suppe verloren, die auf der Erde ›Luft‹ genannt wird? Selbst wenn wir die wichtigsten Teile des Großen Auges retten sollten – haben Sie eine Vorstellung davon, wie lange es dauern wird, bis wir es wieder zusammensetzen und in Betrieb nehmen können?«

»Es wird ein paar Jahre dauern, nehme ich an.«

»Jahrzehnte.«

»Ich habe den Eindruck, dass ihr hier ganz schön zu tun habt«, sagte Thorpe. »Habt ihr noch Verwendung für ein paar kräftige Hände.«

»Das haben wir.«

»Gibt es noch einen Platz für mich, wenn der Frachter auftaucht?«

»Wir werden Platz schaffen.«

Thorpe grinste und streckte seine Hand aus. »In diesem Fall haben Sie einen weiteren Tagelöhner angeheuert. Ich bin stark wie ein Stier und beinahe ebenso intelligent, und ich esse kaum etwas.«

»Was Letzteres betrifft, bin ich mir nicht ganz so sicher«, sagte Grayson mit einem Blick auf Thorpes leeren Teller.


Bevor die Spiegel des Großen Auges in Transportcontainer verpackt werden konnten, mussten sie gründlich gereinigt werden. Nach Jahren im Freien hatten sie eine dünne Staubpatina angesetzt. Die Spiegel wurden nicht sauberer gehalten, weil der durch den Staub verursachte Lichtverlust von wenigen Prozent nicht ins Gewicht fiel, verglichen mit der Möglichkeit, einen Spiegel beim Reinigen zu beschädigen. Da jedoch niemand sagen konnte, wie lange die Spiegel gelagert werden würden, musste man dieses Risiko auf sich nehmen, um die empfindliche Beschichtung zu schützen.

Die Astronomen hatten im Innern des Observatoriumskomplexes ein spezielles Reinigungsgerät aufgebaut. Sobald die Spiegel demontiert waren, wurden sie durch die Luftschleuse transportiert und zu dem Apparat inuntergebracht. Dort saugten Techniker in den für sterile Räume üblichen Haubenkitteln vorsichtig die Vorder-und Rückseite der Spiegel ab. Dann wiederholten sie den Vorgang mit einem elektrostatischen Gerät, um die Staubpartikel zu entfernen. Zuletzt sprühten sie einen Plastikfilm auf den ganzen Spiegel, an dem übriggebliebene Staubpartikel haften würden. Wenn der Film getrocknet war, wurde er abgezogen, und zurück blieb eine schmutzfreie, makellose Oberfläche. Zum Schluss verstauten sie den gesäuberten Spiegel in einem luftdichten Container, schraubten ihn fest und injizierten eine Heliumatmosphäre.

Es dauerte rund zwei Stunden, einen Spiegel zu reinigen und zu verpacken, und es konnten lediglich zwei gleichzeitig bearbeitet werden. Vor Thorpes Eintreffen hatte das Observatoriumspersonal es geschafft, zweihundert der fünf Meter durchmessenden Sechsecke zu bearbeiten. Mit seiner Hilfe und indem sie rund um die Uhr arbeiteten, schafften sie den Rest in nur neun Tagen. Einen weiteren Tag verbrachten sie damit, die Spiegel neben dem provisorischen Landeplatz des Frachters aufzustapeln.

Es war eine müde Gruppe von Belegschaftsmitgliedern, die sich am Abend, bevor der Frachter eintreffen sollte, in der Kantine zur Abschiedsparty versammelte. Aus gegebenem Anlass waren sie formell gekleidet, und es wurden sämtliche übriggebliebenen Delikatessen serviert. Einer der jungen Angestellten schaffte es, den Weinschrank von Direktor Meinz zu öffnen. Sie entdeckten darin mehrere Zweiquartflaschen Champagner von der Erde.

Der Abend begann mit einer Reihe von Trinksprüchen, dabei blitzte hier und da Galgenhumor auf. Nach dem Essen jedoch machten die Witze einem Gefühl von Kameradschaft Platz. Es war die Art Gefühl, das einen am Ende einer langen politischen Kampagne oder bei einer Doktorfeier überkommt. Jedermann war erfüllt von dem Gefühl, es geschafft und eine Aufgabe trotz aller Schwierigkeiten gut bewältigt zu haben.

»Wo steckt eigentlich Grayson?«, fragte Thorpe, der sich an seinem dritten Glas Champagner festhielt. Bei ihm saß Amber, eng an ihn gekuschelt. Ihre lange Trennung war ihnen beiden eine Lehre gewesen. Keiner hatte sich während der letzten zehn Tage weit vom anderen entfernt.

Professor Barnard hörte die Frage und lachte. »Sie kennen doch Niels. Er muss sich um alles kümmern, sonst glaubt er, dass er seinen Job zu leicht nimmt. Als ich ihn zuletzt sah, war er zum Kommunikationszentrum unterwegs. Der Satellit müsste um diese Zeit wieder über dem Horizont auftauchen. Er erkundigt sich nach der Ankunftszeit des Schiffes.«

»Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, die Spiegel einzuladen?«

Barnard zuckte mit den Achseln. »Hängt davon ab, ob sie irgendwelche motorisierten Hilfsmittel haben. Wir haben unsere kleinen Handwägelchen, aber wenn wir sie von Hand in die Frachträume hieven müssen, werden wir die meiste Zeit des Tages dafür brauchen. Schade, dass die Sonne nicht scheint. Dann könnten wir wenigstens sehen, was wir tun.«

Thorpe nickte. Bei seiner Ankunft war es kurz vor onnenuntergang gewesen. Die Sonne würde in drei Tagen wieder aufgehen. Bis dahin würden sie aber längst nicht mehr da sein.

Er öffnete den Mund, um etwas zu Amber zu sagen, und bemerkte in diesem Augenblick, dass in der Kantine zum ersten Mal an diesem Abend Grabesstille herrschte. Thorpe wandte den Kopf, um zu sehen, was los war. Alle Augen waren auf den Eingang gerichtet, in dem Niels Grayson soeben aufgetaucht war. Der Gesichtsausdruck des Direktors sagte jedem, dass etwas nicht stimmte.

»Niels, was ist los?«, fragte Margaret Grayson und eilte an die Seite ihres Mannes.

Grayson achtete nicht auf seine Frau. Er ging steifbeinig zum Tisch, wo der Schnaps stand. Er nahm eine der kleineren Flaschen, setzte sie an und nahm drei große Schluck, bevor er sie wieder hinstellte. Nach Sekunden, die wie eine Ewigkeit erschienen, wandte er sich ihnen zu.

»Das Schiff«, krächzte Grayson. »Es kommt nicht.«

Es kam augenblicklich zu einem Tumult, weil alle gleichzeitig zu sprechen versuchten. Als die Ruhe wiederhergestellt war, fuhr Grayson fort. »Sie haben am Friedensmonument aufgesetzt, um es zu bergen. Offenbar hatte sich dort eine Menge versammelt, die das Schiff stürmte und es beschädigte. Luna City sagt, es könne nicht wieder flottgemacht werden.«

»Dann müssen sie eben ein anderes schicken«, sagte Allison Nalley, eine der jüngeren Angestellten.

Grayson schüttelte den Kopf. »Keins verfügbar. Luna City rät uns, so schnell wir können über Land nach Hadley’s Crossroads zu ziehen. Die Züge fahren noch, wenn auch nur sporadisch. Sie sagen, es würde im günstigsten Fall mindestens drei Tage dauern, von Hadley’s zum Raumhafen zu gelangen.«

»Was ist mit den Spiegeln?«, fragte ein anderer Angestellter.

»Wir werden sie hierlassen müssen. Vielleicht können wir von Luna City aus arrangieren, dass sie jemand abholt. Fest steht jedenfalls, dass wir nichts für sie tun können, solange wir uns noch in dieser Einöde befinden.«

»Wollen Sie damit sagen, dass unsere ganze Arbeit umsonst war?«, fragte Jamie Byrant, eine der Technikerinnen.

»Ich will damit sagen, dass die Ordnung mehr und mehr zusammenbricht«, antwortete Grayson. »In Luna City wurde das Kriegsrecht ausgerufen. Der Beamte dort weiß nicht, wie lange man den Raumhafen noch offenhalten kann. Sie werden versuchen, für uns ein Schiff bereitzuhalten, aber sie können keinerlei Versprechungen machen, da bereits unentbehrliches Personal seine Posten verlässt.«


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