Kapitel 26

Lanres Verwandlung

Ich war zu diesem Zeitpunkt schon seit drei Jahren in Tarbean und nun fünfzehn Jahre alt. Ich hatte gelernt, in Waterside zu überleben. Aus mir war ein fähiger Bettler und Dieb geworden. Jedes Schloss und jede Tasche bekam ich auf. Und ich wusste, welche Pfandleiher mir etwas abnahmen, ohne Fragen zu stellen.

Ich war noch immer zerlumpt und oft auch hungrig, aber nicht mehr unmittelbar am Verhungern. Ich hatte einen Notgroschen angespart. Selbst nach einem harten Winter, in dem ich oft gezwungen gewesen war, für einen warmen Schlafplatz zu bezahlen, bestand mein Schatz noch aus mehr als zwanzig Eisenpenny. Für mich war das ein Vermögen.

Ich hatte mich eingewöhnt. Doch neben dem Bestreben, meinen Notgroschen zu mehren, gab es nichts, wofür ich lebte. Nichts, was mich angetrieben hätte. Nichts, worauf ich mich gefreut hätte. Ich verbrachte meine Tage damit, nach eventueller Diebesbeute und möglichen Vergnügungen Ausschau zu halten.

Das änderte sich jedoch eines Tages in Trapis’ Keller. Da hörte ich ein kleines Mädchen ehrfürchtig von einem Geschichtenerzähler berichten, der Stammgast der Hafenkneipe Zum Halbmast sei. Angeblich erzählte er dort jeden Tag um sechs Uhr eine Geschichte. Und er kannte jede Geschichte, um die man ihn bat. Und außerdem gebe es da eine Wette: Kannte er eine Geschichte nicht, die jemand von ihm zu hören verlangte, so zahlte er demjenigen ein ganzes Talent.

Diese Sache ging mir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Sinn. Ich bezweifelte zwar, dass es stimmte, konnte mir aber den Gedanken einfach nicht verkneifen, was ich mit einem ganzen Silbertalent alles hätte anstellen können. Ich könnte mir ein Paar Schuhe kaufen und vielleicht auch ein Messer und würde, auch wenn ich Trapis etwas davon abgab, meinen Notgroschen damit immer noch verdoppeln.

Selbst wenn das mit der Wette geflunkert war, reizte mich die Sache. Unterhaltung war auf der Straße ein rares Gut. Hin und wieder führte eine Lumpentruppe an einer Straßenecke ein Stück auf oder war in einer Kneipe ein Fiedler zu hören. Doch richtige Unterhaltung gab es normalerweise nur gegen Geld, und meine hart erarbeiteten Pennys waren mir zu schade, um sie darauf zu verwenden.

Es gab da jedoch ein Problem. Ich war in Dockside nicht sicher.

Ich sollte das erklären. Im Jahr zuvor hatte ich Pike auf der Straße gesehen. Es war das erste Mal, dass ich ihn wieder sah, seit er damals mit seinen Freunden in jener Gasse über mich hergefallen war und die Laute meines Vaters zerstört hatte.

Ich folgte ihm stundenlang. Gegen Abend ging er schließlich in eine kleine Sackgasse in Dockside, wo er ein Versteck hatte, das meinem ähnelte. Seins bestand aus einigen zerbrochenen Kisten, die er zusammengebastelt hatte, um sich darunter vor Wind und Wetter zu schützen.

Ich hockte die ganze Nacht oben auf dem Dach und wartete ab, bis er am nächsten Morgen wieder aufbrach. Dann stieg ich hinunter und sah mich unter seinen Kisten um. Sein Versteck war recht gemütlich. Er hatte dort eine Flasche Bier, die ich austrank, ein Stück Käse, das ich aß, und ein Hemd, das ich stahl, da es nicht ganz so zerlumpt war wie meins.

Weiteres Suchen förderte noch allerlei Kleinigkeiten zu Tage: eine Kerze, ein Knäuel Bindfaden, einige Murmeln. Am meisten erstaunten mich einige Segeltuchfetzen mit Kohlezeichnungen eines Frauenantlitzes darauf. Und schließlich fand ich, worauf ich es eigentlich abgesehen hatte: eine abgegriffene Holzschachtel. Sie enthielt einen kleinen getrockneten Veilchenstrauß, ein beinahe kahles Spielzeugpferdchen und eine blonde Locke.

Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich mit einem Feuerstein ein Feuer entfacht hatte. Die Veilchen brannten wie Zunder, und bald stieg eine Rauchfahne auf. Ich stand dabei und sah zu, wie alles, was Pike lieb und teuer war, in Flammen aufging.

Ich blieb jedoch zu lange, genoss den Augenblick zu sehr. Pike und ein Freund kamen, von dem Rauch angelockt, in die Sackgasse gerannt, und ich steckte in der Falle. Pike stürzte sich wütend auf mich. Er war einen halben Kopf größer und zwanzig Kilo schwerer als ich, doch schlimmer noch war, dass er eine Glasscherbe hatte, die an einem Ende mit Bindfaden umwickelt war, was ein primitives Messer ergab.

Diese Klinge rammte er mir in den Oberschenkel. Mir gelang es aber, seine Hand aufs Kopfsteinpflaster zu knallen und die Glasscherbe damit zu zerschmettern. Anschließend schlug er mir noch ein blaues Auge und brach mir einige Rippen, bis ich ihm einen kräftigen Tritt in die Eier verpassen konnte und mich losriss. Ich stürmte davon, und er humpelte mir nach und schrie, er werde mich für das, was ich getan hatte, umbringen.

Ich glaubte ihm. Nachdem ich mein Bein notdürftig verbunden hatte, nahm ich meine gesamten Ersparnisse und kaufte davon zweieinhalb Liter billigen Tresterschnaps, der so stark war, dass man davon Blasen im Mund bekam. Dann humpelte ich zurück nach Dockside, um abzuwarten, bis Pike und seine Freunde mich entdeckten.

Es dauerte nicht lange. Ich ließ mich von ihm und zwei seiner Freunde eine halbe Meile weit verfolgen, an der Seamling Lane vorbei und dann in die Tallows. Ich blieb auf den Hauptstraßen, da ich wusste, dass sie nicht wagen würden, mich am helllichten Tage anzugreifen, wenn andere Leute zusahen.

Als ich aber in eine schmale Seitenstraße lief, eilten sie mir hinterher, weil sie glaubten, ich würde versuchen zu entwischen. Als sie jedoch um die Ecke bogen, war dort niemand.

Pike sah in eben dem Moment nach oben, als ich vom Rand des niedrigen Daches aus den Eimer mit dem Tresterschnaps über ihm ausleerte. Der Schnaps ergoss sich auf sein Gesicht und seine Brust, und er war pitschnass. Er schrie, hielt sich die Augen und ging in die Knie. Ich riss das Streichholz an, das ich irgendwo gestohlen hatte, ließ es auf ihn hinunterfallen und sah zu, wie es im Fallen aufflammte.

Von blindem, kindlichem Hass erfüllt, hoffte ich, dass er sich augenblicklich in eine Feuersäule verwandeln würde. Das geschah zwar nicht, aber er fing immerhin Feuer und taumelte schreiend umher, während seine Freunde versuchten, mit bloßen Händen das Feuer zu löschen, und ich mich aus dem Staub machte.

Seitdem war über ein Jahr vergangen, und ich hatte Pike nicht wieder gesehen. Er hatte auch nicht versucht, mich ausfindig zu machen, und ich hatte stets einen großen Bogen um Dockside gemacht. Es war so eine Art Waffenstillstand. Ich hatte jedoch keinen Zweifel daran, dass Pike und seine Freunde noch wussten, wie ich aussah, und dass sie fest entschlossen waren, falls sie mich entdeckten, diese alte Rechnung zu begleichen.

Nachdem ich gründlich darüber nachgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass diese Unternehmung zu riskant war. Die Aussicht auf ein paar Geschichten und die Chance, ein Silbertalent zu gewinnen, waren es nicht wert, dass die Sache mit Pike womöglich wieder aufloderte. Und außerdem: Um welche Geschichte sollte ich denn überhaupt bitten?

Diese Frage ging mir in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Sinn: Um welche Geschichte sollte ich bitten? Ich rempelte einen Hafenarbeiter an, doch ehe ich ihm in die Tasche greifen konnte, hatte er mir schon eine schallende Ohrfeige verpasst. Welche Geschichte? Ich bettelte an der Straßenecke gegenüber der Tehlanerkirche. Welche Geschichte? Ich stahl drei Brote und brachte zwei davon Trapis. Welche Geschichte?

Und als ich dann wieder in meinem Versteck lag, unter der Stelle, an der drei Dächer aufeinandertrafen, fiel es mir ein, als ich gerade beim Einschlafen war. Lanre. Natürlich. Ich konnte ihn bitten, die wahre Geschichte Lanres zu erzählen. Die Geschichte, die mein Vater …

Mit pochendem Herzen erinnerte ich mich mit einem Mal wieder an Dinge, die ich jahrelang aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte: Mein Vater beim Lautenspiel, meine Mutter, wie sie auf dem Wagen neben ihm saß und sang. Reflexhaft zog ich mich vor diesen Erinnerungen zurück, wie man die Hand vor einem Feuer fortreißt.

Zu meinem Erstaunen bargen diese Erinnerungen jedoch nur einen ganz leichten Schmerz und nicht die große Pein, die ich erwartet hatte. Und ich stellte fest, dass ich bei dem Gedanken, eine Geschichte zu hören, die auch mein Vater gewählt hätte, die er selbst hätte erzählen können, eine gewisse Aufregung empfand.

Dennoch war mir klar, dass es die reine Torheit gewesen wäre, einer Geschichte wegen nach Dockside zu gehen. Der Pragmatismus, den Tarbean mich im Laufe der Jahre gelehrt hatte, riet mir dringend, in dem mir bekannten Weltwinkel zu verharren, wo ich in Sicherheit war …

Das Erste, was ich beim Betreten des Halbmast sah, war Skarpi. Er saß auf einem Hocker am Tresen, ein alter Mann mit Augen wie Diamanten und dem Leib einer Vogelscheuche aus Treibholz. Er war mager und wettergegerbt und hatte dichtes weißes Haar auf den Unterarmen, im Gesicht und auf dem Kopf. Dieses Weiß stach scharf von seiner tiefen Sonnenbräune ab und ließ ihn aussehen wie mit Gischt besprüht.

Zu seinen Füßen saß eine Schar von zwanzig Kindern, einige wenige in meinem Alter, die meisten jünger. Es war eine erstaunliche Mischung – von schmuddeligen, barfüßigen Streunern, wie ich einer war, bis hin zu einigermaßen gut gekleideten und frisch gewaschenen Kindern, die wahrscheinlich Eltern und ein Zuhause hatten.

Keines von ihnen kam mir bekannt vor, aber ich wusste ja schließlich auch nicht, wer womöglich zu Pikes Freunden zählte. Ich fand eine freie Stelle in der Nähe des Eingangs, mit dem Rücken zur Wand, und hockte mich hin.

Skarpi räusperte sich auf eine Art, die mich durstig machte. Dann blickte er mit trauriger Miene in den vor ihm stehenden Tonkrug und stellte ihn umgekehrt auf die Theke.

Die Kinder drängten sich nach vorn, legten Münzen auf den Tresen. Ich zählte schnell mit: zwei eiserne Halbpennys, neun Scherflein und ein Deut. Zusammen etwas über drei Eisenpennys. Vielleicht bot er die Wette um das Silbertalent gar nicht mehr an. Wahrscheinlich war an dem Gerücht, das ich gehört hatte, gar nichts dran.

Skarpi nickte dem Schankwirt fast unmerklich zu. »Roten Fallows.« Seine Stimme war tief und rauh und wirkte beinahe hypnotisch. Der kahlköpfige Mann hinterm Tresen raffte die Münzen zusammen und füllte Skarpis breiten Tonkrug mit Wein.

»Also – was wollen wir denn heute hören?«, fragte Skarpi, seine tiefe Stimme wie fernes Donnergrollen.

Einen Moment lang herrschte ein Schweigen, das mir beinahe ehrfürchtig erschien. Dann krakeelten die Kinder gleichzeitig los.

»Ich will ein Märchen!«

»… Oren und der Kampf in Mnat’s …«

»Ja, Oren Velciter! Die Geschichte mit Baron …«

»Lartam …«

»Myr Tariniel!«

»Illien und der Bär!«

»Lanre«, sagte ich.

Im Raum wurde es wieder still, und Skarpi trank einen Schluck. Die Kinder sahen ihm mit einer Gespanntheit dabei zu, die ich nicht recht einzuordnen vermochte.

Skarpi saß ganz ruhig inmitten dieser Stille. »Habe ich«, fragte er mit einer Stimme wie aus dunklem, zähem Honig, »da jemanden Lanre sagen hören?« Er sah mich mit seinen klaren blauen Augen an.

Ich nickte, ohne zu wissen, was ich erwarten sollte.

»Ich will etwas über die Wüstengebiete hinter dem Stormwal hören«, sagte ein kleines Mädchen. »Über die Sandschlangen, die wie Haie aus dem Boden geschossen kommen. Und über die Wüstenmenschen, die sich in den Sanddünen verbergen und Menschenblut trinken statt Wasser. Und –« Die Kinder rings um sie her brachten sie mit Knüffen zum Schweigen.

Skarpi trank einen weiteren Schluck. Und wie ich so die Kinder beobachtete, die Skarpi beobachteten, wurde mir klar, woran sie mich erinnerten: an jemanden, der besorgt auf eine Sanduhr blickt. Vermutlich war, wenn der alte Mann den Krug geleert hatte, auch seine Geschichte zu Ende.

Skarpi trank noch einen Schluck, nur einen kleinen diesmal, setzte den Krug ab und drehte sich auf dem Hocker zu uns um. »Wer möchte die Geschichte von dem Mann hören, der ein Auge verlor und dadurch einen schärferen Blick gewann?«

Etwas an seinem Tonfall oder der Reaktion der Kinder verriet mir, dass es eine rein rhetorische Frage war. »Also: Lanre und der Schöpfungskrieg. Eine uralte Geschichte.« Sein Blick schweifte über die Kinder hinweg. »Bleibt sitzen und hört mir zu, denn ich werde von der leuchtenden Stadt erzählen, wie sie früher einmal war, vor vielen, vielen Jahren …«

Es war einmal – vor vielen, vielen Jahren – Myr Tariniel. Die leuchtende Stadt. Sie prangte zwischen den hohen Bergen wie ein Edelstein auf einer Königskrone.

Stellt euch eine Stadt vor, so groß wie Tarbean, aber an jeder Kreuzung mit einem Springbrunnen oder einem grünen Baum oder einer Statue, so schön, dass selbst einem stolzen Mann bei ihrem Anblick die Tränen kommen. Die Gebäude dort waren hoch und elegant, direkt aus dem Fels herausgemeißelt, aus dem leuchtend weißen Stein, der das Sonnenlicht speichert, lange noch nachdem sich der Abend herabgesenkt hat.

Selitos war der Herrscher über Myr Tariniel. Nur indem er etwas in den Blick nahm, vermochte er seinen verborgenen Namen zu entziffern und es zu verstehen. Damals gab es viele, die so etwas konnten, aber Selitos war der mächtigste Namenskundige jenes Zeitalters.

Selitos war bei seinen Untertanen sehr beliebt. Sein Urteil war streng und gerecht, und er ließ sich weder durch Lügen noch durch Heucheleien beirren. Sein Blick hatte eine solche Kraft, dass er in den Herzen der Menschen zu lesen vermochte wie in einem Buch mit großen Lettern.

Nun wütete damals ein schrecklicher Krieg in einem großen Reich. Der Krieg wurde der Schöpfungskrieg genannt, und das Reich hieß Ergen. Und obwohl es auf der ganzen Welt nie wieder ein so großes Reich gegeben hat, und obwohl nie wieder ein so schrecklicher Krieg wütete, besteht beides heute nur noch in Geschichten fort. Selbst die Geschichtsbücher, in denen das Reich wie der Krieg als zweifelhafte Gerüchte erwähnt werden, sind längst zu Staub zerfallen.

Der Krieg währte schon so lange, dass sich die Menschen kaum noch an eine Zeit erinnern konnten, als der Himmel nicht vom Rauch brennender Städte verdunkelt war. Einst hatte es über das ganze Reich verteilt Hunderte stolze Städte gegeben. Nun aber waren davon nur noch mit Leichen übersäte Trümmer übrig. Hunger und Seuchen waren allgegenwärtig, und in manchen Gegenden herrschte eine derartige Verzweiflung, dass die Mütter nicht mehr genügend Hoffnung aufbrachten, um ihren Neugeborenen Namen zu geben. Acht Städte aber standen noch. Es waren dies Belen, Antus, Vaeret, Tinusa, Emlen und die Zwillingsstädte Murilla und Murella. Die Letzte war Myr Tariniel, die größte von allen und die einzige, die der schon Jahrhunderte lang andauernde Krieg noch nicht gezeichnet hatte. Sie ward geschützt von einem Gebirge und tapferen Soldaten. Doch der wahre Grund für den Frieden von Myr Tariniel war Selitos. Mit seinem machtvollen Blick wachte er über die Gebirgspässe, die in seine geliebte Stadt führten. Seine Gemächer befanden sich auf dem höchsten Turm der Stadt, und daher konnte er jeden Angriff erspähen, bevor er sich zu einer Gefahr auswuchs.

Die übrigen sieben Städte, die keinen Selitos hatten, sicherten sich anderweitig. Sie vertrauten auf dicke Mauern, auf Stein und Stahl. Sie vertrauten auf die Stärke ihrer Waffen, auf Heldenmut und Tapferkeit und Blut. Und also vertrauten sie auf Lanre.

Lanre kämpfte, seit er ein Schwert heben konnte, und als er in den Stimmbruch kam, war er einem Dutzend älterer Männer ebenbürtig. Er nahm eine Frau namens Lyra zur Gemahlin, und seine Liebe für sie kannte keine Grenzen.

Lyra war über die Maßen klug und gebot über ebenso große Macht wie er. Während Lanre über die Kraft seines Armes gebot und getreue Männer befehligte, kannte Lyra die Namen der Dinge, und die Kraft ihrer Stimme vermochte Menschen zu töten oder Gewitterstürmen Einhalt zu gebieten.

Die Jahre vergingen, und Lanre und Lyra kämpften Seite an Seite. Sie verteidigten Belen bei einem Überraschungsangriff, retteten die Stadt vor einem eigentlich übermächtigen Feind. Sie scharten Heere um sich und brachten die Städte dazu, sich untereinander zu verbünden. Im Laufe langer Jahre drängten sie die Feinde des Reichs zurück. Menschen, die vor Verzweiflung schon wie gelähmt waren, sahen erste Hoffnungsschimmer. Sie hofften auf Frieden, und sie setzten diese vagen Hoffnungen auf Lanre.

Dann kam die Blac von Drossen Tor. Blac bedeutete im damaligen Sprachgebrauch »Schlacht«, und in Drossen Tor kam es zu der größten und schrecklichsten Schlacht dieses großen, schrecklichen Krieges. Die Heere kämpften ununterbrochen drei Tage und drei Nächte lang, bei Sonnenschein und Mondschein. Keine der beiden Seiten vermochte die andere zu schlagen, und für beide kam ein Rückzug nicht in Frage.

Über diese Schlacht habe ich nur eines zu sagen: Es starben damals in Drossen Tor mehr Menschen, als heute auf der ganzen Welt leben.

Lanre war stets dort, wo der Kampf am grimmigsten wütete, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Sein Schwert verließ nie seine Hand, ruhte nie in seiner Scheide. Ganz zum Schluss, von oben bis unten mit Blut bedeckt, inmitten eines mit Leichen übersäten Feldes, stand Lanre ganz allein einem schrecklichen Widersacher gegenüber. Es war ein großes Raubtier mit einem Schuppenpanzer aus schwarzem Eisen, in dessen dunklem Atem die Menschen erstickten. Lanre kämpfte gegen das Tier an und tötete es. Er brachte seiner Seite den Sieg, doch diesen Sieg erkaufte er mit dem eigenen Leben.

Nachdem die Schlacht beendet war, fanden Überlebende Lanres kalten, leblosen Leib neben dem Tier, das er getötet hatte. Die Nachricht von Lanres Tod legte sich über das Schlachtfeld wie ein Grabtuch der Verzweiflung. Sie hatten die Schlacht gewonnen, und das Kriegsglück war ihnen nun hold, doch jeder von ihnen verspürte eine Kälte in sich. Das Flämmchen der Hoffnung, das sie alle gehegt hatten, flackerte und verlosch. Sie hatten all ihre Hoffnung auf Lanre gesetzt, und nun war Lanre tot.

In tiefer Stille stand Lyra bei Lanres Leichnam und sprach seinen Namen. Ihre Stimme glich einem Gebot. Ihre Stimme war aus Stahl und Stein. Ihre Stimme befahl ihm wiederaufzuerstehen. Doch Lanre blieb reglos und tot dort liegen.

In großer Furcht kniete Lyra neben Lanres Leib nieder und hauchte seinen Namen. Ihre Stimme war eine Verlockung. Ihre Stimme war Liebe und Verlangen. Ihre Stimme bat, er möge wiederauferstehen. Doch Lanre blieb reglos und tot dort liegen.

In tiefster Verzweiflung warf sich Lyra auf Lanre und sprach unter Tränen seinen Namen. Ihre Stimme war ein Flüstern. Ihre Stimme flehte, er möge wiederauferstehen. Doch Lanre blieb reglos und tot dort liegen.

Lanre war tot. Lyra weinte gebrochenen Herzens und berührte mit zitternden Händen sein Gesicht. Ringsumher wandten Männer den Blick ab, denn das blutige Schlachtfeld war ein weniger schrecklicher Anblick als Lyras Trauer.

Doch Lanre hörte, dass sie nach ihm rief. Lanre wandte sich um, als er ihre Stimme hörte, und ging zu ihr. Lanre kehrte aus dem Jenseits zurück. Er sprach ihren Namen und schloss Lyra in die Arme, um sie zu trösten. Er schlug die Augen auf und wischte mit zitternden Händen seine Tränen fort. Und dann tat er einen tiefen Atemzug.

Die Überlebenden der Schlacht sahen, dass Lanre sich regte, und sie waren sehr erstaunt. Die flackernde Hoffnung auf Frieden, die jeder von ihnen so lange in seinem Innern genährt hatte, flammte nun auf wie ein loderndes Feuer.

»Lanre und Lyra!«, riefen sie, ihre Stimmen wie Donnerhall. »Die Liebe unseres Herrn ist stärker als der Tod! Die Stimme unserer Herrin hat ihn zurückgerufen! Gemeinsam haben sie dem Tod getrotzt! Wie sollten wir gemeinsam mit ihnen nicht den Sieg erringen?«

Und so ging der Krieg weiter, doch mit den Seit an Seit kämpfenden Lanre und Lyra erschien die Zukunft in einem weniger trostlosen Licht. Bald kannte jedermann die Geschichte davon, wie Lanre gestorben war, und wie seine Liebe und Lyras Macht ihn wieder ins Leben zurückgeholt hatten. Zum ersten Mal seit Menschengedenken konnte man offen von Frieden sprechen, ohne als Narr oder Verrückter zu gelten.

Die Jahre gingen ins Land. Die Reihen der Feinde lichteten sich, und selbst die größten Zyniker erkannten, dass das Ende des Krieges nahte.

Dann machten Gerüchte die Runde: Lyra sei krank. Lyra sei entführt worden. Lyra sei gestorben. Lanre sei aus dem Reich geflohen. Lanre sei dem Wahnsinn verfallen. Manche behaupteten gar, Lanre habe sich umgebracht und suche nun im Reich der Toten nach seiner Gemahlin. Viele derartige Geschichten kursierten, doch keiner wusste, wie es wirklich war.

Inmitten all dieser Gerüchte traf Lanre in Myr Tariniel ein. Er kam allein, trug nur sein silbernes Schwert und ein schwarzes Kettenhemd. Diese Rüstung saß wie eine zweite Haut. Er hatte sie aus dem Kadaver der Bestie gefertigt, die er in Drossen Tor getötet hatte.

Lanre bat Selitos, mit ihm außerhalb der Stadt zu wandeln. Selitos willigte ein, in der Hoffnung, die Wahrheit über Lanres Sorgen zu erfahren und ihm den Trost spenden zu können, den ein Freund spenden kann. Sie hielten oft Rat miteinander, denn sie waren die Herren ihrer Völker.

Selitos hatte von den Gerüchten erfahren, und er machte sich Sorgen. Er fürchtete um Lyras Gesundheit, aber mehr noch fürchtete er um Lanre. Selitos war ein weiser Mann. Er wusste, dass Trauer das Herz ersticken und dass Leidenschaft auch die besten Männer in den Wahnsinn treiben kann.

Gemeinsam wandelten sie auf Gebirgspfaden. Lanre ging voran, und dann kamen sie an eine Stelle hoch droben im Gebirge, von der aus sie über das ganze Land hinwegschauen konnten. Die stolzen Türme von Myr Tariniel erstrahlten im letzten Licht der untergehenden Sonne.

Nach langem Schweigen sagte Selitos: »Mir sind schreckliche Gerüchte zu Ohren gekommen, was deine Gemahlin anbelangt.«

Lanre erwiderte nichts, und aus seinem Schweigen schloss Selitos, dass Lyra tatsächlich gestorben war.

Nach langem Schweigen versuchte Selitos es noch einmal. »Ich weiß zwar nicht, was geschehen ist, aber Myr Tariniel ist für dich da, und ich werde dir jede in meiner Macht stehende Hilfe zuteil werden lassen.«

»Du hast mir schon genug geholfen, alter Freund.« Lanre wandte sich um und legte Selitos eine Hand auf die Schulter. »Silanxi, ich binde dich. Beim Namen des Steins, sei still wie Stein. Aeruh, ich gebiete der Luft. Sie lege sich bleiern auf deine Zunge. Selitos, ich nenne dich. Mögen all deine Kräfte von dir weichen – bis auf deinen Weitblick.«

Selitos wusste, dass es auf der ganzen Welt nur drei Menschen gab, die es, was Namen anging, mit ihm aufnehmen konnten: Aleph, Iax und Lyra. Lanre hatte keine solche Begabung – seine Macht beruhte auf der Kraft seines Arms. Wenn er versuchen würde, Selitos mit seinem Namen zu binden, wäre das ebenso fruchtlos, wie wenn ein kleiner Junge einen Soldaten mit einer Weidenrute angriff.

Dennoch lastete Lanres Macht bleischwer auf ihm, und Selitos war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen oder zu sprechen. Er stand still wie ein Stein und konnte weiter nichts tun als sich verwundert zu fragen: Wie hatte Lanre eine solche Macht erlangt?

Verwirrt und verzweifelt sah Selitos zu, wie sich die Nacht auf das Gebirge legte. Und entsetzt sah er, dass ein Teil dieser immer weiter vordringenden Schwärze in Wirklichkeit ein großes Heer war, das auf Myr Tariniel vorrückte. Und schlimmer noch: Keine Warnglocken erklangen. Selitos konnte nur reglos dort stehen und zusehen, wie das Heer immer näher heranschlich.

Myr Tariniel wurde niedergemetzelt und niedergebrannt – je weniger man darüber spricht, desto besser. Hinterher waren die weißen Mauern rußgeschwärzt, und aus den Springbrunnen sprudelte Blut. Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag lang stand Selitos machtlos neben Lanre und konnte weiter nichts tun als zuzusehen und den Schreien der Sterbenden zuzuhören, dem Scheppern des Eisens, dem Krachen der zerberstenden Mauern.

Als über den rußschwarzen Türmen der Stadt der nächste Morgen graute, bemerkte Selitos, dass er sich wieder regen konnte. Er wandte sich zu Lanre um, und diesmal versagte sein Blick nicht. Er sah in Lanre eine große Finsternis und einen gemarterten Geist. Doch Selitos spürte immer noch die Fesseln des Zauberbanns. Wut und Verwirrung rangen in ihm, und er sprach: »Lanre, was hast du getan?«

Lanre sah immer noch hinab auf die Ruinen von Myr Tariniel. Er stand gebeugt, als ruhe eine schwere Last auf ihm. Und als er dann sprach, klang seine Stimme müde. »Hat man mich für einen guten Mann gehalten, Selitos?«

»Man hielt dich für einen unserer Besten. Man glaubte, du seiest über jeden Tadel erhaben.«

»Und dennoch habe ich das hier getan.«

Selitos brachte es nicht mehr über sich, auf seine in Trümmern liegende Stadt hinabzusehen. »Und dennoch hast du das hier getan«, sagte auch er. »Warum?«

Lanre schwieg einen Moment lang. Dann: »Meine Frau ist tot.« Er schluckte und sah hinaus über das Land.

Selitos folgte seinem Blick. Von ihrem Aussichtspunkt aus sah er drunten dunkle Rauchwolken aufsteigen. Selitos erkannte zu seinem Entsetzen, dass Myr Tariniel nicht die einzige Stadt war, die zerstört worden war. Lanres Bundesgenossen hatten die letzten Bastionen des Reichs in Schutt und Asche gelegt.

Lanre wandte sich an ihn. »Und mich hielt man für einen der Besten.« Lanres Gesicht bot einen schrecklichen Anblick. Es war von Gram und Verzweiflung zerfurcht. »Ich, den man für klug und tugendhaft hielt, habe all das getan!« Er gestikulierte wild. »Nun stell dir einmal vor, welche Ruchlosigkeiten geringere Männer in ihrem Herzen hegen mögen.« Lanre sah wieder nach Myr Tariniel hinüber, und eine Art Frieden kam über ihn. »Für die ist es wenigstens vorüber. Die sind nun in Sicherheit. Geschützt vor den unzähligen Übeln des Alltags. Geschützt vor all dem Kummer eines ungerechten Schicksals.«

Selitos sagte leise: »Geschützt vor Freude und Erstaunen …«

»Es gibt keine Freude!«, schrie Lanre mit schrecklicher Stimme. Ihr Ton ließ Felsen zerschmettern.

»Jede Freude, die hier aufkeimt, wird schnell von Unkraut erstickt. Ich bin nicht irgendein Ungeheuer, das aus krankhaftem Vergnügen zerstört. Ich säe Salz, weil hier nur die Wahl zwischen dem Unkraut und dem Nichts besteht.« Selitos sah hinter seinen Augen nur Leere.

Selitos bückte sich und hob einen Quarzklumpen auf, der an einer Seite eine Spitze hatte.

»Wirst du mich jetzt mit einem Stein erschlagen?« Lanre lachte freudlos. »Ich wollte erreichen, dass du es verstehst, dass du weißt, dass es nicht Wahnsinn war, was mich dazu gebracht hat.«

»Du bist nicht wahnsinnig«, antwortete Selitos. »Ich kann keinen Wahnsinn in dir entdecken.«

»Ich hatte gehofft, dass du dich mir in meinem Bestreben anschließt.« In Lanres Stimme lag ein verzweifeltes Verlangen. »Diese Welt gleicht einem tödlich verwundeten Freund. Eine bittere Arznei, schnell verabreicht, lindert lediglich den Schmerz.«

»Die Welt vernichten?«, sagte Selitos leise, wie im Selbstgespräch. »Du bist nicht wahnsinnig, Lanre. Was dich gefangen hält, ist etwas Schlimmeres als Wahnsinn.« Er betastete die scharfe Spitze des Quarzklumpens in seiner Hand.

»Wirst du mich töten, um mich zu heilen, alter Freund?«, lachte Lanre. Dann blickte er Selitos plötzlich mit verzweifelter Hoffnung an. »Könntest du es?«, fragte er. »Könntest du mich töten, alter Freund?«

Selitos sah seinen Freund an, sein Blick nun unverschleiert. Er sah, dass Lanre, fast wahnsinnig vor Trauer, versucht hatte, die Macht zu erlangen, Lyra wieder zum Leben zu erwecken. Aus Liebe zu Lyra hatte Lanre Wissen erlangt, das niemand erlangen sollte, und das zu einem schrecklichen Preis.

Doch nicht einmal mit der ganzen Fülle seiner unter großen Mühen errungenen Macht gelang es ihm, Lyra wiederzuerwecken. Ohne Lyra war ihm das Leben nur noch eine Last. Um der Verzweiflung und den Qualen zu entrinnen, hatte Lanre sich schließlich das Leben genommen. Er hatte zur letzten Zuflucht eines jeden Menschen gegriffen und versucht, ins Jenseits zu entfliehen.

Doch wie Lyras Liebe ihn damals aus dem Jenseits zurückgeholt hatte, erzwang diesmal Lanres Macht seine Rückkehr aus dem seligen Vergessen. Seine neu gewonnene Macht zwang ihn zurück in seinen Leib, zwang ihn weiterzuleben.

Selitos sah Lanre an und verstand das alles. Vor seinem machtvollen Blick hingen all diese Dinge wie dunkle Teppiche in der Luft.

»Ich könnte dich töten«, sagte Selitos und wandte den Blick ab, als Lanre Hoffnung zu schöpfen schien. »Für eine Stunde oder einen Tag. Aber du würdest wiederkehren, wie ein Stück Eisen, das von einem Magnetstein angezogen wird. In deinem Namen lodert die Macht, die du erlangt hast. Und die könnte ich ebenso wenig löschen, wie ich den Mond mit einem Steinwurf vom Himmel holen könnte.«

Lanre ließ die Schultern hängen. »Ich hatte darauf gehofft«, sagte er. »Wenn auch wider besseres Wissen. Ich bin nicht mehr der Lanre, den du kanntest. Ich habe jetzt einen neuen, schrecklichen Namen. Ich bin Haliax, und keine Tür kann mir den Weg versperren. Mir bleibt nichts mehr – keine Lyra, kein süßer Schlaf, kein seliges Vergessen, ja sogar über den Wahnsinn bin ich hinaus. Der Tod ist für meine Macht ein offenes Tor. Es gibt kein Entkommen. Mir bleibt nur, auf das große Nichts zu hoffen, nachdem alles untergegangen ist und die Aleu namenlos vom Himmel gefallen sind.« Und als er das sagte, verbarg Lanre das Gesicht in den Händen, und sein ganzer Leib wurde von Schluchzen geschüttelt.

Selitos sah hinaus über das Land und entdeckte ein kleines Fünkchen Hoffung. Sechs Rauchwolken stiegen dort drunten auf. Myr Tariniel war zerstört, ebenso wie sechs weitere Städte. Das bedeutete aber, dass noch nicht alles verloren war. Eine Stadt war noch übrig …

Trotz allem, was geschehen war, empfand Selitos Mitleid mit Lanre, und als er das Wort ergriff, klang seine Stimme traurig. »Dann bleibt also gar nichts? Keine Hoffnung?« Er legte Lanre eine Hand auf den Arm. »Es gibt auch Schönes im Leben. Auch nach all dem werde ich dir helfen, danach zu suchen. Wenn du denn willst.«

»Nein«, sagte Lanre. Er richtete sich zu voller Größe auf, und sein Gesicht blickte trotz all dem Gram majestätisch. »Es gibt nichts Schönes. Ich werde Salz säen, auf dass das Unkraut vergehe.«

»Dann tut es mir leid«, sagte Selitos und richtete sich ebenfalls auf.

Dann sprach er mit lauter Stimme: »Niemals zuvor wurde mein Blick getrübt. Ich habe die Wahrheit in deinem Herzen nicht gesehen.«

Er atmete tief durch. »Mein Auge hat mich getäuscht.« Er hob den Quarzklumpen und rammte sich die Spitze ins Auge. Sein Schrei hallte von den Felsen wider, und er fiel keuchend auf die Knie. »Möge ich nie wieder so blind sein.«

Eine große Stille sank hernieder, und Selitos löste sich aus den Fesseln des Zauberbanns. Er warf den Stein Lanre vor die Füße und sagte: »Mit der Macht meines Blutes binde ich dich. Bei der Macht deines Namens seist du verflucht.«

Selitos sprach den langen Namen aus, den Lanre im Herzen trug, und bei diesem Laut verdunkelte sich die Sonne, und der Wind riss Felsbrocken von den Hängen.

Dann sagte Selitos: »Dies sei der Fluch, den ich dir auferlege. Möge dein Antlitz stets von einem Schatten umhüllt sein, so schwarz wie die eingestürzten Türme meines geliebten Myr Tariniel.

Dies sei der Fluch, den ich dir auferlege. Dein eigener Name werde gegen dich gerichtet, und du wirst nimmermehr Frieden finden.

Dies sei der Fluch, den ich dir auferlege – dir und allen, die dir folgen. Möge er andauern bis zum Ende der Welt, bis die Aleu namenlos vom Himmel fallen.«

Selitos sah zu, wie sich eine Dunkelheit um Lanre zusammenzog. Bald war von seinen Gesichtszügen nichts mehr zu erkennen, sah man nur noch vage eine Nase, einen Mund und zwei Augen. Der Rest verschwand in schwarzem Schatten.

Selitos erhob sich und sprach: »Du hast mich einmal überlistet, aber ein zweites Mal wird dir das nicht gelingen. Ich sehe jetzt deutlicher als je zuvor, und du unterstehst meiner Macht. Ich kann dich nicht töten, aber ich kann dich von hier fortschicken. Hinweg mit dir! Dein Anblick ist umso widerlicher, da ich weiß, wie erhaben er einst war.«

Doch schon als er sie aussprach, schmeckten ihm diese Worte bitter. Lanre, das Gesicht in einen Schatten gehüllt, der dunkler war als eine sternenlose Nacht, wurde fortgeweht wie Rauch im Wind.

Da senkte Selitos das Haupt und weinte heiße, blutige Tränen.

Erst als Skarpi verstummte, merkte ich, wie versunken ich ihm gelauscht hatte. Er hob den Kopf und trank den letzten Schluck Wein. Dann drehte er den Tonkrug um und stellte ihn mit einem vernehmlichen Laut auf den Tresen.

Von den Kindern, die während der ganzen Geschichte wie versteinert dagesessen hatten, prasselten nun Fragen, Bemerkungen, Bitten und Dankesbezeigungen auf Skarpi ein. Der gab dem Wirt einen Wink und bekam daraufhin einen Krug Bier gezapft. Die Kinder gingen nun nach und nach auf die Straße hinaus.

Ich wartete, bis das letzte Kind gegangen war, bevor ich zu ihm ging. Er richtete seine diamantblauen Augen auf mich, und ich stammelte: »Danke. Ich wollte Euch danken. Meinem Vater hätte die Geschichte sehr gefallen. Es ist …« Ich verstummte. »Ich wollte Euch das geben.« Ich zog einen eisernen Halbpenny hervor. »Ich wusste nicht, wie das hier abläuft, und deshalb habe ich nicht bezahlt.« Meine Stimme kam mir wie eingerostet vor. So viel hatte ich wahrscheinlich den ganzen Monat noch nicht gesprochen.

Er betrachtete mich aufmerksam. »Es gibt hier zwei Regeln«, sagte er und zählte sie an seinen knotigen Fingern ab. »Erstens: Niemand sagt etwas, während ich spreche. Zweitens: Gib eine kleine Münze – aber nur, wenn du sie entbehren kannst.«

Er betrachtete den Halbpenny, der auf dem Tresen lag.

Da ich nicht zugeben wollte, wie nötig ich ihn eigentlich hatte, wechselte ich schnell das Thema. »Kennt Ihr viele Geschichten?«

Er lächelte, und das Netz der Falten auf seinem Gesicht wurde zu einem Teil dieses Lächelns. »Ich kenne nur eine einzige Geschichte. Aber oft entpuppen sich kleine Teile dieser Geschichte als eigene Geschichten.« Er trank einen Schluck Bier. »Die Geschichte wird überall rings um uns her weitergewoben. In den Werkstätten der Kealden wie jenseits der Stormwal im großen Sandmeer. In den niedrigen Steinhäusern der Adem, die erfüllt sind von stillem Gespräch. Und manchmal –« Er lächelte. »Manchmal wird die Geschichte auch in schäbigen Kaschemmen am Tarbeaner Hafen weitergewoben.« Seine leuchtenden Augen schauten tief in mich hinein, als wäre ich ein Buch, in dem er zu lesen verstand.

»Jede gute Geschichte berührt die Wahrheit«, sagte ich und wiederholte damit etwas, das mein Vater oft gesagt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder mit jemandem zu sprechen, seltsam, aber schön. »Und so wohl auch diese. Es ist wirklich schade, die Welt könnte ein bisschen weniger Wahrheit gebrauchen und ein bisschen mehr …« Ich verstummte, wusste nicht, wovon ich gern mehr gehabt hätte. Ich sah auf meine Hände hinab und wünschte, sie wären sauberer gewesen.

Er schob mir den Halbpenny hin. Als ich die Münze nahm, lächelte er. Seine grobe Hand berührte mich sacht wie ein Vogel an der Schulter. »Jeden Tag, außer Mourning. So um die sechste Stunde.«

Ich wandte mich zum Gehen, hielt dann noch einmal inne. »Ist sie wahr? Die Geschichte.« Ich machte eine vage Geste. »Der Teil der Geschichte, den Ihr heute erzählt habt?«

»Alle Geschichten sind wahr«, sagte Skarpi. »Aber diese hat sich auch wirklich so zugetragen – wenn es das ist, was du meinst.« Er trank noch einen Schluck, lächelte dann wieder, und seine Augen funkelten. »Mehr oder weniger. Man muss schon auch ein klein wenig ein Lügner sein, um eine Geschichte richtig erzählen zu können. Ein Übermaß an Wahrheit bringt die Tatsachen durcheinander. Und zu viel Ehrlichkeit lässt einen unaufrichtig erscheinen.«

»Das hat mein Vater auch immer gesagt.« Als ich meinen Vater erwähnte, brandete ein Sturm von Gefühlen in mir auf. Erst als ich sah, dass Skarpi mir nachblickte, merkte ich, dass ich ängstlich zum Ausgang zurückwich. »Ich komme wieder, wenn ich kann.«

Seiner Stimme war das Lächeln anzuhören. »Ich weiß.«

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