Kapitel 19

Finger und Saiten

Anfangs verhielt ich mich fast wie ein Automat, tat gedankenlos, was nötig war, um mich am Leben zu erhalten.

Ich aß das zweite Kaninchen, das ich fing, und auch das dritte. Ich entdeckte eine Stelle, an der wilde Erdbeeren wuchsen. Ich grub nach Wurzeln. Nach vier Tagen hatte ich alles, was ich zum Überleben brauchte: eine mit Steinen eingefasste Feuerstelle und ein trockenes Versteck für meine Laute. Ich hatte sogar einen kleinen Proviantvorrat angelegt, auf den ich in Notfällen zurückgreifen konnte.

Und ich hatte etwas, das ich gar nicht brauchte: Zeit. Nachdem ich meine unmittelbaren Bedürfnisse gestillt hatte, stellte ich fest, dass es weiter für mich gar nichts zu tun gab. Ich glaube, das war der Moment, in dem ein kleiner Teil meines Geistes wieder zu erwachen begann.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich war nicht ich selbst. Zumindest war ich nicht mehr der Mensch, der ich noch einige Tage zuvor gewesen war. Alles, was ich tat, tat ich mit meinem ganzen Bewusstsein, damit kein Teil meines Geistes unbeschäftigt blieb und sich womöglich erinnerte.

Ich wurde immer dünner und abgerissener. Ich schlief im Regen oder im Sonnenschein, auf weichem Gras, feuchtem Erdboden oder scharfkantigen Steinen, mit einer Gleichgültigkeit, die nur ein Trauernder aufzubringen vermag. Von meiner Umgebung nahm ich nur Notiz, wenn es regnete, denn dann konnte ich meine Laute nicht hervorholen, um darauf zu spielen, und das schmerzte mich.

Selbstverständlich spielte ich Laute. Es war mein einziger Trost.

Nachdem ein Monat verstrichen war, hatte ich steinharte Schwielen an den Fingern und konnte stundenlang ununterbrochen spielen. Ich spielte und spielte all die Lieder, die ich auswendig kannte. Dann spielte ich auch die Lieder, an die ich mich nur teilweise erinnerte, und ergänzte die fehlenden Partien, so gut ich konnte.

Schließlich war ich so weit, dass ich vom Erwachen bis zum Einschlafen Laute spielen konnte. Ich hörte auf, die mir bekannten Lieder zu spielen, und dachte mir neue aus. Ich hatte mir auch früher schon Lieder ausgedacht; ich hatte sogar meinem Vater dabei geholfen, ein oder zwei Verse zu komponieren. Nun aber widmete ich dem Spiel meine ganze Aufmerksamkeit. Einige dieser Lieder habe ich bis heute behalten.

Anschließend begann ich … ja, wie soll ich das beschreiben?

Ich begann etwas anderes als Lieder zu spielen. Wenn der Sonnenschein das Gras wärmt und eine Brise einen kühlt, ist das ein bestimmtes Gefühl. Ich spielte so lange, bis ich dieses Gefühl auszudrücken vermochte. Ich spielte, bis es klang wie warmes Gras und eine kühle Brise.

Ich spielte nur für mich allein, aber ich war mir ein strenges Publikum. Ich weiß noch, dass ich fast drei Tage brauchte, bis ich »Der Wind dreht ein Blatt« zu spielen vermochte.

Nach zwei Monaten vermochte ich die Dinge mit eben der Leichtigkeit zu spielen, mit der ich sie sah oder empfand: »Die Sonne geht hinter Wolken unter«, »Ein Vogel an der Tränke«, »Tau auf dem Farngestrüpp«.

Im Laufe des dritten Monats hörte ich irgendwann auf, mich in der Außenwelt nach Anregungen umzusehen, und richtete mein Augenmerk auf mein Inneres. Ich lernte zu spielen: »Wagenfahrt mit Ben«, »Singen mit Vater am Feuer«, »Shandi tanzen sehen«, »Blätter mahlen, wenn draußen die Sonne scheint«, »Mutter lächelt« …

Das zu spielen tat natürlich weh, aber es war ein Schmerz wie bei zarten Fingern auf Lautensaiten. Es blutete ein wenig, und ich hoffte, dass sich bald Schwielen bilden würden.

Als der Sommer zu Ende ging, riss mir eine Saite und war nicht mehr zu reparieren. Ich verbrachte den Großteil des Tages in Stumpfheit und wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Geist war immer noch wie betäubt. Dann besann ich mich mit nur einem Fünkchen meines eigentlichen Verstandes auf dieses Problem. Nachdem ich mir klargemacht hatte, dass ich eine neue Saite weder herstellen noch erwerben konnte, setzte ich mich wieder hin und lernte, auf nur sechs Saiten zu spielen.

Eine Spanne später war ich auf sechs Saiten schon fast so gut wie zuvor auf sieben. Und drei Spannen später versuchte ich gerade »Warten, während es regnet« zu spielen, als mir eine zweite Saite riss.

Diesmal ließ ich keine Zeit verstreichen, entfernte die nutzlos gewordenen Reste und fing von vorne an.

Ich war gerade mitten im Lied »Ernte«, als mir die dritte Saite riss. Nachdem ich fast einen halben Tag lang versucht hatte, ohne sie auszukommen, wurde mir klar, dass es mit drei gerissenen Saiten nicht mehr ging. Und so packte ich also mein stumpfes Taschenmesser, einen halben Knäuel Schnur und Bens Buch in einen zerlumpten Segeltuchsack, schulterte die Laute meines Vaters und machte mich auf den Weg.

Ich versuchte, »Schneefall im Spätherbst« und »Schwielige Finger und eine viersaitige Laute« zu summen, aber es war nicht das Gleiche, wie es zu spielen.

Ich stand vor der Aufgabe, eine Straße zu finden und ihr zu einer Stadt zu folgen und hatte keine Ahnung, wie weit ich von beidem entfernt war, in welche Richtung ich gehen sollte, oder wie diese Stadt wohl hieß. Ich wusste, dass ich irgendwo im südlichen Commonwealth war, aber der genaue Ort war mir verborgen, war vermengt mit anderen Erinnerungen, an die ich nicht rühren wollte.

Das Wetter half mir, mich zu entscheiden. Die Herbstkühle wich schon den Winterfrösten. Ich wusste, dass es im Süden wärmer war. Da mir nichts Besseres einfiel, ließ ich mir die Sonne auf die linke Schulter scheinen und versuchte möglichst schnell voranzukommen.

Die nun folgende Spanne war eine einzige Qual. Das bisschen Proviant, das ich mitgenommen hatte, war bald aufgebraucht, und wenn ich Hunger hatte, musste ich die Wanderung unterbrechen und auf Nahrungssuche gehen. An manchen Tagen fand ich kein Wasser, und wenn ich doch welches fand, hatte ich nichts, worin ich es hätte mitnehmen können. Der schmale Pfad mündete in einen breiteren Weg, der wiederum zu einer noch breiteren Straße führte. Ich scheuerte mir die Füße in den Schuhen wund und bekam Blasen. Und manche Nächte waren bitterkalt.

Es gab dort Gasthäuser, aber ich machte einen großen Bogen um sie und bediente mich nur gelegentlich an den Wassertrögen für die Pferde. Es gab dort auch einige kleinere Ortschaften, aber ich suchte eine größere Stadt. Bauern haben keinen Bedarf an Lautensaiten.

Wenn ich hörte, dass sich ein Gespann oder ein Pferd näherte, humpelte ich in den ersten Tagen unwillkürlich beiseite, um mich am Straßenrand zu verstecken. Seit jenem Abend, an dem meine Familie ermordet worden war, hatte ich mit keiner Menschenseele mehr gesprochen. Ich ähnelte eher einem wilden Tier als einem zwölfjährigen Jungen. Doch schließlich wurde die Straße breiter und immer belebter, und als ich feststellte, dass ich mehr Zeit in Verstecken als auf der Wanderschaft verbrachte, trat ich dem Verkehr schließlich tapfer entgegen und war erleichtert, als man mich in der Regel gar nicht beachtete.

Eines Morgens, ich war noch keine Stunde unterwegs, hörte ich hinter mir ein Fuhrwerk. Die Straße war so breit, dass zwei Gespanne nebeneinander herfahren konnten, aber dennoch wich ich auf das Gras am Straßenrand aus.

»He, Junge!«, rief hinter mir eine rauhe Männerstimme. Ich sah mich nicht um. »Hallo, Junge!«

Ich ging weiter von der Straße fort, ohne mich umzusehen, den Blick starr zu Boden gerichtet.

Der Wagen hielt. Die Stimme rief lauter als zuvor: »Junge! Junge!«

Ich hob den Blick und sah einen alten Mann mit wettergegerbtem Gesicht, der gegen den Sonnenschein anblinzelte. Er war irgendwas zwischen vierzig und siebzig. Neben ihm auf dem Kutschbock saß ein vierschrötiger junger Mann. Allem Anschein nach waren sie Vater und Sohn.

»Bist du taub, Junge?«, fragte der alte Mann.

Ich schüttelte den Kopf.

»Bist du blöd?«

Ich schüttelte erneut den Kopf. »Nein.« Es war ein seltsames Gefühl, mit jemandem zu reden. Meine Stimme klang nach der langen Einsamkeit ganz rauh und ungewohnt.

Er sah mich blinzelnd an. »Willst du in die Stadt?«

Ich nickte, wollte nicht schon wieder reden.

»Dann steig auf.« Er deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich. »Einen Spack wie dich zieht unser Sam mit links.« Er tätschelte sein Maultier.

Einzuwilligen war einfacher als wegzulaufen. Und die Blasen an meinen Füßen brannten von dem Schweiß in meinen Schuhen. Ich stieg hinten in den offenen Wagen. Die Ladefläche war zu drei Vierteln mit großen Säcken gefüllt. Ein paar Gartenkürbisse aus einem davon kullerten über den Boden.

Der Alte griff in die Zügel, und das Maultier setzte sich widerwillig in Bewegung. Ich stopfte die herausgefallenen Kürbisse in den Sack zurück. Der alte Bauer sah sich lächelnd zu mir um. »Danke, Junge. Ich bin Seth, und das ist Jake. Setz dich lieber, sonst fliegst du uns beim nächsten Schlagloch vom Wagen.« Ich ließ mich auf einem der Säcke nieder. Ich war angespannt und wußte nicht, was ich erwarten sollte.

Der alte Bauer gab seinem Sohn die Zügel und holte aus einem Beutel einen großen, braunen Brotlaib hervor. Er riss ein großes Stück davon ab, schmierte ein ordentliches Stück Butter darauf und reichte es mir.

Bei dieser beiläufigen freundlichen Geste zog es mir das Herz zusammen. Ich hatte seit einem halben Jahr kein Brot mehr gegessen. Es war weich, und die Butter schmeckte süß. Ich hob mir etwas davon für später auf und stopfte es in meinen Sack.

Nach längerem Schweigen sah sich der Alte wieder zu mir um. »Kannst du spielen?« Er wies auf den Lautenkasten, an dem ich mich festhielt.

»Die ist kaputt.«

»Oh«, sagte er enttäuscht, und ich dachte schon, er würde mich jetzt absteigen lassen. Doch statt dessen lächelte er und nickte zu seinem Nebenmann hinüber. »Dann übernehmen wir halt das Musikprogramm.«

Er stimmte Tinker Tanner an, ein Trinklied, älter als Gott. Sein Sohn stimmte ein, und ihre rauhen Stimmen fügten sich zu einer schlichten Harmonie, die mir die Kehle zuschnürte, denn sie erinnerte mich an andere Wagen, an andere Lieder, an ein halb schon vergessenes Zuhause.

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