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NACHRICHTENMELDUNG:

UNIVERSAL FAX, LUNA CITY, REPUBLIK LUNA – 7. Juli 2087

(Zur Verbreitung in AUSL, CHN, NORAM, SOAM, VREU, LUNA, XTERR)

DIE EVAKUIERUNG DES MONDES GEHT HEUTE IN IHRE ZWANZIGSTE WOCHE. DAS UNTERNEHMEN, IN DESSEN VERLAUF BISLANG 9,7 MILLIONEN MENSCHEN UMGESIEDELT WURDEN, SOLLTE URSPRÜNGLICH BIS ZUM ERSTEN JULI ABGESCHLOSSEN SEIN. AUS DEM LUNAPARLA-MENT VERLAUTET, DIE VERZÖGERUNG SEI AUF EINE ANFÄNGLICHE KNAPPHEIT AN FÄHRSCHIF-FEN SOWIE EIN GEWISSES DURCHEINANDER ZU BEGINN DER EVAKUIERUNGSMASSNAHMEN ZURÜCKZUFÜHREN, EHE DIESE VERBESSERT WORDEN SEIEN. BETRIEBSPANNEN UND EINIGE GE-WALTTÄTIGE VORFÄLLE WURDEN EBENFALLS ALS ERANTWORTLICHE FAKTOREN GENANNT. TROTZ DER FRÜHEREN PROBLEME SCHÄTZT DIE REGIERUNG, DASS SICH DER LETZTE UM-SIEDLER SPÄTESTENS SECHSUNDNEUNZIG STUNDEN VOR DEM EINTREFFEN DES KOMETEN AUF DEM WEG ZUR ERDE BEFINDEN WIRD.

NACH OFFIZIELLEN SCHÄTZUNGEN BEFINDEN SICH NOCH ANNÄHERND 300.000 PERSONEN AUF LUNA. DARIN EINGESCHLOSSEN SIND PERSONEN, DIE IHRE EVAKUIERUNG BISLANG AB-LEHNTEN, VON DENEN JEDOCH ERWARTET WIRD, DASS SIE ES SICH NOCH ANDERS ÜBERLEGEN WERDEN. AUF DIE FRAGE, OB DIE ZAHL DER FÄHRSCHIFFE FÜR DIE BEFÖRDERUNG VON 60.000 PERSONEN PRO TAG AUSREICHE, VERSICHERTE DER REGIERUNGSSPRECHER UNSEREM REPORTER, ES GÄBE »MEHR ALS GENUG SCHIFFE, SELBST WENN UNSERE AKTUELLEN AUSLASTUNGSBERECHNUNGEN ZU OPTIMISTISCH SEIN SOLLTEN«.


BEI ANDERER GELEGENHEIT WURDE DER VERTRETER DES PREMIERMINISTERS HOBART ZU DER ANHALTEND STRENGEN ZENSUR VON NACHRICHTENMELDUNGEN SOWIE DER ÜBERWACHUNG SÄMTLICHER KOMMUNIKATIONS-KANÄLE ZWISCHEN ERDE UND LUNA BEFRAGT. ER ERKLÄRTE, DASS DERLEI MASSNAHMEN NOTWENDIG SEIEN UND DASS »ANDERNFALLS DIE DINGE DURCH WILDE GERÜCHTE AUSSER KONTROLLE GERATEN KÖNNTEN, DIE DIE EVAKUIERUNG WOMÖGLICH BEHINDERN WÜRDEN. DENKEN SIE DARAN«, SAGTE DER SPRECHER DES WEITEREN, »DASS IN LUNA CITY IMMER NOCH MENSCHEN AUS DEM HINTER-LAND EINTREFFEN. DA SIE DIE SITUATION NICHT AUS ERSTER HAND KENNEN, MÖCHTEN WIR VERHINDERN, DASS SIE DIE ÜBERZOGENE RHETORIK EINES REPORTERS IN ANGST UND SCHRECKEN VERSETZT.« UM BESTÄTIGUNG GEBETEN, DASS DIES DER GRUND FÜR DIE ZEN-SURMASSNAHMEN SEI, VERWEIGERTE DER PREMIERMINISTER EINEN KOMMENTAR.

- ENDE -

Für die Fahrt nach Luna City benötigten sie, in den überfüllten Abteilen der Einschienenbahn zusammengepfercht, drei Tage. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich der Hauptstadt näherten, drängten sich mehr als dreihundert Menschen in zwölf Wagen. Tom Thorpe und Amber Hastings waren auf die untere Etage der dritten Kabine in der Reihe verbannt worden. Die meiste Zeit über saßen sie mit dem Rücken gegen die Knie anderer Passagiere gepresst. Im Wagen war es heiß und beengt, und es roch nach zu vielen ungewaschenen Körpern. Er erinnerte Thorpe an den Sturmbunker der Admiral Farragut, als sie die Strahlungsgürtel des Jupiter durchflogen hatten. Trotz aller Unzulänglichkeiten war es im Wagen immer noch unendlich viel bequemer, als im Raumanzug über die Wüsten von Farside zu wandern.

Der Zug fuhr spät nach Mitternacht in den Bahnhof von Luna City ein. Als die erschöpften Passagiere, ihre Anzüge über eine Schulter geworfen, ausstiegen, sahen sie sich einem Polizeikordon gegenüber, der sie begleiten sollte. Jeder Polizist hielt eine Straßenkampfwaffe in der Hand. Die Gewehre überzeugten Thorpe davon, dass die Berichte über öffentliche Unruhen zutreffend gewesen waren. Wie die legendären Londoner Bobbys auch, hatte die Polizei von Luna City noch nie Feuerwaffen gebraucht, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Dass sie jetzt welche benötigte, sprach Bände.

Thorpe und Amber gingen die unterirdische Plattform entlang bis dorthin, wo Niels Grayson und die anderen Astronomen beieinanderstanden. Die Gruppe war in Hadley’s Crossroads getrennt worden, und ihre Mitglieder hatten sich die drei Tage über nicht gesehen.

»Also, was machen wir jetzt?«, fragte Amber ihren Vorgesetzten.

»Ich nehme an, dass wir uns registrieren lassen müssen«, antwortete Grayson. »Am besten legen wir unsere Anzüge hier auf einen Haufen, gehen dann zur nächsten Ebene hoch und erkundigen uns, wo wir was tun müssen.«

Auf der nächsten Ebene war eine Menschenmenge, die eher noch zahlreicher war als diejenige, die Thorpe bei seiner Ankunft beobachtet hatte. Die Menge war auch von einer anderen usammensetzung. An Stelle der großen Zahl von Familien, die letztes Mal dominiert hatten, waren es jetzt mehr Einzelpersonen, von denen viele offenbar der lunaren Unterschicht angehörten.

Der Vorgang der Evakuierung, so fand die Observatoriumsgruppe bald heraus, war in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste umfasste die Registrierung bei der Raumhafenbehörde. Zunächst hatte man den Bürgern Prioritäten auf Grundlage einer Reihe von Faktoren zugeteilt. Jetzt galt nur noch: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Sobald eine Person registriert war, erhielt sie den nächsten verfügbaren Platz auf einer Boden-Orbit-Fähre zugewiesen und bekam einen Bordpass für den Einschiffungsbahnhof ausgehändigt, an dem die Schiffe beladen wurden. Verlor jemand seinen Pass oder versäumte er das Schiff aus anderen Gründen, musste er sich wieder hinten anstellen.

Die Spannung in den langen Registrierungsschlangen war greifbar. Da sich jede mit einer anderen Geschwindigkeit voranbewegte, blickten die in den langsameren Schlangen neidisch auf ihre Nachbarn. Es war eine Situation, die einem die Nerven bloßlegen konnte. Es dauerte fast drei Stunden, bis die Gruppe vom Farside-Observatorium an die Spitze der Schlange gelangt war. Niels Grayson zeigte seinen Ausweis und den seiner Frau vor und erhielt nach wenigen Sekunden einen weißen Zettel, auf dem Datum, Zeit und Schiffsname aufgedruckt waren. Amber stand hinter den Graysons. Sie erhielt ihren Passierschein ebenfalls ohne Probleme. Dann war Thorpe an der Reihe.

»Ihren Ausweis, bitte«, sagte der übermüdete Beamte hinter dem Schreibtisch, indem er ohne aufzusehen seine Hand ausstreckte.

»Ich habe keinen«, sagte Thorpe. »Ich bin Tourist.« Das brachte ihm einen ärgerlichen Blick ein. »Treten Sie beiseite.«

»Aber ich brauche einen Passierschein.«

»Treten Sie beiseite. Nichtlunarier werden an Schalter B eine Treppe weiter oben bedient.«

»Was ist mit mir?«, fragte Amber. »Wir sind verlobt und möchten aufs selbe Schiff.«

»Schalter B, eine Treppe weiter oben«, wiederholte der Beamte.

Sie drängten sich bis zum Ausgang vor. Dort standen die Graysons und warteten, bis sich ihre Leute durch die Schlangen hindurchgearbeitet hatten. Amber berichtete ihnen, was vorgefallen war.

»Wenn wir hier fertig sind, will ich zur Oberflächenkuppel hochgehen und mir die Evakuierung ansehen«, sagte Niels Grayson zu Thorpe. »Wir werden dort auf Sie warten.«

Thorpe schüttelte den Kopf. »Verpassen Sie nicht wegen mir Ihren Flug.«

»Diese Gefahr besteht nicht«, erwiderte Grayson und zeigte ihm seinen Passierschein. Der Abflug war in vier Tagen, nur zweiundsiebzig Stunden bevor der Komet aufschlagen sollte.

»Aber das ist ein ganzer Tag später, als die Evakuierung eigentlich beendet sein soll!«, protestierte Thorpe.

»Offenbar hat man das Ende der Evakuierungsmaßnahmen verlegt«, sagte Barnard gedehnt.

»Was ist mit Ihnen, Amber?«

»Gleiches Datum, anderes Schiff.«

»Los, komm, wir sehen, was wir in meiner Angelegenheit machen können«, sagte Thorpe.

Er und Amber drängten sich durch die Menge zu der Rampe, die auf die nächsthöhere Ebene führte. Hier war es weniger überfüllt als unten, aber immer noch ziemlich voll. Von ihrer Erscheinung her hielt Thorpe die meisten Leute in der Menge für 3Regierungsbeamte. Anscheinend war Schalter B die bfertigungsstelle für wichtiges Personal und VIPs.

»Hallo«, sagte er zwanzig Minuten später, als er sich zur Spitze der unvermeidlichen Schlange vorgearbeitet hatte. »Ich bin Nichtlunarier. Man sagte mir, dass ich mich an Sie wenden solle.«

»Wann sind Sie angekommen?«, fragte eine weitere übermüdete Beamtin. Sie war jung und man hätte sie hübsch nennen können, wären nicht die dunklen Ringe unter ihren Augen gewesen.

Thorpe sagte es ihr. An ihrer Reaktion war deutlich abzulesen, was sie von Leuten hielt, die sich ausgerechnet diesen Zeitpunkt für eine Reise zum Mond ausgesucht hatten. Sie stellte noch ein paar weitere Fragen, dann gab sie seinen Namen in den Computer ein. Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch mehr.

»Hier steht, Sie hätten Priorität Stufe A. Hier …«, sie reichte ihm eine grüne Karte. »Zeigen Sie das bei der Einschiffung vor. Innerhalb einer Stunde müssten Sie auf dem Schiff sein.«

»Diese junge Dame begleitet mich. Was ist mit ihr?«

»Name?«

Amber nannte der Frau ihren Namen.

Nach wenigen Sekunden sah die Frau auf. »Tut mir leid, Sie haben keine Priorität. Sie müssen warten, bis Sie an der Reihe sind.«

Thorpe schüttelte den Kopf. »Ich bin weit gereist, um diese Frau zu finden, und ich will sie nicht wieder verlieren.«

»Es tut mir leid, Sir, aber wir haben keine Zeit für Sonderwünsche. Bitte nehmen Sie Ihren Prioritätsausweis und treten Sie beiseite.«

»Los schon, Tom«, sagte Amber. »Wir treffen uns wie geplant auf der Erde.«

»Nein! Ich weigere mich, ohne dich zu gehen.« Er reichte der Frau den grünen Ausweis. »Könnten Sie mir bitte einen Ausweis für das gleiche Schiff ausstellen, dem die Dame hier zugewiesen ist?«

»Zeigen Sie mir Ihren Passierschein, Bürgerin«, sagte die Frau und streckte die Hand aus. Etwas in ihrer Stimme löste in Thorpe einen Anflug von Unbehagen aus. Für einen Moment glaubte er das verborgene Grinsen eines Bürokraten zu spüren, der im Begriff war, einen lästigen Bittsteller abzuwimmeln. Amber reichte ihr Dokument hinüber. Als die Frau Thorpe seinen grünen Ausweis zurückgab, trug er die gleiche Kennzeichnung wie Ambers Passierschein. Er konnte den Blick der Frau den ganzen Weg über in seinem Nacken spüren, bis er den Ausgang der Schalterhalle erreicht hatte.

Amber führte ihn zur Durchgangshalle hinauf. Rund um die Kuppel befanden sich eine Reihe riesiger Sichtluken, die den Blick auf verschiedene Teile des Raumhafens freigaben. Als sie Grayson und die anderen Flüchtlinge vom Farside-Observatorium entdeckten, standen sie zusammengedrängt vor einer dieser Luken und beobachteten das Starten und Landen der Schiffe. Thorpe starrte zu den Dutzenden von Boden-Orbit-Fähren hinüber, die über die Oberfläche des Oceanus Procellarum verteilt waren. Es war ein eeindruckender Anblick.

Da gegenwärtig weitaus mehr Schiffe landeten, als der Luna City Spaceport von seiner Konstruktion her verkraften konnte, waren die meisten Schiffe gezwungen, auf provisorischen Landefeldern aufzusetzen. Um die Beladung zu beschleunigen, wurde der Treibstoff durch Isolierschläuche, die kreuz und quer auf der Mondebene übereinanderlagen, zu ihnen hinübergepumpt. Die Menschen wurden ebenfalls per Pipeline hinübergeschafft. Von der Abfertigungshalle schlängelten sich Dutzende von transparenten Laderöhren über das flache Mare auf die Schiffe zu. Jede war mit mehreren Reihen von Menschen gefüllt, die geduldig darauf warteten, dass sie an Bord gehen konnten. Es schien unmöglich, dass so viele in ein einziges kleines Schiff passen sollten. Wenn eine Laderöhre leer war, wurde sie zurückgezogen, und das vollbeladene Schiff hob sich auf einem Feuerschweif in den Himmel. Eine Minute später landete ein anderes Schiff und nahm seinen Platz ein, und der Vorgang konnte von neuem beginnen.

»Ein effizientes Verfahren«, sagte Thorpe, während er beobachtete, wie die nächste Fähre abhob.

Niels Grayson wandte sich von der Sichtluke ab und fragte, wie es gelaufen war. Amber sagte es ihm.

»Das war ausgesprochen galant von Ihnen, Thomas«, sagte Grayson, »aber nicht besonders klug.«

Thorpe zuckte mit den Achseln. »Ob klug oder nicht, jetzt ist es passiert. Was machen wir jetzt?«

»Wir haben uns gedacht, wir könnten in die Stadt gehen. Die Polizei patrouilliert immer noch in den Sektoren in der Nähe des Raumhafens, deshalb ist es dort sicher.«

»Holen wir unsere Anzüge«, sagte Amber, »und suchen wir uns eine Waschgelegenheit. Ich muss den Dreck einer ganzen Woche abwaschen!«


Auf der dritten Ebene, im vierten Wohnring, entdeckten sie ein kleines Hotel. Obwohl es verlassen war, arbeiteten alle Einrichtungen noch. Sie nahmen sich Zimmer in einem Seitenflügel und beschlossen, trotz der Polizeikontrollen weitere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Wie alle Gebäude auf Luna, hatte das Hotel eine Reihe von Notschleusen, die im Falle eines Druckverlustes luftdicht schließen sollten. Zwei der Observatoriumstechniker verlegten neue Leitungen zu den Türen an beiden Enden des langen Korridors. Eine von ihnen schlossen sie sofort und installierten einen Schalter, der die andere bei Bedarf schließen würde.

Nachdem er gebadet und sich rasiert hatte, fühlte sich Thorpe wie neugeboren. Als er aus dem Bad kam, sah er, dass Amber den nterhaltungsmonitor auf eine Nachrichtensendung eingestellt hatte. Während der vergangenen sechs Monate hatten die achrichtenagenturen Lunas unter Regierungskontrolle gestanden und waren streng zensiert worden. Ihre Hauptaufgabe war es gewesen, der Ausbreitung von Gerüchten entgegenzuwirken und die Evakuierung zu unterstützen, weshalb ihnen ein Großteil der Spannung aus der Zeit vor der Evakuierung fehlte. Aber immer noch waren sie die Hauptinformationsquelle für alle, die auf ihre Evakuierung warteten.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte er, immer noch damit beschäftigt, sein Haar zu trocknen.

»Ich weiß jetzt, warum sie allen einen Abflugtermin in vier Tagen gegeben haben.«

»Warum?«

»Das ist der letzte Tag der Evakuierung. Alle fünf Schiffe befinden sich im Moment im Orbit. Sie werden dort bis achtundvierzig Stunden vor dem Ende bleiben. Danach befördern die Schlepper sie zur Erde.«

»Wird genug Platz sein, um alle an Bord zu nehmen?«

»Sie sagen, dass es eng werden wird, dass aber jeder evakuiert werden wird, wenn die Anweisungen exakt befolgt werden.«

Thorpe nickte. An der Sorbonne hatte es eine Gruppe gegeben, deren Hauptaufgabe es gewesen war, sich mit einer Simulation der Tage und Stunden der Evakuierung zu befassen. In mehreren Beziehungen glich der Abschluss des gigantischen Unternehmens dem Abzug einer Armee, die unter feindlichem Beschuss stand. Wenn diese Aufgabe nicht bewältigt wurde, wäre eine Katastrophe die Folge.

Als sich alle gesäubert hatten, machte sich eine Gruppe auf die Suche nach Nahrung. Die Rationen im Zug waren knapp bemessen gewesen, wenn auch nicht so winzig wie auf der Wanderung vom Observatorium zur Bahn.

Die Automatikküche des Hotels arbeitete noch, und bald waren alle Mägen zum ersten Mal seit einer Woche gefüllt. Dann entdeckte einer der jüngeren Angestellten in einer kleinen Bar mehrere Flaschen Luna-Wodka, und es wurde ein Schlummertrunk herumgereicht.

Als Thorpe spät am nächsten Nachmittag erwachte, stellte er fest, dass Amber bereits auf war. Sie zeigte ihm eine Nachricht, die Niels Grayson an ihrer Tür befestigt hatte und die besagte, dass er für den Abend eine strategische Lagebesprechung einberufen habe. Wofür er eine Strategie entwerfen wollte, sagte er nicht.

Thorpe und Amber erschienen früh zu der Besprechung. Sie hatten ein weiteres Bad genommen und sich aus den Überbleibseln des Vorabendfestes einen Snack organisiert. Die Hälfte ihrer Gruppe war bereits anwesend.

»Worum geht es denn, Niels?«, fragte Amber, nachdem sie auf dem Sofa Platz genommen hatte.

»Uns bleiben noch drei Tage, bis wir evakuiert werden sollen. Wir können diese Tage hier im Hotel verbringen und essen und trinken bis zum Gehtnichtmehr, oder aber wir nutzen die Zeit, um die Spiegel zu retten, die wir am Observatorium zurückgelassen haben.«

»Wie sollen wir unter diesen Umständen die Spiegel retten, Niels?«, fragte Dr. Dornier. Der Astronom litt immer noch an den Nachwirkungen des Überlandmarsches. »Sie befinden sich auf der gegenüberliegenden Seite des Monds, und wir haben kein Schiff.«

»Ich weiß nicht, wie wir es anstellen sollen, Felix. Ich weiß nur, dass wir es versuchen sollten. Ich bin für alle Vorschläge offen.«

»Wie wäre es mit einem Hüpfer?«, fragte Thorpe. »Vielleicht können wir das Fassungsvermögen der Tanks so vergrößern, dass wir damit bis in einen Orbit kommen.«

»Die Republik hat das bereits getan. Viele der Evakuierungsfähren sind umgebaute Hüpfer. Jeder MoonJumper, der nicht umgebaut wurde, ist für unsere Zwecke zu klein. Ich fürchte, wir brauchen ein richtiges Schiff.«

»Vielleicht können wir den Frachter am Friedensdenkmal reparieren?«, schlug Cragston Barnard vor.

Amber schüttelte den Kopf. »Es ist zu weit bis dorthin. Die Wahrscheinlichkeit wäre zu groß, dass wir unsere Evakuierungsschiffe verpassen.«

»Dann reparieren wir eben ein anderes Schiff!«, sagte Margaret Grayson. »Es gibt doch bestimmt noch ein paar andere Kästen auf Luna, die fünfzehn qualifizierte Leute notdürftig für den Raum müssten herrichten können.«

»Haben Sie eine Vorstellung davon, was alles notwendig ist, um ein Schiff raumtüchtig zu machen? Wir würden niemals rechtzeitig fertig.«

»Nein«, sagte Grayson und hob die Hand. »Die Idee hat etwas für sich. Wir sollten sie nicht verwerfen, ohne sie einer genaueren Prüfung unterzogen zu haben. Wo könnten wir ein solches Schiff finden?«

»Auf der anderen Seite des Raumhafens gibt es einen Schiffsfriedhof«, sagte Amber. »Ich habe ihn schon ein dutzend Mal beim Ein-und Ausfliegen aus Luna City gesehen.«

»Wie kommt man dorthin?«

»Eine gute Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob die Tunnel so weit reichen.«

»Dann schlage ich vor, dass Sie und Thomas Ihre Anzüge anlegen und es herausfinden. In der Zwischenzeit werden meine Frau und ich die zuständige Behörde aufsuchen und versuchen, ihnen ein Schiff abzuschwatzen. Vielleicht gelingt es mir, ein bisschen überzeugender aufzutreten als neulich im Observatorium.«

»Selbst wenn wir ein Schiff finden, wie sollen wir dann die Spiegel in Sicherheit bringen?«, fragte Felix Dornier. »Die Behörden werden es niemals erlauben, sie an Bord eines vakuierungsschiffes zu bringen.«

»Eins nach dem anderen«, antwortete Grayson.


Halver Smith starrte die leuchtenden Buchstaben an und dachte über ihre Bedeutung nach:

Mögest du in interessanten Zeiten leben!

Er hatte sein Terminal so programmiert, dass es nach dem Einschalten als Erstes diese alte chinesische Verwünschung anzeigte, als Erinnerung daran, dass die Ereignisse, die eine Zeit für Historiker interessant machten, denjenigen, die in ihr lebten, für gewöhnlich Schrecken einjagten. Die gegenwärtigen Zeiten waren für Smith besonders ›interessant‹.

Die Aufregung, die Vernichtung der Erde nur knapp abgewendet zu haben, sollte eigentlich für ein ganzes Leben reichen. Aber obwohl sich Donnerschlag inzwischen auf einem Kollisionskurs mit Luna befand, waren die mit dem verirrten Planetoiden verknüpften Probleme noch bei weitem nicht gelöst. Größte Anstrengungen wurden unternommen, um die Erde vor den beim Aufprall des Kometen emporgeschleuderten Trümmerstücken zu bewahren. Die Verbesserung der 3ometenflugbahn durch den Felsen war ein Versuch, die Menge des Auswurfs zu minimieren. Aber keine noch so große Änderung der Flugbahn würde dieses Problem gänzlich eliminieren können. Aus diesem Grunde errichtete die Erde auch eine effektive Abwehr gegen Meteoriten.

Das Meteoriten-Schutzsystem sollte aus zwei Dutzend Radargeräten bestehen, die den Orbit absuchten und von denen jedes eine Million Ziele gleichzeitig verfolgen konnte. Diejenigen Trümmerstücke, die eine Gefahr für die Erde darstellten, würden von antimateriebetriebenen, mit nuklearen Sprengköpfen ausgerüsteten Projektilen anvisiert werden. Die resultierenden Explosionen würden die Trümmerstücke – so hoffte man – in eine sicherere Umlaufbahn schleudern.

Mehrere Tausend Industriebetriebe arbeiteten fieberhaft daran, die Orbitalkette der Radaranlagen und Raketenwerfer festzustellen. Aufgrund ihrer Erfahrung bei Orbitalkonstruktionen war die Sierra Corporation eine der Hauptbeteiligten. Zusätzlich zu der Arbeit am Meteoriten Schutzsystem produzierten Halver Smiths Leute so viel Antimaterie, wie die 3eilchenbeschleuniger der Sierra Skies hergaben. Die Hälfte des Kraftwerksausstoßes an Antimaterie würde für den Antrieb der Abfangraketen eingesetzt. Die andere Hälfte würde dann gebraucht, um den Exodus von Luna zu ermöglichen.

Das Meteoriten-Schutzsystem war jedoch nicht Halver Smiths einzige Sorge. Er musste sich ebenfalls um die finanzielle Gesundheit seiner Firma kümmern.

Der Aktienmarkt hatte auf die Nachricht, dass SierraCorp den Felsen mit Donnerschlag zur Kollision bringen würde, schnell reagiert. Innerhalb weniger Tage war der Kurs der Sierra-Aktien um fünfundsiebzig Prozent abgesackt. Da er sich keine Hoffnung darauf machen konnte, den Kurssturz aufzuhalten, hatte Smith sich entschlossen, seinen Vorteil daraus zu ziehen. Die letzten drei Monate über hatte Smith seine Aktivposten liquidiert, um sich Bargeld zu verschaffen, mit dem er seine eigenen Aktien zurückkaufen konnte. Er setzte darauf, dass die Nationen ihr Versprechen einhalten würden, für den Felsen zu zahlen. Wenn sie das dafür notwendige Gesetz rasch genug verabschiedeten, würde sich das Gesellschaftskapital wie auch Smiths Privatvermögen erheblich vergrößern. Falls sie es nicht taten, würden sich er und sein Geisteskind gemeinsam dem Konkursgericht stellen müssen.

Smiths Träumereien wurden von seiner Sprechanlage unterbrochen. »Ihre Frau ist da, Mr. Smith.«

»Schicken Sie sie rein!«

Barbara stürmte fast gleichzeitig mit seinen Worten durch die Tür. Er stand auf, überquerte den dicken Teppich und küsste sie mit einer Leidenschaft, die manch einer bei einem Mann von seinem Alter unschicklich gefunden hätte.

»Guten Morgen«, sagte er, als er sie schließlich freigab.

»Ebenfalls guten Morgen.«

»Ist irgendwas?«, fragte er, als er ihre gefurchte Stirn bemerkte.

»Die Evakuierung liegt hinter dem Zeitplan zurück.«

Nachdem Avalon Donnerschlag erfolgreich den Weg versperrt hatte, war die Arbeitsgruppe an Bord der Newton Station aufgelöst worden. Barbara hatte sich dafür entschieden, sich der Arbeitsgruppe anzuschließen, welche die Evakuierung von Luna beratend begleitete.

»Wie weit zurück?«

»Zu weit. Sie werden es nicht schaffen. Es werden noch Leute auf dem Boden sein, wenn der Komet auftrifft.«

»Bist du dir sicher?«

»Ich habe die Zahlen ein Dutzend Mal durch den Computer laufen lassen. Das Evakuierungstempo verlangsamt sich immer weiter. Die Flugmannschaften überstrapazieren ihre Kräfte, und ihre Erschöpfung schlägt sich in den täglichen Zahlen nieder. Die Gesamtzahlen sind allein während der letzten zehn Tage um zehn Prozent gesunken.«

»Wie viele werden übrigbleiben?«

»Mindestens fünfzigtausend. Es könnten zwei-oder dreimal so viele werden, wenn man die Kontrolle über die Menge verliert.«

Smith nickte. Sobald die auf dem Boden befindlichen Menschen erkannten, dass sie den Mond mit großer Wahrscheinlichkeit nicht würden verlassen können, würde der Aufruhr beginnen. Mit dem Ausbruch ausgedehnter Unruhen würde die Evakuierung definitiv zu Ende sein. Wenn die Einschiffung nicht mehr ruhig vonstatten ginge, würde es keine Besatzung wagen, in Luna City zu landen, aus Angst, von einer Menschenmenge in Panik überrannt zu werden.

»Ich bin froh, dass Tom Thorpe und Amber Hastings rechtzeitig weggekommen sind.«

»Oh?«, machte Barbara. »Hast du von ihnen gehört?«

»Nein, aber es dürfte nicht mehr lange dauern. Ihr Sonderschiff müsste zu diesem Zeitpunkt das ganze Observatorium bereits vom Mond weghaben. Ein Wagen und ein Fahrer stehen schon bereit, sie abzuholen, sobald sie am Raumhafen eingetroffen sind.«

»Wir müssen das Tempo beschleunigen«, sagte Barbara und wandte sich damit wieder dem Thema Evakuierung zu. »Das heißt, wir müssen irgendwo neue Schiffe auftreiben.«

»Wenn wir nur könnten«, sagte ihr Mann. »Leider gibt es kein einziges Schiff mehr, das man einsetzen könnte. Wir brauchen alle andern für den Felsen oder das Meteoriten-Schutzsystem. Es klingt vielleicht herzlos, aber wir werden einfach so viele retten müssen, wie wir können. Schließlich haben wir zehn Millionen von ihnen gerettet.«

»Du hast natürlich Recht«, pflichtete Barbara ihm bei. »Es hätte viel schlimmer kommen können.«

Aus ihren Worten war herauszuhören, dass ihr Verstand vielleicht zustimmte, ihr Herz aber nicht.


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