Kapitel 86

Das Feuer selbst

Sechs Peitschenhiebe und Ausschluss aus der Universität«, sagte der Rektor mit schwerer Stimme.

Ausschluss, dachte ich wie benommen, so als hätte ich das Wort nie zuvor gehört. Ich spürte die große Zufriedenheit, die Ambrose ausstrahlte. Einen Moment lang fürchtete ich, mir würde dort vor aller Augen speiübel werden.

»Erhebt einer der Meister Einspruch gegen diesen Beschluss?«, fragte der Rektor, dem Ritual folgend, während ich den Blick auf meine Füße gerichtet hielt.

»Ja, ich.« Das konnte nur Elodins Stimme sein.

»Wer ist dafür, den Ausschluss zur Bewährung auszusetzen?« Ich hob den Blick und sah Elodin die Hand heben. Dann Elxa Dal. Kilvin, Lorren, der Rektor. Alle bis auf Hemme hoben die Hand. Ich hätte vor Fassungslosigkeit fast laut losgelacht. Elodin lächelte mir schelmisch zu.

»Der Ausschluss ist hiermit aufgehoben«, sagte der Rektor, und ich spürte förmlich, wie Ambroses Selbstzufriedenheit in sich zusammenfiel. »Gibt es sonst noch etwas vorzubringen?« Die Stimme des Rektors hatte einen merkwürdigen Beiklang. Er erwartete etwas.

Elodin meldete sich zu Wort. »Ich beantrage, dass Kvothe zum Re’lar befördert wird.«

»Wer ist dafür?« Bis auf Hemme hoben alle die Hand. »Hiermit wird Kvothe am fünften Fallow mit Elodin als Bürgen zum Re’lar befördert. Die Sitzung ist geschlossen.« Er erhob sich und ging zum Ausgang.

»Was?!«, schrie Ambrose und sah sich um, als könnte er sich nicht entscheiden, an wen er diese Frage richten sollte. Schließlich eilte er Hemme hinterher, der hinter dem Rektor und der Mehrheit der übrigen Meister schnell davoneilte. Mir fiel auf, dass er längst nicht mehr so schwer humpelte wie noch zuvor.

Ich stand völlig verblüfft da, bis Elodin zu mir kam und mir die schlaffe Hand schüttelte. »Verwirrt?«, fragte er. »Komm, wir gehen ein Stück zusammen. Ich erkläre es dir.«

Der helle Sonnenschein dieses Nachmittags kam mir nach der schattigen Kühle im Meistersaal ungeheuer grell vor. Elodin zog sich umständlich den Talar über den Kopf. Darunter trug er ein schlichtes weißes Hemd und eine ziemlich schäbige Hose, die von einem ausgefransten Tau gehalten wurde. Jetzt erst sah ich, dass er barfuß war. Seine Füße waren genauso sonnengebräunt wie sein Gesicht und seine Arme.

»Weißt du, was Re’lar bedeutet?«, fragte er mich im Plauderton.

»Übersetzt heißt es ›Sprechender‹«, sagte ich.

»Und weißt du auch, was es bedeutet?«, hakte er nach.

»Äh, nein«, gestand ich.

Elodin holte tief Luft. »Es war einmal eine Universität. Man hatte sie auf den Ruinen einer älteren Universität errichtet. Sie war nicht sehr groß, bestand nur aus etwa fünfzig Leuten. Es war die beste Universität weit und breit, und daher kamen die Leute und studierten dort. Und es gab eine kleine Gruppe von Leuten, die sich dort trafen. Leute, deren Kenntnisse über Mathematik, Grammatik und Rhetorik hinausgingen.

Sie gründeten an dieser Universität einen kleinen Zirkel. Sie nannten ihn ›das Arkanum‹, denn es war ein kleiner, streng geheimer Kreis. Sie hatten unter sich eine strenge Rangfolge, und aufsteigen konnte man nur, indem man sein Können unter Beweis stellte. Man wurde in diesen Kreis aufgenommen, wenn man zeigen konnte, dass man die Dinge sah, wie sie wirklich sind. Dann wurde man zum E’lir ernannt, was ›Sehender‹ bedeutet. Und was glaubst du wohl, wie wurde man Re’lar?« Er sah mich erwartungsvoll an.

»Indem man sprach.«

Er lachte. »Genau!« Er blieb stehen und sah mich an. »Aber was sprach man?«

»Worte?«

»Namen«, sagte er voller Enthusiasmus. »Namen bilden das Grundgerüst der Welt, und ein Mann, der sie auszusprechen vermag, ist auf dem Wege, Macht zu erlangen. Anfangs bestand das Arkanum nur aus einer kleinen Gruppe von Männern, die etwas von diesen Dingen verstanden. Männer, die mächtige Namen kannten. Sie unterrichteten einige wenige Studenten, leiteten sie langsam und behutsam zu Macht und Weisheit. Und zur Magie. Zur echten Magie.« Er sah sich zu den Gebäuden und den herumlaufenden Studenten um. »Damals war das Arkanum ein starker Branntwein. Heute ist es nur noch ein völlig verwässerter Wein.«

Ich wartete, bis ich sicher war, dass er ausgesprochen hatte. »Meister Elodin, was ist gestern geschehen?« Ich hielt den Atem an und hoffte wider alle Vernunft auf eine nachvollziehbare Antwort.

Er sah mich fragend an. »Du hast den Namen des Windes gerufen«, sagte er, als läge die Antwort auf der Hand.

»Aber was bedeutet das? Und was meint Ihr mit Name? Ist es einfach nur ein Name wie ›Kvothe‹ oder ›Elodin‹? Oder ist es eher wie ›Taborlin der Große kannte den Namen aller Dinge‹?«

»Sowohl als auch«, sagte er und winkte einem hübschen Mädchen zu, das im ersten Stock aus dem Fenster schaute.

»Aber wie kann ein Name denn so etwas bewirken? ›Kvothe‹ und ›Elodin‹ sind doch einfach nur Laute, die wir von uns geben und die von sich aus keine Macht besitzen.«

Elodin hob eine Augenbraue. »Tatsächlich? Na, dann pass mal auf.« Er blickte die Straße entlang. »Nathan!«, rief er. Ein Junge sah sich zu uns um. Er war einer von Jamisons Laufburschen. »Komm mal her, Nathan!«

Der Junge kam zu uns. »Ja, Sir?«

Elodin reichte ihm seinen Talar. »Würdest du den bitte zu mir nach Hause bringen?«

»Gern, Sir.« Er nahm den Talar und eilte davon.

Elodin sah mich an. »Siehst du? Die Namen, mit denen wir einander rufen, sind keine Namen, haben aber dennoch eine gewisse Macht.«

»Das ist aber keine Zauberei«, widersprach ich. »Er musste Euch gehorchen. Ihr seid ein Meister.«

»Und du bist ein Re’lar«, erwiderte er. »Du hast den Wind gerufen, und der Wind hat dir gehorcht.«

Ich versuchte das zu verstehen. »Wollt Ihr damit sagen, dass der Wind lebendig ist?«

Er machte eine vage Geste. »In gewisser Hinsicht schon. Auf die eine oder andere Art sind die meisten Dinge lebendig.«

Ich versuchte es noch einmal anders. »Aber wie habe ich denn den Wind gerufen, wenn ich doch gar nicht weiß, wie man das macht?«

Da klatschte Elodin in die Hände. »Das ist eine sehr gute Frage! Und die Antwort lautet: Jeder von uns hat zweierlei Geist. Einen wachen Geist und einen schlafenden Geist. Unser wacher Geist ist der, der denkt und spricht. Unser schlafender Geist aber ist viel mächtiger. Er schaut tief in das Herz der Dinge hinein. Das ist der Teil von uns, der träumt. Er erinnert sich an alles. Er verleiht uns die Intuition. Dein wacher Geist versteht das Wesen der Namen nicht. Dein schlafender Geist versteht es durchaus. Er weiß bereits vieles, was dein wacher Geist nicht weiß.«

Elodin sah mich an. »Weißt du noch, wie du dich gefühlt hast, nachdem du den Namen des Windes gerufen hattest?«

Ich nickte. Es war keine angenehme Erinnerung.

»Als Ambrose deine Laute zerbrach, hat er damit deinen schlafenden Geist geweckt. Und wie ein Bär im Winterschlaf, den man mit einem brennenden Stock anstößt, hat er sich aufgebäumt und den Namen des Windes gebrüllt.« Er fuchtelte wild mit den Armen und erntete von einigen vorübergehenden Studenten befremdete Blicke. »Und anschließend wusste dein wacher Geist nicht, was er tun sollte. Er war jetzt plötzlich allein mit einem wütenden Bären.«

»Und was habt Ihr getan? Ich kann mich nicht mehr erinnern, was Ihr mir zugeflüstert habt.«

»Es war ein Name. Es war ein Name, der den Bär beruhigte und wieder einschlafen ließ. Doch jetzt schläft er nicht mehr so tief. Wir müssen ihn nun vorsichtig wecken und unter deine Kontrolle bringen.«

»Habt Ihr deshalb den Antrag gestellt, meinen Ausschluss auszusetzen?«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du warst nie wirklich in der Gefahr, verwiesen zu werden. Du bist nicht der erste Student, der im Zorn den Namen des Windes rief, aber doch der erste seit etlichen Jahren. Es ist meist eine starke Gefühlsaufwallung, die den schlafenden Geist zum ersten Mal weckt.« Er lächelte. »Mir kam der Name des Windes, als ich mich einmal mit Elxa Dal stritt. Und als ich ihn rief, sind seine Kohlenbecken explodiert«, sagte er und kicherte.

»Was hatte er getan, dass er Euch so in Wut versetzte?«

»Er hatte sich geweigert, mir die höheren Bindungen beizubringen. Ich war erst vierzehn und noch E’lir. Er sagte, ich müsste warten, bis ich ein Re’lar sei.«

»Es gibt höhere Bindungen?«

Er grinste mich an. »Geheimnisse, Re’lar Kvothe – das ist es, worum es geht, wenn man Arkanist ist. Und da du nun Re’lar bist, hast du ein Anrecht auf gewisse Dinge, die dir bisher vorenthalten wurden. Die höheren sympathetischen Bindungen, das Wesen der Namen. Und auch einige recht fragwürdige Runen, falls Kilvin meint, du seist schon so weit.«

In mir keimte Hoffnung auf. »Bedeutet das, dass ich jetzt wieder Zugang zur Bibliothek habe?«

»Oh«, sagte Elodin. »Nein. Ganz und gar nicht. Die Bibliothek ist Lorrens Domäne. Sein Königreich. Und es ist nicht an mir, dich in die dortigen Geheimnisse einzuweihen.«

Als er das sagte, kam mir etwas in den Sinn, das mich seit Monaten nicht losließ. Das Geheimnis im Innern der Bibliothek. »Was ist mit dieser Steintür im Magazin?«, fragte ich. »Der Tür mit den vier Kupferplatten? Könnt Ihr mir nun, da ich ein Re’lar bin, verraten, was sich dahinter verbirgt?«

Elodin lachte. »O nein. Nein, nein. Du hältst dich nicht mit kleinen Geheimnissen auf, was?« Er klopfte mir auf den Rücken, so als hätte ich gerade einen besonders guten Scherz gemacht. »Valaritas. Mein Gott, ich weiß noch genau, wie es war, als ich zum ersten Mal vor dieser Tür stand.« Er lachte wieder. »Gütiger Tehlu, ich bin fast gestorben vor Neugier.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die Tür mit den vier Kupferplatten wirst du nicht öffnen dürfen. Aber –« Er sah mich mit Verschwörermiene an. »Da du ja nun ein Re’lar bist …« Er blickte sich um, so als fürchte er, dass uns jemand belauschen könnte. Ich kam ein wenig näher. »Da du ja nun ein Re’lar bist, gebe ich zu, dass es sie gibt.« Er zwinkerte mir zu.

Ich war enttäuscht, konnte mir aber dennoch ein Lächeln nicht verkneifen. Schweigend gingen wir weiter, erst am Hauptgebäude und dann am Anker’s vorbei. »Meister Elodin?«, sagte ich schließlich.

»Ja?« Sein Blick folgte einem Eichhörnchen quer über die Straße und einen Baum hinauf.

»Das mit den Namen verstehe ich immer noch nicht.«

»Ich werde dich lehren, es zu verstehen«, sagte er leichthin. »Das Wesen der Namen lässt sich nicht beschreiben. Es lässt sich nur aus eigenem Erleben verstehen.«

»Wieso lässt es sich nicht beschreiben?«, fragte ich. »Wenn man etwas versteht, kann man es doch auch beschreiben.«

»Kannst du alles beschreiben, was du verstehst?«, fragte er und sah mich von der Seite an.

»Natürlich.«

Elodin zeigte auf eine Gestalt, die sich vor uns auf der Straße bewegte. »Welche Farbe hat das Hemd dieses Jungen?«

»Blau.«

»Was meinst du mit blau? Beschreibe das.«

Ich überlegte einen Moment lang und gab dann auf. »Dann ist blau also ein Name?«

»Es ist ein Wort. Worte sind die blassen Schatten vergessener Namen. Und wie Namen Macht innewohnt, wohnt auch Worten Macht inne. Mit Worten kann man im Geist der Menschen Feuer entfachen. Mit Worten kann man selbst dem hartherzigsten Menschen Tränen entlocken. Es gibt sieben Worte, die einen Menschen dazu bringen, dich zu lieben. Und es gibt zehn Worte, mit denen man den Willen selbst des stärksten Mannes brechen kann. Aber ein Wort ist weiter nichts als die bildliche Darstellung eines Feuers. Ein Name ist das Feuer selbst.«

Mittlerweile schwirrte mir der Kopf. »Ich verstehe das immer noch nicht.«

Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Mit Worten über Worte sprechen zu wollen, das ist, als würde man versuchen, mit einem Bleistift eben diesen Bleistift zu zeichnen, und zwar auf dem Bleistift selbst. Unmöglich. Verwirrend. Frustrierend.« Er hob die Hände hoch über den Kopf, so als wollte er nach dem Himmel greifen. »Aber es gibt auch noch andere Wege der Erkenntnis!«, rief er und lachte wie ein Kind. Er wies mit beiden Händen, immer noch lachend, auf das wolkenlose Himmelsgewölbe über uns. »Sieh doch!«, rief er und legte den Kopf in den Nacken. »Blau! Blau! Blau!«

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