Kapitel 46

Der launische Wind

Es erwies sich als schwierig, Elodin zu finden. Er hatte zwar ein Büro im Hollows, nutzte es aber offenbar nicht. Aus dem Vorlesungsverzeichnis erfuhr ich, dass er nur ein einziges Seminar gab: Unwahrscheinlichkeitsrechnung. Diese Information war jedoch nicht sonderlich hilfreich, denn laut Verzeichnis fand das Seminar »jetzt« statt, und als Ort war »überall« angegeben.

Schließlich entdeckte ich ihn rein zufällig am anderen Ende eines Hofs. Er trug seinen schwarzen Talar, was selten vorkam. Ich war gerade unterwegs zur Mediho, beschloss aber, dass ich lieber zu spät zu meinem Seminar kam, als diese Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, zu verpassen.

Als ich mich schließlich durch das mittägliche Gedränge zu ihm durchgekämpft hatte, befanden wir uns am nördlichen Ende des Universitätsgeländes und gingen auf einem breiten Feldweg in den Wald hinein. »Meister Elodin«, sagte ich, »ich hatte gehofft, ich könnte mit Euch sprechen.«

»Eine jämmerlich kleine Hoffnung«, sagte er, ohne seine Schritte zu verlangsamen oder auch nur in meine Richtung zu blicken. »Du solltest dir höhere Ziele stecken. Ein junger Mann sollte große Ambitionen hegen.«

»Nun denn, ich hoffe, Namenskunde studieren zu können«, sagte ich und ging nun neben ihm.

»Eine allzu große Hoffnung«, erwiderte er sachlich-nüchtern. »Versuch es noch einmal. Irgendwo dazwischen.« Der Weg machte eine Kurve, und nun versperrten Bäume den Blick auf die Gebäude der Universität.

»Ich hatte gehofft, Ihr würdet mich als Student annehmen«, versuchte ich es erneut. »Und mir alles beibringen, was Ihr für wissenswert erachtet.«

Elodin blieb stehen und sah mich an. »Also gut«, sagte er. »Such mir drei Kiefernzapfen.« Er bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. »So groß. Und makellos.« Er setzte sich mitten auf den Weg und scheuchte mich mit einer Geste fort. »Los. Schnell.«

Ich eilte in den Wald. Ich brauchte gut fünf Minuten, bis ich drei passende Zapfen gefunden hatte. Als ich zerzaust und zerkratzt wiederkam, war Elodin verschwunden.

Ich sah mich verdutzt um, fluchte, warf die Kiefernzapfen hin und lief los. Ich holte ihn schnell ein, denn er schlenderte nur so dahin und betrachtete die Bäume.

»Also, was hast du gelernt?«, fragte er.

»Dass Ihr in Ruhe gelassen werden wollt?«

»Du bist ein kluges Kerlchen.« Er breitete in einer dramatischen Geste die Arme aus und sagte: »Und hiermit endet nun der Unterricht! Die Unterweisung des E’lir Kvothe ist abgeschlossen!«

Ich seufzte. Wenn ich jetzt gegangen wäre, wäre ich noch pünktlich zu meinem Seminar in der Mediho gekommen, aber ich war halbwegs überzeugt, dass das alles nur ein Test war. Elodin wollte vermutlich prüfen, ob ich wirklich interessiert war, bevor er mich als Student annahm. So ist das ja immer in den Geschichten: Der junge Mann muss dem alten Einsiedler seine Entschlossenheit beweisen, ehe dieser ihn unter die Fittiche nimmt.

»Würdet Ihr mir ein paar Fragen beantworten?«, fragte ich.

»Gern«, sagte er und hob drei Finger. »Drei Fragen. Aber nur, wenn du versprichst, mich anschließend in Ruhe zu lassen.«

Ich überlegte eine Moment lang. »Warum wollt Ihr mich nicht unterrichten?«

»Weil Edema Ruh grottenschlechte Studenten abgeben«, erwiderte er barsch. »Sie sind gut im Auswendiglernen, aber das Studium der Namenskunde erfordert ein Maß an Hingabe, welches das Gesindel deines Schlags nur in den seltensten Fällen aufzubringen vermag.«

Das versetzte mich schlagartig in Rage. Ich spürte, dass ich rot anlief. Die Haare auf meinen Unterarmen stellten sich auf.

Ich atmete tief durch. »Es tut mir Leid, wenn Ihr mit den Ruh unerquickliche Erfahrungen gehabt habt«, sagte ich vorsichtig. »Aber ich kann Euch versichern –«

»Ach du meine Güte«, seufzte Elodin angewidert. »Und dann auch noch ein Speichellecker. Dir fehlt sowohl das nötige Rückgrat als auch der nötige Mumm, um bei mir zu studieren.«

Böse Worte lagen mir auf der Zunge. Ich schluckte sie wieder hinunter. Er versuchte mich zu ködern.

»Ihr sagt mir nicht die Wahrheit«, sagte ich. »Warum wollt Ihr mich nicht unterrichten?«

»Aus dem selben Grund, aus dem ich mir auch keinen jungen Hund zulege!«, rief Elodin und fuchtelte mit den Armen, wie ein Bauer, der Krähen aus einem Feld scheucht. »Weil du zu klein bist für die Namenskunde. Weil du zu blauäugig bist. Weil du die falsche Anzahl von Fingern hast. Komm wieder, wenn du größer bist und dir anständige Augen zugelegt hast.«

Wir starrten einander an. Schließlich zuckte er die Achseln und ging weiter. »Also gut. Ich werde dir zeigen, warum.«

Wir gingen auf dem Weg weiter nach Norden. Elodin schlenderte dahin, hob Steine auf und warf sie in den Wald. Er hüpfte, um Blätter von niedrig hängenden Ästen zu rupfen, und sein Talar blähte sich dabei auf lächerliche Weise. Einmal blieb er stehen, stand dann fast eine halbe Stunde lang reglos da und betrachtete einen Farn, der sich sacht im Wind regte.

Ich hielt den Mund. Ich fragte weder »Wohin gehen wir?« noch »Was seht Ihr da?«. Dazu kannte ich zu viele Geschichten über kleine Jungen, die Fragen vergeudeten oder Wünsche verwirkten, indem sie einfach drauflos plapperten. Mir blieben noch zwei Fragen, und ich wollte sie richtig einsetzen.

Schließlich ließen wir den Wald hinter uns, und der Weg führte nun über eine ausgedehnte Rasenfläche zu einem eleganten Herrenhaus hinauf. Es war größer als das Handwerkszentrum, hatte ein rotes Ziegeldach, hohe Fenster und ein Säulenportal. Es gab hier Springbrunnen, Blumen und Hecken …

Doch irgendetwas stimmte nicht. Je näher wir dem Tor kamen, desto mehr bezweifelte ich, dass es sich um das Haus eines Edelmannes handelte. Vielleicht war es die Anlage des Gartens, oder der Umstand, dass der schmiedeeiserne Zaun rings um das Anwesen über drei Meter hoch und, wie mir der geschulte Blick des Diebes verriet, praktisch nicht zu erklimmen war.

Zwei streng blickende Männer öffneten das Tor, und wir gingen zum Hauseingang weiter. Elodin sah mich an. »Hast du schon von dem Refugium gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es trägt auch noch andere Bezeichnungen: Tollhaus, Klapsmühle, Narrenasyl …«

Die Irrenanstalt der Universität. »Es ist ja riesengroß. Wie …« Ich hielt inne, ohne die Frage gestellt zu haben.

Elodin grinste. Fast hätte er mich gehabt. »Jeremy!«, rief er dem großen Mann zu, der am Eingang stand. »Wie viele Gäste haben wir heute?«

»Der Empfang kann Euch die genaue Zahl nennen, Sir«, antwortete der Mann beklommen.

»Grob geschätzt«, sagte Elodin. »Wir sind doch hier unter uns.«

»Dreihundertzwanzig?«, sagte der Mann mit einem Achselzucken. »Dreihundertfünfzig?«

Elodin klopfte an die Tür, und der Mann schloss ihm auf. »Und wie viele weitere könnten wir nötigenfalls noch unterbringen?«, fragte Elodin.

»Hundertfünfzig sicher noch«, sagte Jeremy und öffnete die Tür. »Aber dann würde es eng.«

»Siehst du, Kvothe?« Elodin zwinkerte mir zu. »Wir sind bestens vorbereitet.«

Der Eingangsbereich war riesengroß, mit farbigen Fenstern und gewölbten Decken. Der Marmorboden war auf Hochglanz poliert.

Es war geradezu unheimlich still hier. Ich verstand das nicht. Das größte Irrenhaus von Tarbean war nicht einmal halb so groß wie dieses Gebäude, hörte sich aber an, als tobten dort tausend wütende Katzen. Das war eine Meile weit zu hören, auch über den Straßenlärm hinweg.

Elodin schlenderte zum Empfang, wo eine junge Frau stand. »Wieso ist denn heute niemand draußen, Emmie?«

Sie lächelte beklommen. »Sie sind heute alle zu wild, Sir. Wir glauben, dass ein Sturm im Anzug ist.« Sie nahm ein Buch zur Hand. »Und außerdem ist bald Vollmond. Ihr wisst ja, was das bedeutet.«

»Allerdings.« Elodin bückte sich und schnürte sich die Schuhe auf. »Wo ist Whin diesmal untergebracht?«

Die Frau sah in einem Verzeichnis nach. »Ostflügel, erster Stock. Zimmer 247.«

Elodin stellte seine Schuhe auf dem Empfangspult ab. »Passt du bitte darauf auf?« Die Frau lächelte leicht beklommen und nickte.

Ich verkniff mir ein weiteres Dutzend Fragen. »Die Universität lässt sich das hier ja einiges kosten«, bemerkte ich.

Elodin überhörte das und stieg auf Strümpfen eine breite Marmortreppe empor. Dann kamen wir in einen langen, weißen Korridor, von dem links und rechts Holztüren abgingen. Nun erst hörte ich die Geräusche, die ich an einem solchen Ort erwartet hatte. Stöhnen, Weinen, Geplapper, Schreie – doch alles sehr leise.

Elodin nahm ein paar Schritte Anlauf und rutschte dann auf Strümpfen über den glatten Marmorboden, und sein Talar bauschte sich hinter ihm.

Er rutschte erneut auf seinen Strümpfen, und ich ging neben ihm her. »Ich dachte, die Meister würden die Mittel der Universität für eher akademische Zwecke verwenden.«

Elodin sah mich nicht an. Er nahm wieder Anlauf. »Du versuchst mir Antworten auf Fragen zu entlocken, die du gar nicht gestellt hast«, sagte er und glitt über den Boden. »Aber das verfängt bei mir nicht.«

»Ihr versucht mir Fragen zu entlocken«, entgegnete ich. »Da erscheint mir das nur fair.«

Er nahm wieder Anlauf und glitt dahin. »Wieso plagst du dich denn überhaupt mit mir herum?«, fragte Elodin. »Kilvin hält große Stücke auf dich. Wieso hältst du dich nicht an ihn?«

»Weil ich glaube, dass Ihr Dinge wisst, die ich nirgends sonst lernen könnte.«

»Als da wären?«

»Dinge, die ich wissen will, seit ich zum ersten Mal jemanden sah, der den Namen des Windes rief.«

»Den Namen des Windes?« Elodin hob die Augenbrauen und nahm wieder Anlauf. »Eine heikle Sache.« Er glitt dahin. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich etwas darüber wüsste?«

»Simples Ausschlussverfahren«, sagte ich. »Keiner der anderen Meister befasst sich damit. Also muss es in euer Spezialgebiet fallen.«

»Dieser Logik nach müsste ich dann auch für Solinadentänze, Handarbeiten und Pferdediebstahl zuständig sein.«

Wir waren am Ende des Korridors angelangt, und Elodin wäre um ein Haar mit einem großen, breitschultrigen Mann zusammengeprallt. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Sir«, sagte der Mann, obwohl es ganz offenkundig nicht seine Schuld war.

»Timothy«, sagte Elodin und wies mit dem Zeigefinger auf ihn. »Komm mit.«

Elodin führte uns etliche kürzere Korridore entlang, bis wir schließlich zu einer schweren Holztür kamen, in die in Augenhöhe eine Schiebeluke eingebaut war. Elodin zog sie auf und spähte hinein. »Wie geht es ihm?«

»Er ist ganz ruhig«, sagte Timothy. »Ich glaube, er hat nicht viel geschlafen.«

Elodin zog an dem Türriegel und wandte sich dann mit einschüchterndem Blick an Timothy. »Ihr habt ihn eingeschlossen?«

Timothy war einen Kopf größer als Elodin und wog wahrscheinlich das Doppelte, doch als der unbeschuhte Meister ihn anfunkelte, wich ihm alle Farbe aus dem Gesicht. »Das war ich nicht, Meister Elodin. Das …«

Elodin schnitt ihm mit einer energischen Geste das Wort ab. »Sofort aufschließen.«

Timothy hantierte mit einem Schlüsselbund.

Elodin starrte ihn weiter an. »Alder Whin wird nicht eingesperrt. Er darf kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Und ihm wird auch nichts ins Essen gemengt, es sei denn, er verlangt es ausdrücklich. Ich mache dich hierfür verantwortlich, Timothy Generoy.« Elodin pochte ihm mit seinem langen Zeigefinger auf die Brust. »Wenn ich herausfinden sollte, dass Whin sediert oder gefesselt wurde, kannst du dich darauf gefasst machen, dass ich dich wie ein Pony durch die Straßen von Imre reiten werde.« Er funkelte ihn an. »Fort mit dir.«

Der Mann eilte von dannen.

Elodin wandte sich an mich. »Du darfst mit reinkommen, aber mach keine Geräusche oder hektischen Bewegungen. Und du sprichst nur, wenn du angesprochen wirst. Und wenn du sprichst, dann nur mit leiser Stimme. Verstanden?«

Ich nickte, und er öffnete die Tür.

Der Raum sah anders aus, als ich erwartet hatte. Durch große Fenster schien Sonnenlicht herein. Es gab ein großes Bett und einen Tisch und Stühle. Wände, Decke und Boden waren dick mit weißem Stoff gepolstert. Das Bett war abgezogen, und auf dem Boden, an eine Wand gedrängt, lag ein dünner Mann von etwa dreißig Jahren, der sich in die Bettwäsche gewickelt hatte.

Elodin schloss die Tür hinter uns, und der Mann zuckte zusammen. »Whin?«, sagte Elodin leise und trat näher. »Was ist denn geschehen?«

Alder Whin blickte sich um wie eine Eule. Er war sehr mager, trug unter der Decke kein Hemd, sein Haar stand in alle Richtungen ab, und er hatte die Augen aufgerissen. Er sprach leise, mit immer wieder überschnappender Stimme. »Es ging mir gut. Es ging mir gut. Aber dann all diese Menschen, wie sie reden, die Hunde, das Kopfsteinpflaster … Ich habe es einfach nicht mehr ertragen.«

Whin drängte sich an die Wand, und die Decke rutschte ihm von der schmalen Schulter. Zu meinem Erstaunen sah ich, dass er ein bleiernes Gildenabzeichen um den Hals trug. Der Mann war tatsächlich ein richtiger Arkanist.

Elodin nickte. »Und warum liegt Ihr auf dem Fußboden?«

Whin sah mit panischem Blick zum Bett hinüber. »Ich falle«, sagte er leise, in einem Tonfall des Entsetzens und der Verlegenheit. »Und da sind Sprungfedern und Latten. Und Nägel.«

»Wie geht es Euch jetzt?«, fragte Elodin. »Würdet Ihr mit mir zurückkommen?«

»Nein! Nein!«, flehte Whin voller Verzweiflung, kniff die Augen zu und zog die Decke fester um sich. Seine schwache, schrille Stimme ließ sein Flehen herzzerreißender klingen, als wenn er geschrien hätte.

»Es ist schon gut. Ihr dürft hier bleiben«, sagte Elodin leise. »Ich komme Euch wieder besuchen.«

Da schlug Whin die Augen auf und sah uns aufgeregt an. »Bringt aber keinen Donner mit.« Mit seiner mageren Hand packte er Elodins Hemdzipfel. »Was ich brauche, ist eine Katzenpfeife und Blaudaunen und auch Knochen. Zeltknochen.«

»Ich bringe es Euch«, versicherte Elodin und schickte mich mit einem Wink hinaus.

Elodin schloss hinter uns die Tür. »Whin wusste, worauf er sich einließ, als er mein Giller wurde.« Er machte kehrt und ging den Korridor entlang. »Du weißt das nicht. Du weißt überhaupt nichts über die Universität. Über die Risiken, die man hier eingeht. Du glaubst, das hier wäre ein Märchenland, ein Spielplatz. Aber das ist es nicht.«

»Ja, genau«, entgegnete ich. »Es ist ein Spielplatz, und die anderen Kinder sind neidisch, weil ich schon ›Auspeitschung und Hausverbot‹ spielen durfte und sie nicht.«

Elodin blieb stehen und sah mich an. »Also gut. Beweise mir, dass ich mich irre. Beweise mir, dass du darüber nachgedacht hast. Wozu braucht eine Universität, die nicht einmal fünfzehnhundert Studenten hat, eine Nervenheilanstalt von der Größe eines Königspalastes?«

Ich überlegte hektisch. »Die meisten Studenten stammen aus wohlhabenden Familien«, sagte ich. »Sie haben bisher ein unbeschwertes Leben geführt. Und wenn sie nun gezwungen werden …«

»Falsch«, sagte Elodin und ging weiter den Korridor entlang. »Es liegt an dem, was wir hier studieren. An der Art und Weise, wie wir unsere Gehirne schulen.«

»Also machen Grammatik und Geheimschriften die Leute verrückt«, sagte ich und achtete darauf, es als Aussage und nicht als Frage zu formulieren.

Elodin blieb stehen und riss die nächste Tür auf. Panische Schreie drangen in den Korridor. »… IN MIR! SIE SIND IN MIR! SIE SIND IN MIR! SIE SIND IN MIR!« In dem Raum sah ich einen jungen Mann, der sich gegen die Lederfesseln sträubte, mit denen er an Händen und Füßen, am Hals und an der Taille an das Bett geschnallt war.

»Trigonometrie löst so etwas jedenfalls nicht aus«, sagte Elodin und sah mir in die Augen.

»SIE SIND IN MIR! SIE SIND IN MIR! SIE SIND IN –«, schrie der Mann immer weiter. Es war wie das nicht enden wollende nächtliche Bellen eines Hundes. »– MIR! SIE SIND IN MIR! SIE SIND –«

Elodin führte mich nun weiter in einen anderen Flügel des Gebäudes. Als wir dort um eine Ecke bogen, erblickte ich etwas Neues: eine Tür ganz aus Kupfer.

Elodin zückte einen Schlüssel und schloss auf. »Ich schaue hier gerne rein, wenn ich in der Gegend bin«, sagte er beiläufig und öffnete die Tür. »Sehe nach der Post, gieße die Blumen und so weiter.«

Er zog sich einen Strumpf aus, band ihn zu einem Knoten und klemmte ihn in den Türspalt. »Es ist eigentlich ganz nett hier, aber dennoch …« Er zog noch einmal an der Tür und stellte sicher, dass sie nicht hinter uns ins Schloss fallen konnte. »Nie wieder.«

Das Erste, was mir an dem Raum auffiel, war, dass etwas mit der Luft nicht stimmte. Erst dachte ich, er wäre vielleicht schalldicht gemacht, wie der von Alder Whin, doch als ich mich umblickte, sah ich, dass die Wände und Decken aus nacktem grauem Stein waren. Dann überlegte ich, ob die Luft vielleicht abgestanden wäre, doch als ich einatmete, roch es nach Lavendel und frisch gewaschener Wäsche. Fast war es, als hätte ich einen Druck auf den Ohren, so als wäre ich tief unter Wasser, nur dass es eben nicht so war. Ich fuchtelte ein wenig mit der Hand hin und her, erwartete fast, dass sich die Luft anders anfühlen würde, dicker. Doch auch dem war nicht so.

»Ganz schön irritierend, hm?« Ich wandte mich um und sah, dass Elodin mich beobachtete. »Wundert mich, dass du das bemerkst. Das bemerken nicht viele.«

Das Zimmer war viel komfortabler eingerichtet als das von Alder Whin. Es gab hier ein Himmelbett mit Vorhängen, ein dick gepolstertes Sofa, ein leeres Bücherregal und einen großen Tisch mit etlichen Stühlen. Am bemerkenswertesten waren die großen Fenster mit Blick hinaus auf die Rasenflächen und Gärten. Draußen sah ich auch einen Balkon, konnte aber keinen Zugang entdecken.

»Schau her«, sagt Elodin, nahm einen der hölzernen Stühle, wirbelte ihn herum und schleuderte ihn in Richtung Fenster. Ich zuckte zusammen, doch statt einer berstenden Glasscheibe hörte man nur Holz zerbrechen. Der zerstörte Stuhl fiel zu Boden.

»Das habe ich früher stundenlang gemacht«, sagte Elodin, atmete tief durch und sah sich mit liebevollem Blick im Raum um. »Ach, das waren noch Zeiten.«

Ich ging hinüber und sah mir die Fenster an. Die Scheiben waren dicker als gewöhnlich, aber so dick nun auch wieder nicht. Sie wirkten ganz normal, bis auf die kaum sichtbaren rötlichen Streifen, die hindurchliefen. Ich sah mir die Fensterrahmen an. Sie bestanden ebenfalls aus Kupfer. Ich blickte mich im Raum um, betrachtete die kahlen Steinwände, ließ die seltsam schwere Luft auf mich wirken. Mir fiel auf, dass die Tür innen keine Klinke hatte, geschweige denn ein Schlüsselloch. Warum nimmt jemand es auf sich, eine Tür aus massivem Kupfer herzustellen?

Ich stellte meine zweite Frage. »Wie seid Ihr hier herausgekommen?«

»Na endlich«, sagte Elodin.

Er ließ sich auf dem Sofa nieder. »Weißt du, eines Tages fand sich Elodin der Große in einem hohen Turm eingeschlossen.« Er wies auf den Raum rings um uns her. »Und man hatte ihn seiner Werkzeuge beraubt: Die Münze, der Schlüssel und die Kerze waren fort. Und außerdem hatte seine Zelle keine Tür, die man hätte öffnen können. Und kein Fenster, das man hätte einschlagen können.« Er wies mit abschätziger Geste auf das Fenster und die Tür. »Und dank der gerissenen Machenschaften derer, die ihn gefangen genommen hatten, war ihm auch der Name des Windes verborgen.«

Elodin erhob sich und ging im Raum auf und ab. »Rings um ihn her war weiter nichts als glatter, harter Stein. Es war eine Zelle, aus der noch niemand je entronnen war.«

Er blieb stehen und reckte in einer dramatischen Geste den Zeigefinger empor. »Elodin der Große aber kannte den Namen aller Dinge, und daher gehorchten ihm alle Dinge aufs Wort.« Er stellte sich vor die graue Steinwand neben den Fenstern. »Er sprach zu dem Stein: ›Zerbreche!‹ – und der Stein …« Elodin verstummte, den Kopf neugierig zur Seite geneigt. Er kniff die Augen zusammen. »Verdammt noch mal, sie haben es geändert«, sagte er leise zu sich selbst. »Hm.« Er trat näher an die Wand heran und legte eine Hand darauf.

Wil und Sim hatten recht: Der Mann hatte eindeutig einen Sprung in der Schüssel. Was würde geschehen, wenn ich aus dem Raum liefe und die Tür hinter mir zuwarf? Würden die anderen Meister mir dafür danken?

»Ah«, sagte Elodin mit einem Mal und lachte. »Das war aber nicht besonders klug.« Er trat zwei Schritte zurück. »CYAERBASALIEN.«

Ich sah, wie sich die Wand bewegte. Wellen liefen hindurch, wie bei einem hängenden Teppich, der ausgeklopft wird. Und dann … fiel die Wand einfach so in sich zusammen. Wie dunkles Wasser, das sich aus einem Eimer ergießt, strömte grauer Sand auf den Boden nieder und begrub Elodins Beine fast bis zu den Knien.

Sonnenschein und Vogelgezwitscher drangen herein. Wo eben noch massives Mauerwerk gewesen war, klaffte nun eine Lücke, groß genug für einen Karren.

Über diese Lücke spannten sich jedoch Fäden einer grünen Substanz. Es ähnelte einem dichten, aber unregelmäßigen Spinnennetz.

»Das war früher nicht da«, sagte Elodin entschuldigend und stieg aus dem grauen Sand. »Beim ersten Mal war es viel eindrucksvoller, das kannst du mir glauben.«

Ich stand da, sprachlos angesichts dessen, was ich gerade gesehen hatte. Das hatte mit Sympathie nichts mehr zu tun. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich musste an die alte Geschichte denken: Taborlin der Große sprach zu dem Stein: ›Zerbreche!‹ – und der Stein zerbrach …

Elodin brach ein Stuhlbein ab und schlug damit auf das grüne Netz ein, das sich über die Lücke spannte. Einiges davon ließ sich leicht beseitigen. Wo es stabiler war, setzte er das Stuhlbein als Hebel ein, um es beiseite zu biegen. Wo es riss oder sich bog, schimmerte es im Sonnenschein. Ebenfalls Kupfer, dachte ich. Das sind Kupferadern, die sich durch die Steine ziehen, aus denen die Mauer besteht.

Elodin ließ das Stuhlbein fallen und zwängte sich durch die Lücke. Durch das Fenster sah ich, wie er sich an das weiße Balkongeländer lehnte.

Ich folgte ihm nach draußen, und als ich den Balkon betrat, fühlte sich die Luft nicht mehr so seltsam schwer an.

»Zwei Jahre«, sagte Elodin und blickte hinaus über die Gärten. »Zwei Jahre lang konnte ich diesen Balkon sehen, ihn aber nicht betreten. Zwei Jahre lang konnte ich den Wind sehen, ihn aber nicht hören, ihn nicht auf meinem Gesicht spüren.« Er schwang ein Bein über das Geländer, so dass er rittlings darauf saß. Dann sprang er auf das Flachdach direkt unter dem Balkon. Er schritt über das Dach, fort vom Gebäude.

Ich sprang hinterher und folgte ihm an den Rand des Dachs. Wir befanden uns in etwa sieben Metern Höhe, und die Gärten und Springbrunnen rings umher boten einen wunderschönen Anblick. Elodin stand gefährlich nah an der Dachkante, und sein Talar flatterte wie eine dunkle Fahne. Er sah recht beeindruckend aus, wenn man außer Acht ließ, dass er immer noch nur einen Strumpf trug.

Ich stellte mich neben ihn. Nun wusste ich, wie meine dritte Frage lauten musste. »Was muss ich tun«, fragte ich, »damit ich bei Euch Namenskunde studieren darf?«

Er sah mir ruhig in die Augen, taxierte mich. »Du musst springen«, sagte er. »Spring von diesem Dach.«

Da wurde mir klar, dass all das eine Probe gewesen war. Seit wir einander begegnet waren, hatte er mich in einem fort auf die Probe gestellt. Mit meiner Hartnäckigkeit hatte ich ihm Respekt abgenötigt, und er war erstaunt gewesen, dass mir an der Luft in seinem Zimmer etwas aufgefallen war. Er stand kurz davor, mich als Student anzunehmen.

Aber er brauchte noch etwas: einen Beweis meiner Entschlossenheit.

Und als ich dort stand, musste ich wieder an die alte Geschichte denken: Taborlin stürzte hinab. Doch er ließ die Hoffnung nicht fahren. Denn er kannte den Namen des Windes, und der Wind gehorchte. Er sprach zu dem Wind, und der Wind nahm ihn zärtlich auf den Arm und streichelte ihn. Er trug ihn zu Boden, als wäre er federleicht, und setzte ihn sanft, wie mit einem mütterlichen Kuss, auf den Füßen ab.

Elodin kannte den Namen des Windes.

Ich sah ihm weiter in die Augen und sprang von der Dachkante.

Elodins Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Nie habe ich einen Menschen so erstaunt gesehen. Ich drehte mich im Fall, so dass ich ihn weiter sah. Er hob eine Hand, so als versuche er zu spät, mich festzuhalten.

Ich fühlte mich schwerelos, als würde ich schweben.

Dann kam ich auf dem Boden auf. Aber nicht sacht wie eine Feder. Eher wie ein Pflasterstein auf einer Straße. Ich prallte auf dem Rücken auf, landete auf meinem linken Arm. Als ich mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug, wurde mir schwarz vor Augen, und alle Luft wurde mir mit einem Schlag aus der Lunge gepresst.

Ich verlor nicht das Bewusstsein. Ich lag nur da, bekam keine Luft mehr und konnte mich nicht bewegen. Ich weiß noch, dass ich ernsthaft glaubte, ich sei tot. Oder blind.

Schließlich kehrte mein Augenlicht zurück, und ich blinzelte in den strahlend blauen Himmel. Die Schulter tat mir schrecklich weh, und ich hatte den Geschmack von Blut im Mund. Ich bekam immer noch keine Luft und versuchte, von meinem Arm herunterzurollen, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Ich hatte mir das Genick gebrochen …

Einen entsetzlichen Augenblick später gelang es mir, ganz flach einzuatmen, dann noch einmal. Ich seufzte erleichtert, und da merkte ich, dass ich mir mindestens eine Rippe gebrochen hatte. Es gelang mir aber, die Finger zu bewegen, dann die Zehen. Sie funktionierten. Mein Rückgrat hatte den Sturz überstanden.

Als ich dort lag, trat Elodin in mein Gesichtsfeld.

Er sah zu mir hinab. »Glückwunsch«, sagte er und blickte ebenso beeindruckt wie ungläubig. »Das war wirklich mit Abstand das Dümmste, was ich je gesehen habe.«

Und so kam es, dass ich beschloss, mich doch der Handwerkskunst zu widmen. Nicht dass mir groß etwas anderes übrig blieb. Bevor er mir half, zur Mediho zu humpeln, sagte mir Elodin klipp und klar, dass jemand, der so dumm war, von einem sieben Meter hohen Dach zu springen, viel zu leichtsinnig sei, um in seiner Gegenwart auch nur einen Löffel halten zu dürfen, geschweige denn, etwas so »Tiefgründiges und Heikles« wie die Namenskunde zu studieren.

Dennoch war ich nicht allzu verärgert über Elodins Absage. Zauberei wie aus dem Märchen hin oder her – ich war nicht sonderlich erpicht darauf, bei einem Manne zu studieren, dessen erste Lektion mir drei Rippenbrüche, eine Gehirnerschütterung und eine ausgerenkte Schulter eingetragen hatte.

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