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Amber Hastings saß in der Kantine des Farside Observatoriums und genoss ihr Frühstück, das aus Waffeln mit Erdbeersirup, heißem Buttertoast und mit Levozucker gesüßtem Tee bestand. Beim Essen beobachtete sie den Panoramaschirm der Kantine. Normalerweise war er auf die Nachrichtenstation von Luna City eingestellt, doch diesmal hatte jemand das Bild einer der Oberflächenkameras eingestellt. Es zeigte ein großrädriges Geländefahrzeug, das sich, von Hadley’s Crossroads kommend, auf der holprigen Straße voranarbeitete. Der unebene Kraterboden ließ seine Scheinwerfer über den Bildschirm tanzen; zurück blieben die verblassenden Phantomspuren aktivierten Phosphors.

Der Transporter war ein Rolligon der Translunar-Greyhound Gesellschaft. Er machte die Hundertzwanzig-Kilometer-Fahrt zweimal monatlich – einmal zu Beginn der langen Mondnacht und dann wieder kurz vor dem Einsetzen der Dämmerung. Hadley’s Crossroads war die nächste Haltestelle der mondumspannenden Einschienenbahn und der Ort, über den der gesamte Güterverkehr für das Observatorium lief.

Während sie ihr Frühstück verdrückte, vergegenwärtigte sich Amber das Paradoxe daran, eines der fortschrittlichsten wissenschaftlichen Instrumente in der Einöde aufzustellen. Es stellte allerdings ein Paradoxon dar, das den Astronomen aller Zeitalter geläufig gewesen war. Auf der Erde hatten die Astronomen lange eine nicht zu gewinnende Schlacht gegen die sich ausbreitende Zivilisation gefochten. Gleich wie hoch der Berg, den sie für ihre Instrumente aussuchten, auch war, früher oder später hatte der Himmel das Licht einer nahen Stadt reflektiert.

Lichtverschmutzung stellte für das Farside Observatorium kein Problem dar, dafür aber die Sauerstoffverschmutzung. In der atmosphärelosen Umgebung Lunas verbreiteten die Abgase der Raumschiffe monoatomaren Sauerstoff über Hunderte von Quadratkilometern. Monoatomarer Sauerstoff verdarb die empfindliche optische Beschichtung der Spiegel des Großen Auges, und jede noch messbare Menge davon beeinträchtigte die Leistungsfähigkeit des Teleskops. Um sich vor solchen Beschädigungen zu schützen, hatte der Direktor des Observatoriums alle Raumfahrzeuge aus einem Umkreis von fünfundsiebzig Kilometern verbannt. Deshalb führte der einzige Weg herein oder hinaus über Land. Amber würde das Observatorium in wenigen Monaten verlassen. Sie freute sich darauf, wieder nach Hause zu kommen, jedoch nicht auf die vierstündige Fahrt im Rolligon, um die Einschienenbahn zu erreichen.

»Da sind Sie ja!«, sagte jemand hinter ihrem Rücken.

Amber wandte sich um und sah Niels Grayson. Grayson war einer der ranghöheren Astronomen und Ambers Mentor. Gerüchten zufolge würde er der nächste Direktor des Observatoriums werden, falls sich der alte Dr. Meinz jemals entschloss, sich zur Ruhe zu setzen. Der andere Kandidat für diesen Posten war Professor Dornier, der Ambers Liste derjenigen Leute anführte, für die sie lieber nicht gearbeitet hätte.

»Hallo, Niels«, sagte sie. »Haben Sie nach mir gesucht?«

»Das habe ich, Sie hübscheste meiner Assistenten.«

»Ich bin Ihre einzige Assistentin.«

»Was meine Aussage nur bekräftigt. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Sie sind mein Gast.«

Grayson setzte sich auf die Aluminiumbank Amber gegenüber. Er hielt eine Schwelotasse in der Hand und saugte Kaffee daraus. Sein Zeigefinger deutete auf den Bildschirm. »Ich sehe, der Rolligon ist im Anmarsch.«

»Gerade im richtigen Moment. Ich hoffe, die Beschaffung hat diesmal daran gedacht, das neue Interferometer mitzuschicken.«

»Sie haben gesagt, sie würden daran denken. Aber bei denen bedeutet das nicht unbedingt viel.«

»Wenn sie’s diesmal wieder verschlampt haben, werde ich mich nach Luna City beurlauben lassen, um dort ein paar Köpfe wieder zurechtzurücken.«

»Da werden Sie Schlange stehen müssen. Schon irgendetwas vor heute Abend?«

Es war etwas in Graysons Stimme, das Amber dazu veranlasste, ihn argwöhnisch zu betrachten. Die Frage war allzu beiläufig gewesen. »Nichts. Weshalb?«

»Ich hab mir gedacht, Sie könnten zu uns zum Abendessen kommen. Margaret hat gestern erst gesagt, sie hätte Sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen.«

»Es ist keine zwei Tage her, dass wir uns in der Turnhalle getroffen haben.«

»Das muss gewesen sein, bevor sie diese Bemerkung gemacht hat.«

»Kommen Sie schon, Niels, ich kenne Sie doch. Sie haben einen Hintergedanken. Wer kommt sonst noch?«

»Wir erwarten einen VIP mit dem Rolligon«, sagte er, zum Bildschirm hindeutend. »Ich dachte, ich könnte ihn ebenfalls einladen.«

»Wer ist es? Ein hohes Tier von der Universität?«

»Schlimmer.«

»Von der Regierung!«

Er nickte. »Ein Buchprüfer vom Amt für Wissenschaftsförderung. Er kommt nachsehen, ob wir nicht öffentliche Gelder verschwenden.«

»Sie haben doch wohl nicht vor, schon wieder unser Budget zu verkleinern!«

»Könnte schon sein.«

»Aber das geht nicht! Wir kommen so gerade damit hin. Demnächst werden wir unsere Zimmer wohl noch schichtweise bewohnen müssen.«

»Ich glaube nicht, dass man so weit gehen wird«, erwiderte Grayson. »Jedenfalls bat mich der Direktor, den Gast zu unterhalten. Vielleicht färbt es günstig auf seinen Bericht ab, wenn wir ihn nett behandeln. Wie wär’s mit einem vierten Mann, und wir spielen ein paar Runden Bridge?«

»Ich weiß nicht, Niels. Das letzte Mal, als ich für Sie Hostess gespielt habe, hat mich dieser Astronom aus Australasien den ganzen Abend über begrapscht.«

»Diesmal ist es anders. Es geht um eine ruhige Dinnerparty mit anschließend ein paar Runden Bridge. Direktor Meinz hat es direkt vom Finanzminister, dass unser Besuch ein fanatischer Bridgespieler ist. Sie sind der beste Spieler, der hier herumläuft, und zu dritt können wir schlecht spielen.«

»In Ordnung. Wann soll ich bei Ihnen sein?«

»In meinem Apartment, zwanzig Uhr. Saloppe Kleidung. Margaret wird ein paar Drinks vorbereiten.«


Amber saß an ihrem Schreibtisch auf einer der unteren Ebenen des Verwaltungstrakts und aktivierte ihr Terminal. Sogleich erschien auf dem Bildschirm ihr Tagesplan. Mit geübtem Blick überflog sie die Liste. Die üblichen Berichte und Übersichten waren anzufertigen, Daten zu korrelieren, und ganz unten stand eine private Nachricht von Direktor Meinz. Sie bestätigte den Erhalt. Es war eine offizielle Einladung des Direktors, der für den heutigen Abend um ihr Erscheinen in Niels Graysons Apartment bat. Ihr Ton verriet größere Besorgnis, als Niels’ Einladung beim Frühstück hatte erkennen lassen. Die Nachricht datierte vom gestrigen späten Abend. Amber diktierte eine Antwort und fragte sich, wie groß die finanziellen Probleme des Observatoriums wohl in Wirklichkeit waren.

Sobald der Computer seine Bestätigung gepiept hatte, wandte sie sich wieder den Aufgaben des Tages zu. Sie bemerkte einen Punkt drei Zeilen über der Nachricht des Direktors, runzelte die Stirn und drückte die entsprechende Taste, um die Sprachschaltung des Computers zu aktivieren.

»Ja, Miss Hastings?«, meldete sich das Gerät sogleich.

»Was bedeutet die Position neun auf meinem Tagesplan?«

»Das ist die Registriernummer der Beobachtung, die Sie vor fünfzehn Tagen beantragt haben.«

»Du musst mein Gedächtnis etwas auffrischen.«

»Es handelt sich um eine Kometensichtung im Sternbild Unicorn. Sie wollten eine Beobachtung mit dem 60-cm-Teleskop durchführen, sobald dieser Himmelsausschnitt wieder sichtbar würde.«

»Oh, ja. Bring es auf den Schirm!«

Auf ihrem Monitor erschien ein Sternenhaufen. Es war die gleiche Konstellation, die sie bereits vor zwei Wochen gesehen hatte, als sie die zweite Nachtschicht gehabt hatte. Sie betrachtete die Stelle, wo der Komet gewesen war. Er war immer noch da.

»Überlagere die beiden Bilder«, befahl sie.

Das Bild schien einen Moment lang zu verschwimmen, dann wurde es wieder scharf, als der Computer die beiden Aufnahmen synchronisiert hatte. Die Fixsterne waren dimensionslose Punkte, doch das Zielobjekt schien aus zwei winzigen diffusen Wölkchen zu bestehen.

»Wechselbildschaltung aktivieren!«

Einen Moment lang geschah gar nichts. Dann verschwand eines der beiden Bilder. Nach einer Sekunde erschien es wieder, und sein Gegenstück verschwand. Amber sah den verschwommenen Fleck im Sekundentakt vor und zurückspringen.

»Reicht das für eine Orbitbestimmung aus?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete der Computer. »Die Entfernung des Objekts von der Sonne beträgt etwa 1,2 Milliarden Kilometer. Es beschreibt eine kometentypische sehr weite Umlaufbahn, deren Perihel ein wenig jenseits des Mars liegt.«

»Wie lange dauert ein Umlauf?«, fragte Amber.

»In der Größenordnung von neun Millionen Jahren.«

Amber stieß einen leisen Pfiff aus. Eines der umhervagabundierenden Kinder der Sonne stattete dem Systeminneren einen seiner seltenen Besuche ab. Wenn die Computerschätzung der Umlaufzeit zutraf, war dies erst das fünfhundertste Mal seit der Entstehung des Sonnensystems, dass sich dieses Objekt der Sonne genähert hatte.

»Größenschätzung?«

»Nicht durchführbar. Der Kopf des Kometen wird durch die Koma verhüllt. Vielleicht wäre er mit einem größeren Instrument erkennbar.«

»Dieses verdammte Sechziger!«, murmelte Amber. Das Teleskop, das sie hatte einsetzen müssen, war eines der weniger leistungsfähigen Instrumente des Observatoriums. Es war nur für die Arbeit im sichtbaren Bereich des Spektrums ausgerüstet, und sein Photonendetektor war bereits zwanzig Jahre alt. Es handelte sich – mit den Worten nicht nur eines der jüngeren Belegschaftsmitglieder ausgedrückt – um einen Haufen Schrott.

»Zeig mir die Orbitaltoleranz«, befahl Amber.

Wieder veränderte sich ihr Bildschirm – er zeigte nun eine dreidimensionale Abbildung des Sonnensystems. Eine Reihe von Ellipsen erschien über den konzentrischen Kreisen, die die Umlaufbahnen der Planeten darstellten. Die Farben der Ellipsen reichten von Rot bis Violett, wobei Grün die wahrscheinlichste Umlaufbahn repräsentierte. Die roten und violetten waren zwei mögliche Extreme, bei denen alle möglichen Beobachtungsfehler berücksichtigt waren. Der Regenbogen der Farben durchschnitt die Planetebene zwischen Saturn und Jupiter und fächerte sich dann in beiden Richtungen auf. Der Punkt, an dem sich die Linien schnitten, war die geschätzte momentane Position des Objekts.

Ambers Augen folgten der Flugbahn des Objekts bis zu dem Punkt, wo sie den Orbit des Jupiter kreuzte. »Zeig mir eine beschleunigte Darstellung der Orbitalbewegung an dem wahrscheinlichsten Weg entlang.«

»Ich rechne.«

Die Ellipsen verschwanden, nur die smaragdgrüne Linie blieb auf dem Schirm zurück. Ein goldenes Kometensymbol schwebte herbei und wurde auf seinem Weg allmählich schneller. Als es sich Jupiter näherte, verschmolz der goldene Komet mit der weißumrahmten Planetenkugel.

»Stop! Den Mittelpunkt auf Jupiter, und dann zehnfache Vergrößerung. Fang da wieder an, wo der Komet auf dem Bildschirm erscheint.«

Der Maßstab veränderte und der Vorgang wiederholte sich. Der goldene Komet glitt den grünen Bogen entlang, während sich das Jupitersymbol gemächlich auf den Kometen zubewegte. Diesmal passierten die beiden Symbole einander in einem Abstand von wenigen Millimetern, dann trennten sie sich.

»Ich stelle fest, es handelt sich hier um einen nahen Vorbeiflug«, sagte Amber, mehr zu sich selbst als zum Computer. »Welches ist der kleinste Abstand?«

»Im Normalorbit wird der Komet im Abstand von 100.000 Kilometern am Jupiter vorbeifliegen.«

»Das ist praktisch eine Kollision!«

»Richtig.«

»Hast du den Einfluss des Jupiter auf die Umlaufbahn des Kometen berücksichtigt?«

»Vorliegende Daten nicht ausreichend«, erwiderte der Computer mit einer Sachlichkeit, die Amber irritierend fand. »Die mögliche Spannweite der Annäherungsbahnen macht eine solche Berechnung aussagelos.«

»Rechne es trotzdem durch. Zeig mir die Fluchtorbits für rote, gelbe, grüne, blaue und violette Umlaufbahnen.«

»Wird ausgeführt.«

Amber bedachte die Lage, solange die neuen Linien langsam auf dem Bildschirm erschienen. Jupiter war das Schwergewicht unter den Planeten. Mit einer Masse vom Zweieinhalbfachen der Masse aller übrigen Planeten zusammen, zerrte der König der Planeten an seinen Nachbarn über große Entfernungen hinweg. Es war dem Einfluss des Jupiter zuzuschreiben, dass auf der Umlaufbahn des Asteroidengürtels kein Planet entstanden war.

Wie der Computer vorausgesagt hatte, hatte die Unsicherheit darüber, wie weit der Komet sich Jupiter annähern würde, dramatische Auswirkungen auf seine anschließende Flugbahn. Einer möglichen Flugbahn zufolge konnte er vollständig aus dem Sonnensystem herausgeschleudert werden. Auf einer anderen Bahn würde der Komet in die Sonne stürzen. Auf einer dritten würde er um die Riesenwelt herum eine Haarnadelkurve beschreiben und kehrtmachen.

Es war klar, dass eine Begegnung mit dem König der Planeten unmittelbar bevorstand, und dass so gut wie alles geschehen konnte.


»Ich bin ja so froh, dass Sie kommen konnten, Amber.«

»Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Margaret«, erwiderte Amber, als Niels Graysons Frau sie durch die Tür in das Apartment des Astronomen geleitete. Margaret Grayson war eine rothaarige, hochgewachsene Frau, deren Gesicht und Figur ihre fünfzig Jahre Lügen straften. Mit den Jahren hatte sie die Rolle des Schiedsrichters bei sozialen Konflikten innerhalb der Observatoriumsgemeinschaft eingenommen. Außerdem war sie ein erstklassiger Fotoauswerter. Amber hatte jedes Mal, wenn sie zusammengearbeitet hatten, Gelegenheit gehabt, sich von ihren Fähigkeiten beeindrucken zu lassen.

»Was für ein hübscher Overall«, kommentierte Margaret. »Ist er neu?«

Das Kompliment tat Amber gut. Sie war modisch grau gekleidet, mit dazu passenden Perlohrringen und Halskette, dazu trug sie elegante Stulpenstiefel. Der Overall hatte sie einen Wochenlohn gekostet, als sie das letzte Mal zu Hause gewesen war. Einer der Gründe, warum sie Niels Graysons Einladung angenommen hatte, war, ein wenig damit anzugeben. »Nicht mehr so ganz. Ich hab ihn schon eine Weile.«

»Also, er ist wirklich hübsch.«

»Danke. Ist Niels da?«

»Er und unser Gast sind im Arbeitszimmer. Kommen Sie, ich stelle Sie vor.«

Amber folgte Margaret durch das geräumige unterirdische Apartment in Professor Graysons Arbeitszimmer. Der Raum war mit den Metallmöbeln eingerichtet, wie sie in lunaren Gebäuden üblich waren, und die Wände waren mit astronomischen Aufnahmen gespickt.

»Ah, da ist ja unser zweiter Gast!«, rief Grayson aus, als die beiden Frauen ins Zimmer kamen. »John, darf ich Ihnen meine Assistentin Amber Hastings vorstellen? Amber, das ist John Malvan vom Amt für Wissenschaftsförderung.«

»Mr. Malvan«, sagte Amber und streckte dem Regierungsbeamten die Hand entgegen. Malvan war um die fünfzig und hatte weißes Haar und das faltige Gesicht eines Mannes, der sich Arbeit vom Büro mit nach Hause nahm. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass ihm außerdem der rechte Arm fehlte.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Miss Hastings«, erwiderte Malvan und drückte Ambers rechte Hand fest mit seiner linken.

»Wir sind hier im Observatorium nicht besonders förmlich, Mr. Malvan. Bitte nennen Sie mich Amber.«

»Sehr schön, Amber. Ich heiße John.«

»Hallo, John.«

»Jetzt, wo wir die Vorstellungen hinter uns haben«, warf Margaret Grayson ein, »werde ich mal nach dem Essen sehen. Amber, möchten Sie einen Drink?«

»Ich kümmere mich selbst darum, Margaret.«

»Prima. Ich lasse euch Fachleute jetzt allein, damit ihr fachsimpeln könnt. Bis in ein paar Minuten.«

»Hmmm, ich muss auch einen Moment verschwinden«, sagte Niels zu Malvan. »Ich werde die Papiere holen, über die wir bereits gesprochen haben.«

Als ihre Gastgeber hinausgegangen waren, standen Amber und Malvan eine Weile in verlegenem Schweigen da. »Professor Grayson hat mir von seiner Arbeit über Supernovae erzählt«, sagte Malvan schließlich.

Amber nickte. »Niels ist der führende Experte für die Supernova 1987A. Das ist die dort an der Wand, dritte Aufnahme von links. Wenn Sie irgendetwas über ihr Entstehen, ihre Entwicklung oder ihr weiteres Schicksal wissen möchten, brauchen Sie ihn nur zu fragen.«

»Ah, ja. Er hat das heute schon einmal erwähnt. Ich hätte gedacht, ihr Astronomen hättet etwas Aktuelleres zu erforschen.«

Amber lachte. »Ich wünschte, es wäre so! Wirklich gute Supernovae sind nicht besonders häufig. In unserer Galaxis gibt es nur ein bis zwei in jedem Jahrhundert, und die meisten sind hinter interstellarem Staub verborgen. Tatsächlich wurden während der letzten zweitausend Jahre nur neun größere Supernovae beobachtet. Die hellste war Keplers Stern im Oktober 1604. Dann folgte eine vierhundert Jahre währende Durststrecke, die 1987 endete.«

»Also ist S-1987A genau genommen die einzige Supernova, die seit Erfindung des Teleskops entdeckt wurde!«, erwiderte Malvan.

»Die einzige Supernova in unserer Nähe«, stimmte Amber zu. »Natürlich treten Supernovae in anderen Galaxien auf, aber sie sind zu weit entfernt, um von ihnen echte Informationen zu bekommen.«

»Faszinierend!«, sagte er mit einem Tonfall, der Amber glauben ließ, dass er es ernst meinte.

Sie fuhren fort, über Supernovae im Allgemeinen zu sprechen, bis Amber bemerkte, dass Malvan das Interesse zu verlieren begann. Sie wechselte das Thema. »Wie lange haben Sie vor, hier zu bleiben, John?«

Er zuckte mit den Achseln. »Das ist nur ein Besuch zum Kennenlernen. In den nächsten zehn Tagen werde ich Ihre Buchführung und die Datenverarbeitung überprüfen und dann nach Luna City zurückfahren. Anschließend führen wir eine Generalinventur durch. Die Vorbereitungen werden etwa einen Monat erfordern, die Durchführung einen weiteren Monat. Wir werden das Observatoriumspersonal dabei um Unterstützung bitten müssen.«

»Was haben wir getan, damit wir das verdienen?«, fragte Amber im Versuch zu scherzen. Irgendwie kam es nicht so heraus.

»Reine Routine«, versicherte er ihr. »Das Parlament muss dieses Jahr mit einem engen Budget zurechtkommen, und man will sichergehen, dass man für das Geld einen Gegenwert bekommt.«

»Wollen Sie damit sagen, dass man möglicherweise wieder unser Budget kürzen wird?«

»Das weiß ich wirklich nicht, Amber. Das ist nicht meine Abteilung. Ich mache nur die Revision.«

In diesem Moment kehrte Niels Grayson zu ihnen zurück. Er hatte eine große verschlossene Aktenmappe in der Hand. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Konnte meine verdammte Aktentasche nicht finden. Wie kommt ihr beide zurecht?«

»Ausgezeichnet«, erwiderte Malvan. »Amber hat mir gerade die Bedeutung von Supernovas erklärt, und ich habe sie im Gegenzug über Regierungsgelder aufgeklärt.«

»Ich hoffe, sie hat ein gutes Wort für unsere Gelder eingelegt«, sagte Grayson.

»Sie war ein höchst wirkungsvoller Fürsprecher, das können Sie mir glauben.«

»Margaret hat das Essen fertig. Sollen wir ins Esszimmer übersiedeln? Anschließend machen wir ein Spielchen.«

Beim Essen fragte Niels Malvan, wie lange er schon Wirtschaftsprüfer bei der Regierung sei. Zur allgemeinen Überraschung erklärte er, dass er erst seit drei Jahren bei der Republik Luna angestellt sei. »Vorher«, sagte er, »war ich im Eisbergbau beschäftigt. Das musste ich aufgeben, als ich den Arm verlor.«

»Durch einen Arbeitsunfall?«, fragte Margaret Grayson.

Er nickte. »Wurde zwischen einem Eisbrocken und einer Felswand eingeklemmt. Der Arm wurde irreparabel zerschmettert.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

Malvan zuckte mit den Achseln. »Ich hatte noch Glück. Es hätte ebenso gut meinen Anzug durchlöchern können. Wie auch immer, ich hatte schon immer eine Begabung fürs Rechnen, deshalb habe ich diesen Job bekommen, als ich mit der Umschulung fertig war.«

»Vermissen Sie den Bergbau?«, fragte Margaret.

Malvan lachte. »Mrs. Grayson, alles ist besser als der Eisbergbau. Das Problem dabei ist, dass die meisten Jobs nicht so gut bezahlt werden. Genug von mir geredet. Was tut diese reizende junge Dame hier im Observatorium?«

»Ich bin Intrasystemspezialist«, antwortete Amber.

»Und was macht ein Intrasystemspezialist?«

Amber erläuterte ihre Aufgaben.

»Das hört sich aufregend an«, sagte Malvan.

»Ist es aber nicht.«

»Sie sind zu bescheiden, meine Liebe«, sagte Margaret. »Ich habe gehört, dass Sie erst heute Nachmittag einen Sichtungsbericht an die Astronomische Vereinigung geschickt haben.«

»Worum geht es bei dem Sichtungsbericht?«, fragte Niels.

»Ich schicke Ihnen eine Kopie«, sagte Amber. »Sie finden sie auf Ihrer Tagesübersicht.«

»Nach Andromeda damit, junge Dame! Ich komme bei meiner Post einfach nicht mit dem Lesen nach, wissen Sie. Was ist denn Wichtiges passiert, dass die Vereinigung alarmiert wird?«

Amber setzte ihn über die Kometensichtung und die enge Begegnung mit Jupiter ins Bild. »Nach der Auswertung von Bahndaten aus nur drei Wochen kann ich natürlich noch nicht viel sagen. Trotzdem hielt ich es für das Beste, die Überwachung so früh wie möglich zu alarmieren.«

»Wie lange noch bis zur größten Annäherung?«, fragte Grayson.

»Fünfzehn Monate, plus/minus einige Wochen.«

»Schon eine Vorstellung von der Größe des Objekts?«

Amber wiederholte, was ihr der Computer mitgeteilt hatte. »Da es aus der Oort-Wolke kommt, könnte der Kern ziemlich groß sein«, fügte sie hinzu.

»Oort-Wolke?«, fragte Malvan.

»Dort kommen die Kometen her. Sie erstreckt sich vom Pluto bis zur Hälfte der Strecke zum nächsten Fixstern. Das meiste davon sind die Überbleibsel aus der Zeit, als sich das Sonnensystem verdichtet hat. Mit seinem Neun-Millionen-Jahre-Orbit dringt der Komet tief in die Wolke ein.«

»Wollen Sie damit sagen, dass der Komet von einem Ort auf halbem Weg zum nächsten Fixstern kommt?«

»Nicht von ganz so weit her. Mehrere Tausend Astronomische Einheiten«, antwortete Grayson, ehe er sich an Amber wandte. »Womit haben Sie beobachtet?«

»Mit dem Sechzig-Zentimeter, und dafür ist es nicht ganz das Richtige. Glauben Sie, ich könnte Zugang zum Großen Auge bekommen?«

»Nun, wir können es zumindest versuchen.«

John Malvan hob sein Glas. »Das verlangt geradezu nach einem Toast! Schließlich wird nicht jeden Tag ein neuer Komet entdeckt. Auf unseren jungen Galilei hier!«

Sie prosteten einander zu, doch Amber wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Dass auf sie aus einem so irrelevanten Anlass wie der Sichtung eines Kometen ein Trinkspruch ausgebracht wurde, war peinlich. Sie hoffte, Niels Grayson würde den Vorfall niemandem weitererzählen. Die anderen jungen Angestellten würden sie deswegen unbarmherzig aufziehen.


»Zurück ins Bett!«

Tom Thorpe blickte sich beim Klang der Stimme der Krankenschwester um. Sie hatte ihn dabei erwischt, wie er, auf seine Krücken gestützt, den Schrank seines Krankenzimmers durchstöberte. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als er der weißgekleideten Bewacherin den Rücken zukehrte und seine Suche fortsetzte. »Ich weiß genau, dass man mir Straßenkleidung gebracht hat, als ich unten in der Therapie war, Schwester Schumacher«, sagte er schließlich. »Was haben Sie mit dem Paket gemacht?«

»Wie Sie eigentlich wissen müssten, Herr Thorpe, hat es der Beförderungsrobot im Schwesternzimmer hinterlegt. So ist es hier im Krankenhaus üblich. Und jetzt machen Sie, dass Sie wieder ins Bett kommen, bis Dr. Hoffmann Sie entlässt. Oder soll ich einen Sanitäter rufen und Sie gewaltsam ruhigstellen lassen?«

»Nein, danke«, erwiderte Thorpe. »Für ein paar Stunden kann ich noch ein braver Junge sein.«

Thorpe kletterte langsam in das schmale Krankenbett zurück, das den vergangenen Monat über sein Zuhause gewesen war. Dem Wortwechsel mit der Krankenschwester zum Trotz war er im Großen und Ganzen zufrieden. Er hatte vergessen, wie stark die Erdgravitation war. Allein schon die Tatsache, dass er sich auf der Erde befand, bewies, wie nahe er nach dem Unfall dem Tod gewesen sein musste. Die übliche Prozedur vor der Rückkehr in den Bereich normaler Schwerkraft bedeutete die strikte Einhaltung einer Diät und spezielles Training. Andernfalls riskierte man ein Herzversagen. Seine Anwesenheit in einem Krankenbett in den Schweizer Alpen war Beleg genug, dass Herzversagen die kleinste Sorge seiner Retter gewesen war.

Thorpe erinnerte sich nur bruchstückhaft an seinen Unfall, obwohl ihm ein Monat im Bett viel Zeit gelassen hatte, den Bericht zu lesen. Der Anhebevorgang war perfekt abgelaufen, bis zu dem Zeitpunkt, wo die Kranführer begonnen hatten, die Ladung abzubremsen. Dann hatte sich eine der Seilbremsen festgefressen und das Seil Nummer zwei plötzlich zum Halten gebracht. Die plötzliche Stockung hatte zu viel Zug auf das Seil übertragen und es irgendwo zwischen Turm und Ladung reißen lassen. Von seinem Zug befreit, war das gerissene Seil wie eine Peitsche zurückgeschnellt.

In einer Beziehung hatte Thorpe Glück gehabt. Wenn das zehn Zentimeter dicke Seil auf ihm gelandet wäre, dann wäre von ihm nicht genug übriggeblieben, um ihn zu identifizieren. Das gebrochene Ende war jedoch hundert Meter von der Stelle herabgestürzt, an der er und Nina gestanden hatten. Die Wucht des Aufpralls zerschmetterte die Seilstränge und schickte eine Wolke von Splittern in ihre Richtung. Ein Stück traf Thorpe genau unterhalb seines rechten Knies, schlug ein Loch in seinen Raumanzug und zerschmetterte sein Bein. Im Anzug war es augenblicklich zu einem Druckabfall gekommen, und bald darauf hatte er das Bewusstsein verloren.

Stechende Schmerzen in den Augen und Ohren waren normalerweise das Letzte, was ein Opfer rascher Dekompression empfand. Thorpe erinnerte sich, dass er daran gedacht hatte, als er ohnmächtig wurde. In dem Moment, als Nina die Wolke aus rotem Dampf aus Thorpes Bein explodieren sah, begann sie um Hilfe zu rufen. Dann hatte sie den verstellbaren Sicherheitsgurt von ihrem Anzug gestreift und dazu benutzt, um an Thorpes Hüfte eine primitive Aderpresse anzubringen. Die Abbindung hatte so gut dichtgehalten, dass sie Thorpes durchschlagenen Anzug wieder unter Druck setzen konnte. Das Unfallteam war drei Minuten später eingetroffen. Sie hatten Thorpe in einen Rettungsbeutel gesteckt und ihn augenblicklich aufgeblasen. Dann war es nur noch darum gegangen, ihn so rasch wie möglich in ein Krankenhaus auf der Erde zu schaffen.

»Der Arzt kommt jetzt, Mr. Thorpe.«

Tom fuhr bei der Berührung einer Hand auf seinem Arm und der plötzlichen Stimme nahe an seinem Ohr zusammen. Er öffnete die Augen und erblickte eine andere Krankenschwester, die sich über ihn gebeugt hatte. Er sah zum Fenster. Dem Winkel des Sonnenlichts nach zu schlie- ßen, musste eine Weile vergangen sein. Seine Überlegungen hatten ihn wohl so müde gemacht, dass er eingeschlafen war.

Thorpe schaffte es, sich rechtzeitig in eine sitzende Position hochzuziehen, um die vertraute glatzköpfige Gestalt von Dr. Eric Hoffmann mit der ewig unangezündeten Zigarre zwischen den Zähnen durch die Tür treten zu sehen.

»Guten Morgen, Herr Thorpe. Was macht Ihr Bein?«

»Es tut weh.«

»Sehr gut!«, sagte Hoffmann auf Deutsch.

»Das würden Sie an meiner Stelle nicht sagen.«

»Ich würde sagen, dass ich allen Grund zur Freude hätte! Erinnern Sie sich, als Sie eingeliefert wurden, waren wir keineswegs sicher, dass wir Ihr Bein würden retten können. Aus diesem Grund wurden Sie ja nach Bern geschickt. Glauben Sie mir, ein schwacher Schmerz ist ein sehr gutes Zeichen.«

»Es tut aber immer noch weh.«

Der Arzt unterzog Thorpe einer zwanzigminütigen Untersuchung, die das übliche Pieksen und Knuffen einschloss. Endlich verkündete er ihr Ende mit den Worten: »In Ordnung, Sie können Ihren Schlafanzug ausziehen.«

»Aber, Herr Doktor, bin ich fit genug, um entlassen zu werden?«

Der Arzt nickte. »Sie scheinen sich auf dem Wege der Besserung zu befinden. Ihre Augen sind nicht mehr blutunterlaufen, und Ihr Trommelfell ist hübsch verheilt. Ich habe mir Ihre Untersuchungsergebnisse angesehen, und Sie scheinen von der Anoxie keinen dauerhaften Schaden davongetragen zu haben. Und schließlich haften die Nägel in Ihrem Bein an den Knochen ganz wie erwartet. Wohin werden Sie sich wenden, wenn Sie uns verlassen?«

»Die Gesellschaft hat mich in einem Erholungsheim auf Oahu angemeldet.«

»Ah, Hawaii! Ein wundervoller Ort. Frau Hoffmann und ich haben dort vor fünf Jahren Urlaub gemacht. Nun, tanken Sie gehörig Sonne und lassen Sie Ihr Bein in Ruhe, zumindest bis der Gipsverband entfernt worden ist. Das müsste in etwa zwei Wochen sein.«

»Danke, Doktor. Äh … es tut mir leid, dass ich nicht immer Ihr bester Patient gewesen bin.«

Der Arzt zuckte mit den Achseln. »Ich hatte schon schlimmere. Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen nach Ihren Sachen gesucht haben. Ich werde Schwester Schumacher sie Ihnen bringen lassen. Und ich werde die Medikamentenausgabe anweisen, Ihnen etwas gegen die Schmerzen zu schicken. Erholen Sie sich gut auf Hawaii, Mr. Thorpe. Wenn Sie wiederhergestellt sind, kommen Sie doch bestimmt wieder einmal zum Skilaufen in die Schweiz, ja?«

»Vielleicht, Doktor!«

»Gut! Jetzt muss ich mich aber um meine anderen Patienten kümmern. Auf Wiedersehen und alles Gute!«


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