Kapitel 77
Felsenhänge
Ich erwachte ohne eine Erinnerung, wann ich eingeschlafen war. Denna rüttelte mich sacht. »Keine hastigen Bewegungen«, sagte sie. »Da geht es tief runter.«
Ich streckte mich vorsichtig und spürte in jedem einzelnen Muskel die Strapazen des Vortags. Meine Beine waren völlig verkrampft und taten höllisch weh. Nun erst bemerkte ich, dass ich wieder meinen Umhang trug. »Habe ich dich aufgeweckt?«, fragte ich. »Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.«
»Ja, du hast mich aufgeweckt«, sagte sie. »Du bist eingenickt und dann auf mich drauf gekippt. Und als ich dich ausgeschimpft habe, hast du mit keiner Wimper gezuckt.« Ich stand langsam auf. »Ach du lieber Gott«, sagte Denna. »Du siehst ja aus wie ein gichtkranker Greis.«
»Du weißt doch«, erwiderte ich. »Kurz nach dem Aufwachen ist man immer am steifsten.«
Sie grinste. »Für uns Frauen gilt das eher nicht.« Dann wurde sie wieder ernst. »Es ist schlimm, oder?«
»Ich bin gestern sechzig Meilen geritten, bevor ich dich traf«, sagte ich. »Und ich bin so etwas nicht gewöhnt, und als ich heute Nacht hier hochgesprungen bin, hab ich mir ganz schön wehgetan.«
»Bist du verletzt?«
»Ja, an jedem einzelnen Millimeter meines Körpers.«
»Oh«, stieß sie hervor und hielt sich die Hände vor den Mund. »Deine schönen Hände!«
Ich sah hinunter und verstand, was sie meinte. Ich hatte mir die Hände bei dem nächtlichen Versuch, den Graustein zu erklimmen, völlig zerschunden. Meine Lautenistenschwielen hatten die Fingerspitzen vor dem Schlimmsten bewahrt, aber die Fingerknöchel waren aufgeschürft und blutverkrustet. Nur weil mir andere Körperpartien noch mehr weh taten, hatte ich das gar nicht bemerkt.
Beim Anblick meiner Hände krampfte sich mir der Magen zusammen, doch als ich sie öffnete und wieder schloss, sah ich, dass sie nur aufgeschürft und nicht ernsthaft verletzt waren. Als Musiker machte ich mir immer Sorgen, dass meinen Händen etwas zustoßen könnte, und meine Arbeit im Handwerkszentrum hatte diese Sorge noch verstärkt. »Es sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte ich. »Wie lange ist der Draccus denn schon fort?«
»Seit ein paar Stunden. Er ist kurz nach Sonnenaufgang verschwunden.«
Ich sah von dem Torbogen aus Grausteinen hinunter. Am Abend zuvor war die Hügelkuppe noch eine grüne Wiese gewesen. Jetzt am Morgen aber sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Das Gras war an einigen Stellen zermalmt, an anderen niedergebrannt. Wo sich die Echse gewälzt hatte, zogen sich tiefe Furchen durch den Boden.
Der Abstieg von dem Graustein erwies sich als schwieriger als der Aufstieg. Der Torbogen war gut vier Meter hoch. Normalerweise wäre ich einfach hinuntergesprungen, aber steif und voller Prellungen, wie ich war, fürchtete ich, ungeschickt aufzukommen und mir einen Fußknöchel zu verstauchen.
Wir schafften es schließlich, indem wir den Tragegurt meines Reisesacks als Seil nutzten. Denna hielt oben das eine Ende fest, und ich ließ mich an dem anderen hinab. Dabei riss der Sack natürlich auf, und meine ganzen Habseligkeiten fielen heraus, aber ich schaffte es und holte mir dabei nur einen harmlosen grünen Grasfleck.
Dann hängte sich Denna an die Oberkante des Steins, und ich packte ihre Beine und ließ sie langsam herab. Obwohl mein ganzer Oberkörper von Prellungen überzogen war, trug das doch sehr dazu bei, meine Laune zu heben.
Ich sammelte meine Siebensachen ein, setzte mich dann mit Nadel und Faden hin und flickte meinen Reisesack. Denna verschwand kurz mal im Wald, und als sie wiederkam, hob sie die Decke auf, die wir in der Nacht zurückgelassen hatten und auf der sich die Klauen des Draccus verewigt hatten.
»Hast du so etwas schon mal gesehen?«, fragte ich und streckte ihr meine Hand entgegen.
Sie hob eine Augenbraue. »Wie oft habe ich diese Frage jetzt schon gehört?« Grinsend reichte ich ihr den schwarzen Eisenklumpen, den mir der Kessler gegeben hatte. Sie betrachtete ihn neugierig. »Ist das ein Lodenstein?«
»Es wundert mich, dass du das erkennst.«
»Ich kannte mal einen Mann, der hat so einen als Briefbeschwerer benutzt.« Sie seufzte abschätzig. »Absichtlich. Obwohl diese Steine ja so wertvoll und selten sind.« Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Er war ein Trottel. Hast du irgendetwas aus Eisen?«
»Schau mal da.« Ich zeigte auf den kleinen Haufen meiner Habseligkeiten. »Da ist bestimmt irgendwas dabei.«
Denna setzte sich auf einen der liegenden Grausteine und spielte mit dem Lodenstein und einem Teil einer zerbrochenen eisernen Gürtelschnalle, während ich meinen Reisesack flickte und den Tragegurt wieder annähte.
Sie war ganz gebannt von seiner Kraft. »Wie funktioniert das?«, fragte sie, zog das Schnallenteil ab und ließ es wieder an den Stein sausen. »Woher kommt diese Anziehungskraft?«
»Das ist etwas Galvanisches«, sagte ich und zögerte. »Ehrlich gesagt: Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Ich frage mich, ob es nur Eisen anzieht, weil es selbst aus Eisen besteht«, sagte sie nachdenklich und hielt einen Silberring daran, ohne dass irgendetwas geschah. »Wenn man einen Lodenstein aus Messing finden würde, würde der dann auch nur Messing anziehen?«
»Wahrscheinlich auch Kupfer und Zink«, sagte ich. »Daraus besteht Messing nämlich.« Ich stülpte den Reisesack wieder um und fing an, meine Sachen einzupacken. Denna gab mir den Lodenstein zurück und ging zu unserer Feuerstelle; dem, was davon übrig geblieben war.
»Er hat das ganze Holz aufgefressen, bevor er gegangen ist.«
Ich ging ebenfalls hin und sah es mir an. Der Erdboden rings um die Feuerstelle war völlig aufgewühlt. Es sah aus, als wäre eine ganze Kavalleriedivision durchgeritten. Ich stupste ein herausgerissenes Stück der Grasnarbe mit der Stiefelspitze an und bückte mich, um etwas aufzuheben. »Schau mal.«
Denna kam näher, und ich zeigte es ihr. Es war eine Schuppe des Draccus. Sie war schwarz und glatt, etwa so groß wie meine Handfläche, und hatte eine tränenförmige Gestalt. In der Mitte war sie etwa einen halben Zentimeter dick und wurde zu den Rändern hin dünner.
Ich hielt sie Denna hin. »Für Euch, Mylady. Als Andenken.«
Sie nahm sie in die Hand. »Ganz schön schwer«, sagte sie. »Ich suche auch eine für dich …« Sie stocherte in den Überresten der Feuerstelle herum. »Ich glaube, er hat auch einige Steine gefressen. Ich weiß ganz genau, dass ich gestern mehr Steine gesammelt habe, als hier jetzt noch liegen.«
»Echsen essen Steine, das ist ganz normal«, sagte ich. »Sie brauchen das für ihre Verdauung. Die Steine zerkleinern die Nahrung in ihren Eingeweiden.« Denna sah mich skeptisch an. »Das ist wahr, Hühner machen das übrigens auch.«
Sie schüttelte den Kopf und stocherte weiter in dem aufgewühlten Erdreich herum. »Erst habe ich noch gehofft, du würdest über dieses Abenteuer ein Lied schreiben. Aber je mehr du darüber redest, desto reizloser erscheint mir die Idee: Kühe und Hühner. Wo bleibt denn da dein Gespür für das Dramatische?«
»Man muss hier nichts dramatisieren«, sagte ich. »Diese Schuppe besteht wahrscheinlich zum größten Teil aus Eisen. Wie soll ich das noch dramatischer darstellen, als es ohnehin schon ist?«
Sie hob die Schuppe empor und betrachtete sie aufmerksam. »Das ist nicht dein Ernst.«
Ich grinste. »Das Gestein hier in der Gegend ist sehr eisenhaltig. Der Draccus schluckt kleinere Steine, die dann in seinem Kaumagen zermahlen werden. So geht das Metall allmählich in die Knochen und Schuppen über.« Ich nahm die Schuppe und ging damit zu einem der Grausteine. »Er häutet sich Jahr um Jahr und frisst anschließend die abgelegte Haut. So bleibt das Eisen im Stoffwechsel erhalten. Und nach zweihundert Jahren …« Ich klopfte mit der Schuppe an den Stein. Es klang ein wenig wie eine Glocke und ein wenig wie ein glasiertes Stück Keramik.
Ich gab ihr die Schuppe zurück. »Als es noch keinen Bergbau im heutigen Sinne gab, haben die Menschen sie wahrscheinlich wegen ihres Eisens gejagt. Und auch heute noch würde ein Alchemist für so eine Schuppe oder einen Knochen bestimmt ein hübsches Sümmchen hinlegen. Denn organisches Eisen ist eine unglaubliche Rarität. Ein Alchemist könnte wahrscheinlich alles Mögliche damit anstellen.«
Denna betrachtete die Schuppe in ihrer Hand. »Also gut, du hast mich überzeugt. Du darfst das Lied schreiben.« Dann hatte sie eine Idee. »Gib mal den Lodenstein.«
Ich nahm ihn aus meinem Reisesack und gab ihn ihr. Sie hielt die Schuppe daran, und die beiden klackten aneinander. Denna musste lachen, ging zur Feuerstelle und suchte dort mit Hilfe des Lodensteins nach weiteren Schuppen.
Ich sah zu den Gebirgszügen im Norden hinüber. »Ich bringe ja nur ungern schlechte Neuigkeiten«, sagte ich und deutete auf eine Stelle, an der aus dem Wald Rauch aufstieg. »Aber irgendetwas kohlt da vor sich hin. Die Markierungsstöcke, die ich gestern eingerammt hatte, sind nicht mehr da, aber ich glaube, es ist die Richtung, aus der wir heute Nacht zum ersten Mal das blaue Leuchten gesehen haben.«
Denna fuhr immer noch mit dem Lodenstein über die Überreste der Feuerstelle. »Mit dem, was auf der Mauthen-Farm geschehen ist, kann der Draccus nichts zu tun haben.« Sie zeigte auf das aufgewühlte Erdreich. »Von solchen Verwüstungen war da nichts zu sehen.«
»Ich denke dabei gar nicht an die Farm«, sagte ich. »Ich denke eher daran, dass ein gewisser Schirmherr in spe möglicherweise heute Nacht im Freien schlafen musste und sich dazu ein munteres kleines Lagerfeuer gemacht hat.«
Denna sah mich entsetzt an. »Und der Draccus hat es gesehen.«
»Ich würde mir keine Sorgen machen«, fügte ich schnell hinzu. »Wenn er wirklich so übervorsichtig ist, wie du sagst, ist er wahrscheinlich in Sicherheit.«
»Vor diesem Vieh ist nichts und niemand sicher«, erwiderte sie mit grimmiger Miene und gab mir den Lodenstein zurück. »Komm, das müssen wir uns anschauen.«
Es waren nur ein paar Meilen bis zu der Stelle im Wald, von der der Rauch aufstieg, aber wir kamen nur langsam voran. Wir waren beide erschöpft, hatten Schmerzen und hegten hinsichtlich dessen, was wir dort vorfinden würden, auch keine großen Hoffnungen
Während der Wanderung teilten wir uns meinen letzten Apfel und die Hälfte meines restlichen Fladenbrots. Ich schnitt Birkenrindenstreifen ab, die wir kauten, und nach gut einer Stunde hatte sich meine Beinmuskulatur so weit gelockert, dass mir das Gehen kaum mehr Schmerzen bereitete.
Je näher wir unserem Ziel kamen, desto langsamer ging es voran. Die sanften Hügel wichen mit Geröll bedeckten Hängen und steilen Felsvorsprüngen. Einige Male mussten wir weite Umwege machen, weil wir auf dem geraden Wege nicht mehr weiter kamen, und manchmal sogar umkehren und eine ganz neue Passage suchen.
Hinzu kamen die Ablenkungen und Hindernisse. Wir stießen auf ein Gestrüpp voller reifer Aschbeeren, und das hielt uns fast eine Stunde lang auf. Anschließend kamen wir an einen Bach, tranken dort etwas und wuschen uns. Und auch hier wurden meine Hoffnungen auf eine märchenbuchhafte Tändelei enttäuscht – der Bach war nicht einmal knietief und als Badestelle denkbar ungeeignet.
Erst am frühen Nachmittag kamen wir zu der Stelle, von der der Rauch aufstieg, und fanden dort etwas völlig anderes, als wir erwartet hatten.
Es war ein abgelegenes Tal inmitten der Hänge. Oder besser gesagt: Es war eine riesige Felsterrasse. Auf der einen Seite ragte ein Steilhang aus dunklem Fels empor, und auf der anderen ging es ebenso steil bergab. Denna und ich mussten es zweimal versuchen, bis wir schließlich einen Zugang zu diesem Tal fanden.
Zum Glück war es ein weitgehend windstiller Tag, so dass der Rauch ganz gerade in den klaren blauen Himmel stieg. Wenn er uns nicht Orientierung gegeben hätte, hätten wir die Stelle wahrscheinlich nie gefunden.
Früher einmal musste es ein hübsches Fleckchen im Wald gewesen sein, nun aber sah es hier aus wie nach einem Wirbelsturm. Die Bäume waren abgebrochen, ausgerissen, verkohlt oder zersplittert, der felsige Boden war kreuz und quer von tiefen Furchen durchzogen, so als wäre ein Riesenbauer hier mit seinem Pflug Amok gelaufen.
Noch zwei Tage zuvor hätte ich mich gefragt, wie es zu solchen Verwüstungen überhaupt kommen konnte. Doch nach der vergangenen Nacht …
»Hast du nicht gesagt, sie wären harmlos?«, fragte Denna. »Hier hat er ja gewütet wie ein Berserker.«
Wir bahnten uns einen Weg durch das Trümmerfeld. Der weiße Rauch kam aus einem tiefen Loch, das das Wurzelwerk eines ausgerissenen Ahornbaums hinterlassen hatte. Am Grund des Lochs glommen noch ein paar Kohlen vor sich hin.
Ich trat mit der Stiefelspitze einige Erdklumpen in das Loch. »Die gute Nachricht: Dein Gönner ist nicht hier. Die schlechte …« Ich hielt inne und sog tief Luft ein. »Riechst du das?«
Denna rümpfte die Nase und nickte.
Ich stieg auf den umgestürzten Ahornstamm und sah mich um. Der Wind frischte etwas auf, und nun stank es noch stärker nach Verwesung.
»Du hast doch gesagt, das sind keine Fleischfresser«, sagte Denna und sah sich nervös um.
Ich sprang von dem Baumstamm und ging zu dem Steilhang. Dort lagen die Trümmer einer Blockhütte, aus der buchstäblich Kleinholz gemacht worden war, und hier war der Verwesungsgestank noch stärker.
Denna sah sich nun das ganze Trümmerfeld an. »Das sieht mir aber alles andere als harmlos aus«, sagte sie.
»Wir wissen nicht, ob der Draccus dafür verantwortlich ist«, erwiderte ich. »Wenn die Chandrian hier zugeschlagen haben, könnte es sein, dass der Draccus durch das Feuer angelockt wurde und dann beim Löschen diese Verwüstungen angerichtet hat.«
»Du glaubst, die Chandrian stecken dahinter?«, fragte sie. »Das würde aber überhaupt nicht zu dem passen, was ich über sie gehört habe. Angeblich schlagen sie doch blitzschnell zu und verschwinden sofort wieder. Sie legen nicht mehrere Brände und kommen dann noch einmal wieder, um irgendetwas zu erledigen.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber zwei zerstörte Häuser …« Ich sah mir die Trümmer im Einzelnen an. »Da scheint es mir doch vernünftig, einen Zusammenhang zu sehen.«
Denna machte einen erschrockenen Laut. Ich folgte ihrem Blick und sah unter einigen schweren Holzklötzen einen menschlichen Arm hervorragen.
Als ich näher heranging, schwirrten Fliegen auf, und ich hielt mir, um den Gestank abzuwehren, eine Hand vor den Mund. »Der ist schon seit etwa zwei Spannen tot.« Ich bückte mich und hob einen Gegenstand aus zerschmettertem Holz und Metall auf. »Schau dir das an.«
»Aber nur, wenn du es herbringst.«
Ich brachte es ihr. Es war kaum noch zu erkennen. »Eine Armbrust.«
»Die hat ihm aber nicht viel genützt.«
»Die Frage ist doch, warum er überhaupt eine hatte.« Ich betrachtete den massiven Bogen aus blauem Stahl. »Sie ist nicht für die Jagd gemacht. Sie ist dafür gebaut, auf einem Schlachtfeld gepanzerte Männer zu erschießen. Der Besitz solcher Waffen ist verboten.«
Denna schnaubte. »An diese Gesetze hält sich hier draußen doch kein Mensch. Das weißt du auch.«
Ich zuckte die Achseln. »Trotzdem – es ist ein sehr teures Gerät. Wieso besitzt jemand, der in einer kleinen Blockhütte mit gestampftem Lehmboden wohnt, eine Armbrust für zehn Talente?«
»Vielleicht wusste er von dem Draccus«, sagte Denna und sah sich ängstlich um. »Ich hätte jetzt gegen eine Armbrust auch nichts einzuwenden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ein Draccus ist ein scheues Tiere. Er hält sich von Menschen fern.«
Denna wies mit sarkastischer Miene auf die Trümmer der Hütte.
»Denk doch mal an all die wilden Tiere, die im Wald leben«, sagte ich. »Sie alle meiden den Menschen. Du sagst ja selbst, du hättest noch nie von dem Draccus gehört. Das kommt doch nicht von ungefähr.«
»Vielleicht hat er Tollwut.«
Das machte mich nachdenklich. »Ein beängstigender Gedanke.« Ich sah mich um. »Aber wie um alles in der Welt sollte man das feststellen? Kann so eine Echse überhaupt Tollwut bekommen?«
Denna trat beklommen von einem Fuß auf den anderen. »Willst du dir hier noch irgendwas ansehen? Ich nämlich nicht. Ich will nicht mehr hier sein, wenn dieses Untier wiederkommt.«
»Ich überlege, ob wir diesen Mann begraben sollten.«
Denna schüttelte den Kopf. »So lange bleibe ich nicht hier. Wir können in der Stadt Bescheid sagen, dann kümmern die sich darum. Der Draccus kann jederzeit wiederkommen.«
»Aber warum?«, fragte ich. »Warum kommt er immer wieder hierher?« Ich zeigte auf ein paar Bäume. »Der da ist schon seit einer Spanne hinüber. Dieser hier aber wurde erst vor ein paar Tagen ausgerissen.«
»Was kümmert dich das?«, fragte Denna.
»Die Chandrian«, antwortete ich. »Ich will wissen, warum sie hier waren. Beherrschen sie den Draccus?«
»Ich glaube nicht, dass sie hier waren«, sagte Denna. »Sie waren vielleicht auf der Mauthen-Farm. Aber das hier ist das Werk einer tollwütigen Kuhechse.« Sie sah mich einen Moment lang forschend an. »Ich weiß nicht, wonach du suchst. Aber ich glaube nicht, dass du es hier finden wirst.«
Ich schüttelte den Kopf und sah mich weiter um. »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass das hier etwas mit der Farm zu tun hat.«
»Ich glaube eher, du willst, dass es etwas damit zu tun hat«, sagte sie. »Aber der Mann da ist schon vor einer ganzen Weile gestorben. Das sagst du ja selbst. Und erinnerst du dich an den Türrahmen und den Wasserbottich auf der Farm?« Sie bückte sich und klopfte mit dem Fingerknöchel an ein Trümmerteil der Blockhütte. Es klang alles andere als morsch. »Und schau dir die Armbrust an. Das Metall ist nicht verrostet. Das waren sie nicht.«
Mir sank der Mut. Es war mir klar, dass sie recht hatte. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass ich mich an einen Strohhalm geklammert hatte. Dennoch erschien es mir falsch, aufzugeben, ohne alles versucht zu haben.
Denna nahm meine Hand. »Komm. Gehn wir.« Sie lächelte und zog mich fort. Ihre Hand lag kühl und glatt in meiner. »Es gibt doch interessantere Dinge als …«
Aus dem Wald ertönte ein lautes Krachen und Splittern. Denna ließ meine Hand los und wandte sich in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Nein …«, sagte sie. »Nein, nein, nein …«
Die plötzliche Bedrohung durch den Draccus riss mich aus meinen Gedanken. »Wir sind nicht in Gefahr«, sagte ich und sah mich um. »Er kann nicht klettern. Er ist zu schwer.«
»Worauf sollte er denn auch klettern? Auf einen Baum? Die hat er doch alle schon umgerissen!«
»Den Hang hinauf, meine ich.« Ich zeigte auf den Steilhang, der das kleine Tal auf der einen Seite begrenzte. »Komm!«
Wir liefen zum Fuß des Hangs, stolperten durch die Erdfurchen und sprangen über umgestürzte Bäume. Hinter uns war das donnernde Grunzen zu hören. Ich sah mich kurz um, aber der Draccus war noch irgendwo im Wald.
Am Fuß des Hangs angelangt, suchte ich nach einer Stelle, an der wir beide hinaufklettern konnten. Hinter einem dichten Sumachgestrüpp stießen wir schließlich auf eine Mulde, an der die Erde frisch aufgewühlt war.
»Sieh mal da!« Denna deutete auf eine Lücke im Hang, eine tiefe Felsspalte, etwas über einen halben Meter breit. Sie war gerade breit genug, dass sich ein Mensch hindurchzwängen konnte, für die riesige Echse aber viel zu schmal. Am Hang ringsherum sah man tiefe Klauenspuren, und die aufgewühlte Erde war mit herausgebrochenen Felsbrocken übersät.
Wir zwängten uns in diesen Spalt hinein. Drinnen war es dunkel, etwas Licht kam nur von dem schmalen Himmelsstreifen weit oben. An einigen Stellen musste ich mich seitwärts drehen, um weiter voran zu kommen. Als ich die Hände wieder von der Felswand nahm, waren sie rußgeschwärzt. Weil sich der Draccus nicht hineinzwängen konnte, hatte er offenbar Feuer in diesen Durchgang gespien.
Nach vier oder fünf Metern wurde die Felsspalte breiter. »Da ist eine Leiter«, sagte Denna. »Wir müssen da rauf. Wenn das Ding hier Feuer reinspeit, kommt es über uns wie ein Regenguss in einem Gully.«
Sie stieg hinauf, und ich folgte ihr. Die Leiter war grob gezimmert, aber stabil, und nach gut sieben Metern kamen wir auf ein kleines Plateau. Hier waren wir an drei Seiten von dunklen Felswänden umgeben, hatten aber freie Sicht auf die Ruine der Blockhütte und das verwüstete Waldstück. An einer der Felswände stand eine Holzkiste.
»Siehst du ihn?«, fragte Denna und spähte hinab. »Sag bitte nicht, dass ich mir gerade für nichts und wieder nichts die Knie aufgescheuert habe.«
Ich hörte einen dumpfen Knall, und dann fuhr mir ein heißer Luftzug den Rücken hinauf. Der Draccus grunzte und spie noch einen mächtigen Feuerstoß in die Felsspalte unter uns. Darauf folgte ein hektisches Scharren, das klang, wie wenn Nägel auf einer Schiefertafel kratzen.
Denna sah mich an. »Harmlos?«
»Er ist nicht hinter uns her«, sagte ich. »Du hast doch gesehen, dass er früher schon an dieser Stelle herumgescharrt hat.«
Denna setzte sich auf den Felsboden. »Was ist das hier?«
»Eine Art Ausguck. Von hier aus kann man das ganze Tal überblicken.«
»Das sehe ich selber, dass das ein Ausguck ist«, sagte sie und seufzte. »Ich meine die ganze Anlage.«
Ich öffnete die Holzkiste, die an der Felswand stand, und fand darin eine Wolldecke, einen gefüllten Wasserschlauch, etwas Trockenfleisch und ein Dutzend Armbrustbolzen mit sehr scharfer Spitze.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Vielleicht war der Mann auf der Flucht vor irgendwas.«
Unten war es auf einmal still geworden. Wir spähten in das verwüstete Tal. Der Draccus hatte von der Felswand abgelassen und trottete nun von dannen, und sein riesiger Leib hinterließ eine unregelmäßige Furche im Boden.
»Er bewegt sich viel langsamer als heute Nacht«, sagte ich. »Vielleicht ist er tatsächlich krank.«
»Vielleicht ist er aber auch bloß erschöpft, weil er den ganzen Tag nach uns gesucht hat, um uns zu fressen.« Sie sah zu mir hoch. »Bitte setz dich hin. Du machst mich nervös. Wir gehen jetzt erst mal nirgendwo hin.«
Ich setzte mich, und wir sahen zu, wie der Draccus in die Mitte des Tals trottete. Dort riss er, anscheinend vollkommen mühelos, einen etwa zehn Meter hohen Baum um. Dann begann er zu fressen, das Laub zuerst. Anschließend zerkaute er die armdicken Zweige, mit der gleichen Leichtigkeit, mit der ein Schaf ein Maul voll Gras kaut. Als er den Baumstamm schließlich komplett kahl gefressen hatte, dachte ich, jetzt würde er aufhören. Doch er biss einfach mit seiner riesigen Schnauze am einen Ende hinein und riss ruckartig den dicken Hals herum. Der Stamm zersplitterte, und der Draccus schlang das herausgebissene Stück in einem Satz hinunter.
Denna und ich nutzten die Gelegenheit dazu, selbst etwas zu Mittag zu essen. Wir hatten noch etwas Fladenbrot, ein Stück Wurst und meine restlichen Möhren. Den Proviant aus der Kiste rührte ich lieber nicht an, denn es bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Mann, der hier gelebt hatte, nicht ganz bei Verstand gewesen war.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass niemand hier dieses Vieh je gesehen hat«, sagte Denna.
»Aus der Ferne haben es bestimmt einige gesehen«, sagte ich. »Der Schweinehirte sagte ja, alle wüssten, dass in diesen Wäldern etwas Seltsames vor sich geht. Sie haben wahrscheinlich gedacht, es sei ein Dämon oder irgend so ein Blödsinn.«
Denna sah sich zu mir um, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Und das sagt der Junge, der hierher gekommen ist, um nach den Chandrian zu suchen.«
»Das ist etwas ganz anderes«, widersprach ich energisch. »Ich laufe nicht herum und erzähle irgendwelche Märchengeschichten. Ich bin hier, um die Wahrheit zu erfahren, und will mir das alles mit eigenen Augen ansehen und mich nicht auf Hörensagen verlassen müssen.«
»Ich wollte dich nicht kränken«, sagte Denna beschwichtigend und schaute wieder hinab. »Es ist wirklich ein unglaubliches Tier.«
»Als ich das Buch über ihn gelesen habe, habe ich nicht geglaubt, dass er tatsächlich Feuer speit«, sagte ich. »Das erschien mir dann doch zu fantastisch.«
»Fantastischer als eine Echse, so groß wie ein Pferdefuhrwerk?«
»Das ist ja nur eine Frage der Größe. Aber das mit dem Feuer ist sehr rätselhaft. Wo speichert er es denn? Es brennt ja offensichtlich nicht in seinem Innern.«
»Wird das in dem Buch nicht erklärt?«, fragte Denna.
»Der Autor hat dazu nur einige Mutmaßungen angestellt. Er konnte ja schließlich keinen Draccus fangen und sezieren.«
»Wohl wahr«, sagte Denna und sah zu, wie der Draccus ganz mühelos einen weiteren Baum umriss und aufzufressen begann. »Das müssten schon wirklich tolle Netze oder Käfige sein, die dieses Vieh aufhalten könnten.«
»Der Autor hat aber ein paar ganz interessante Theorien aufgestellt«, sagte ich. »Weißt du, dass Kuhdung ein brennbares Gas abgibt?«
Denna sah mich an und lachte. »Nein. Echt?«
Ich nickte grinsend. »Bauernkinder setzen Kuhfladen gern mit den Funken von Feuersteinen in Brand. Deshalb müssen die Bauern aufpassen, wo sie den Kuhdung lagern. Das Gas könnte sich nämlich sammeln und explodieren.«
»Ich bin ein Mädchen aus der Stadt«, sagte Denna kichernd. »Solche Spiele haben wir nicht gespielt.«
»Da ist dir aber eine Menge Spaß entgangen«, erwiderte ich. »Der Autor vermutet nun, dass der Draccus das Gas in einer Art Blase speichert. Die Frage ist nur, wie er das Gas entzündet. Da hatte der Autor eine kluge Idee und kam auf Arsen. Aus chemischer Sicht ist das ganz plausibel. Wenn Arsen und Kohlengas zusammen kommen, gibt es eine Explosion. So entstehen übrigens auch die Irrlichter in den Sümpfen. Aber ich kann das nicht so recht glauben. Wenn er so viel Arsen im Leib hätte, würde er sich ja selbst vergiften.«
»Hm-hm«, machte Denna, die immer noch den Draccus beobachtete.
»Aber schließlich braucht es ja nur einen winzigen Funken, um das Gas zu entzünden«, sagte ich. »Und es gibt viele Tiere, die über ausreichend galvanische Kraft verfügen, um einen Funken erzeugen zu können. Schlagaale beispielsweise können damit sogar Menschen töten. Und dabei sind sie nicht viel länger als einen Meter.« Ich zeigte auf den Draccus. »Ein so großes Tier könnte auf jeden Fall genügend galvanische Kraft aufbringen, um damit Funken zu erzeugen.«
Ich hatte gehofft, Denna mit meinem Kenntnisreichtum beeindrucken zu können, aber sie achtete viel mehr auf das, was sich dort unten gerade abspielte.
»Du hörst mir gar nicht richtig zu, oder?«
»Ach, entschuldige«, sagte sie und warf mir ein Lächeln zu. »Also ich finde das vollkommen einleuchtend. Er frisst Holz. Holz brennt. Warum sollte er da nicht auch Feuer speien können?«
Während ich noch über eine Antwort darauf nachdachte, zeigte sie in das Tal. »Sieh mal die Bäume da. Sehen die nicht merkwürdig aus?«
»Mal davon abgesehen, dass sie umgestürzt und größtenteils aufgefressen sind? Nein, eigentlich nicht.«
»Aber sieh doch mal, wie sie angeordnet sind. Das ist schwierig zu erkennen, weil das hier so eine Trümmerlandschaft ist, aber die standen doch ursprünglich mal in Reih und Glied. So als ob sie gepflanzt worden wären.«
Jetzt, da sie mich darauf aufmerksam machte, sah es tatsächlich so aus, als hätte ein Großteil der Bäume dort unten, bevor der Draccus gekommen war, in Reih und Glied gestanden. Ein Dutzend Reihen mit jeweils etwa zwanzig Bäumen. Und von den meisten waren nur noch verstümmelte Reste oder Erdlöcher übrig.
»Warum pflanzt jemand mitten im Wald Bäume?«, fragte sie. »Das hier ist ja kein Obstgarten. Oder hast du etwa Obst gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Und diese Bäume sind die Einzigen, die der Draccus gefressen hat«, sagte sie. »Die anderen Bäume stößt er nur um, aber diese Bäume da in der Mitte des Tals haut er um, um sie zu fressen. Was für einen Baum frisst er denn da gerade?«
»Das kann ich von hier aus nicht erkennen«, sagte ich. »Ist das ein Ahorn? Vielleicht ist er eine Naschkatze.«
Wir sahen noch eine Weile zu, und dann erhob sich Denna. »Naja. Hauptsache, er kommt nicht wieder angerannt und speit Feuer. Lass uns doch mal sehen, wohin diese Felsspalte auf der anderen Seite führt. Vielleicht finden wir dort einen Ausgang.«
Wir stiegen die Leiter hinunter und tasteten uns am Grund der gewundenen Felsspalte weiter voran. Nach sieben, acht Metern kamen wir in eine kleine Schlucht, die ringsum von steilen Felswänden umgeben war.
Diese Schlucht bot keinen Ausgang, diente offenbar aber einem bestimmten Zweck. Hier waren alle Pflanzen gerodet worden, so dass nur der nackte Erdboden übrigblieb. Über zwei lang gestreckten Feuerstellen waren auf Ziegelsockeln große Metallpfannen angebracht. Sie ähnelten den Wannen in einer Abdeckerei, in denen Talg geschmolzen wird, waren jedoch rechteckig und flach, wie große Kuchenformen.
»Er ist tatsächlich eine Naschkatze!«, sagte Denna und lachte. »Der Mann hat hier Süßigkeiten aus Ahornsaft hergestellt. Oder Ahornsirup.«
Ich sah es mir genauer an. Überall lagen Eimer herum, wie man sie zum Auffangen von Ahornsaft verwendet. Ich öffnete die Tür eines kleinen, baufälligen Schuppens. Dort lagen weitere Eimer und Holzschaufeln zum Umrühren des Safts und Schaber zum Ausschaben der Pfannen.
Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Es gab in diesen Wäldern jede Menge Ahornbäume. Man musste sie nicht extra pflanzen. Und warum sollte man sich dazu auch einen so abgelegenen Ort aussuchen?
Vielleicht war der Mann ja schlicht und einfach verrückt gewesen. Ich nahm einen Schaber und sah ihn mir an. Die Kante war schwarz, so als hätte man Teer damit abgeschabt …
»Uuuh!«, sagte Denna hinter mir. »Das ist aber bitter. Ich glaube, das ist angebrannt.«
Ich blickte mich um und sah Denna an einer der Feuerstellen stehen. Sie hatte sich aus einer der Pfannen einen klebrigen Klumpen genommen und davon abgebissen. Der Stoff war schwarz – nicht dunkel bernsteinfarben wie Ahornsirup.
Mit einem Mal wurde mir klar, was das hier war. »Nicht!«
Sie sah mich verdutzt an. »So schlecht ist es nun auch wieder nicht«, sagte sie, immer noch die klebrige Masse im Mund. »Es schmeckt zwar seltsam, aber nicht schlecht.«
Ich lief zu ihr hin und schlug ihr das Zeug aus der Hand. »Spuck das aus! Sofort! Das ist giftig!«
Sie sah mich entsetzt an, machte den Mund auf und ließ den dunklen Klumpen zu Boden fallen. Dann spie sie aus, und ihre Spucke war schwarz und dickflüssig. Ich drückte ihr meine Wasserflasche in die Hand. »Spül dir den Mund aus«, sagte ich. »Ausspülen und ausspucken.«
Sie nahm die Flasche, und erst da merkte ich, dass sie leer war. Wir hatten das restliche Wasser zum Mittagessen getrunken.
Ich lief los und zwängte mich durch den Felsspalt. Dann flitzte ich die Leiter hinauf, schnappte mir den Wasserschlauch und rannte damit zurück in die kleine Schlucht.
Denna saß auf dem Boden. Sie war bleich und blickte ängstlich drein. Ich drückte ihr den Wasserschlauch in die Hände, und sie spülte sich hektisch den Mund aus und spuckte das Wasser wieder aus.
Schnell griff ich in die Feuerstelle und zog unter der Asche eine Hand voll Kohlestücke hervor, schüttelte die Asche ab und hielt sie Denna hin. »Iss das«, sagte ich.
Sie sah mich verständnislos an.
»Los, mach schon! Wenn du das jetzt nicht kaust und runterschluckst, schlage ich dich bewusstlos und trichtere es dir ein!« Ich steckte mir selbst ein paar Kohlestücke in den Mund. »Siehst du? Kein Problem. Iss das jetzt«, mein Tonfall war nun eher flehentlich. »Denna, bitte vertrau mir.«
Sie nahm einige Kohlestücke und steckte sie sich in den Mund. Kreidebleich und mit Tränen in den Augen zerkaute sie die Kohle, spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter und verzog das Gesicht.
»Hier wird Ophalum geerntet, verdammt noch mal«, sagte ich. »Was bin ich für ein Idiot, dass mir das nicht eher aufgefallen ist.«
Denna wollte etwas sagen, aber ich ließ sie nicht. »Nicht sprechen. Weiter essen. So viel, wie du nur runterkriegst.«
Sie nickte ernst, die Augen weit aufgerissen. Sie kaute, würgte ein bisschen und spülte dann auch den nächsten Mund voll Kohle mit einem Schluck Wasser hinunter. Das wiederholte sie noch zehn Mal in schneller Folge und spülte sich dann zum Schluss den Mund aus.
»Was ist Ophalum?«, fragte sie leise.
»Ein Rauschgift. Das hier sind Dennerbäume. Du hast gerade einen ganzen Mund voll Dennerharz gegessen.« Ich setzte mich zu ihr. Mir zitterten die Hände, und ich legte sie flach auf meine Oberschenkel, um es zu verbergen.
Nun sagte sie erst einmal gar nichts mehr. Dennerharz war allgemein bekannt. In Tarbean wurden täglich die Leichen der Harzsüchtigen abtransportiert, die in einer Gasse oder einem Hauseingang in der Hafengegend an einer Überdosis gestorben waren.
»Wie viel hast du geschluckt?«, fragte ich.
»Ich habe es nur gelutscht, wie Karamell.« Sie wurde wieder bleich. »Mir klebt immer noch etwas davon an einem Zahn.«
Ich gab ihr den Wasserschlauch. »Spül es aus.« Sie spülte sich einige Male mit dem Wasser den Mund aus, und ich versuchte zu schätzen, wie viel sie von dem Rauschgift wohl abbekommen hatte. Aber da gab es zu viele Variablen, über die ich nichts wusste: Wie viel sie geschluckt hatte, wie hochprozentig das Harz war, ob man irgendwelche Verfahren eingesetzt hatte, es zu filtern oder zu reinigen.
Sie tastete mit der Zunge ihre Zähne ab. »So, jetzt bin ich sauber.«
Ich lachte gezwungen. »Du bist alles andere als sauber. Dein Mund ist pechschwarz. Du siehst aus wie ein kleines Mädchen, das im Kohlenverschlag gespielt hat.«
»Guck doch mal dich selber an«, erwiderte sie. »Du siehst aus wie ein Schornsteinfeger.« Sie berührte meine nackte Schulter. Ich musste mir an den Felsen das Hemd aufgerissen haben, als ich losgerannt war, um den Wasserschlauch zu holen. Sie sah mich mit einem matten Lächeln an, aber ihre Augen waren immer noch verängstigt. »Und wieso habe ich jetzt den Bauch voller Kohle?«
»Kohle ist wie ein chemischer Schwamm«, erklärte ich. »Sie saugt Giftstoffe auf.«
Das munterte sie ein wenig auf. »Vollständig?«
Im ersten Moment wollte ich lügen, tat es dann aber doch nicht. »Größtenteils. Du hast die Kohle schnell geschluckt. Sie wird viel von dem Gift aufsaugen, das du bereits im Magen hattest.«
»Wie viel?«
»Etwa sechzig Prozent«, sagte ich. »Hoffentlich mehr. Wie fühlst du dich?«
»Ich habe Angst«, sagte sie. »Und ich bin ein bisschen zitterig. Aber sonst bemerke ich keine Wirkung.« Sie nahm den klebrigen Harzklumpen, den ich ihr aus der Hand geschlagen hatte, schleuderte ihn fort und wischte sich anschließend ängstlich die Finger an der Hose ab. »Wie lange wird es ungefähr dauern, bis die Wirkung einsetzt?«
»Ich weiß nicht, wie rein das Harz war«, sagte ich. »Wenn es noch unverarbeitet war, dauert es länger, bis der Körper es aufnimmt. Und das wäre gut, da sich dann die Wirkung über einen längeren Zeitraum verteilt.«
Ich ertastete den Puls an ihrer Halsschlagader. Er raste, was aber gar nichts zu sagen hatte, denn meiner raste schließlich auch. »Schau mal nach oben.« Ich hob eine Hand und beobachtete dabei ihre Augen. Die Pupillen reagierten mit Verzögerung auf das Licht. Unter dem Vorwand, ein Augenlid anzuheben, legte ich ihr eine Hand auf den Kopf und drückte mit einem Finger auf den Bluterguss an ihrer Schläfe. Sie zuckte dabei mit keiner Wimper, fühlte also offenbar keinen Schmerz.
»Ich dachte, ich hätte mir das nur eingebildet«, sagte Denna. »Aber deine Augen wechseln tatsächlich die Farbe. Normalerweise sind sie leuchtend grün, mit einem goldenen Ring um die Pupille …«
»Meine Augen habe ich von meiner Mutter«, sagte ich.
»Aber ich habe es beobachtet. Als du gestern den Pumpenschwengel abgebrochen hattest, wurden sie trübe – sumpfgrün. Und als der Schweinehirte diese Bemerkung über die Ruh fallen ließ, wurden sie für einen Moment ganz dunkel. Ich dachte, das wäre nur das Licht, aber jetzt sehe ich, dass das nicht stimmt.«
»Es wundert mich, dass dir das auffällt«, sagte ich. »Der einzige Mensch, der mich bisher darauf angesprochen hat, war ein alter Lehrer von mir. Und der war Arkanist. Dem fielen solche Dinge schon von Berufs wegen auf.«
»Mir fallen auch privat eine Menge Dinge an dir auf«, erwiderte sie und legte den Kopf ein wenig auf die Seite. »Die Leute lassen sich wahrscheinlich von deinem Haar ablenken. Es ist so leuchtend … Und dein Gesicht ist so ausdrucksvoll. Und du hast es immer unter Kontrolle, sogar wie sich deine Augen bewegen. Aber die Augenfarbe beherrschst du nicht.« Sie lächelte matt. »Jetzt sind sie ganz blass. Frostgrün. Du musst schreckliche Angst haben.«
»Das ist wohl eher die gute alte sinnliche Begierde«, entgegnete ich in meinem rauhsten Tonfall. »Es kommt nicht oft vor, dass ein schönes Mädchen mich so nah an sich heranlässt.«
»Du erzählst mir immer die allerschönsten Lügen«, sagte sie und sah auf ihre Hände. »Werde ich jetzt sterben?«
»Nein«, sagte ich mit Bestimmtheit. »Auf keinen Fall.«
»Könntest …« Sie sah mich wieder an und lächelte. Sie hatte Tränen in den Augen. »Könntest du das bitte laut aussprechen?«
»Du wirst nicht sterben«, sagte ich und erhob mich. »Komm, wir schauen mal, ob unser Echsenfreund schon weg ist.«
Es ging mir darum, sie in Bewegung zu halten und von sich abzulenken, und so tranken wir beide noch einen Schluck Wasser und stiegen dann wieder auf den Ausguck. Der Draccus lag in der Sonne und schlief.
Ich nutzte die Gelegenheit und stopfte die Wolldecke und das Trockenfleisch in meinen Reisesack. »Es ist eigentlich nicht meine Art, Toten etwas abzunehmen«, sagte ich. »Aber unter diesen Umständen …«
»Wenigstens wissen wir jetzt, warum er sich hier am Ende der Welt versteckt hat, mit einer Armbrust, einem Ausguck und so weiter«, sagte Denna. »Eines der kleineren Rätsel wäre also gelöst.«
Ich wollte meinen Reisesack schon wieder zuschnüren, nahm dann aber doch noch auch die Armbrustbolzen mit.
»Was willst du denn damit?«, fragte sie.
»Die sind einiges wert«, erwiderte ich. »Und ich stehe bei einer gefährlichen Person in der Kreide. Ich kann jeden Penny gut gebrauchen …« Da kam mir eine Idee.
Denna sah mich an, und es war klar, dass sie zur gleichen Schlussfolgerung gelangt war. »Weißt du, was für einen Marktwert dieses Harz hätte?«, fragte sie.
»Nein, nicht so recht«, sagte ich und überlegte: Dreißig Pfannen, jeweils mit einer Harzschicht von der Größe eines Esstellers. »Das ist viel wert. Richtig viel.«
Denna trat von einem Fuß auf den anderen. »Kvothe, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich kannte Mädchen, die von diesem Zeug abhängig geworden sind. Andererseits brauche ich Geld.« Sie lachte bitter. »Ich besitze im Moment nur die Kleider, die ich hier am Leibe trage. Aber ich weiß nicht, ob ich so dringend Geld brauche.«
»Ich dachte an Apotheken«, erwiderte ich. »Die stellen daraus Arzneimittel her. Man kann ein sehr wirksames Schmerzmittel daraus gewinnen. Das würde zwar längst nicht so viel Geld bringen, wie wenn man damit zu gewissen anderen Leuten ginge, aber besser der Spatz in der Hand …«
Denna strahlte. »Ich liebe Spatzen! Erst recht, seit mein mysteriöser Möchtegern-Schirmherr wie vom Erdboden verschluckt ist.«
Wir gingen zurück in die Schlucht. Als ich nun aus der Felsspalte heraustrat, sah ich die Pfannen in einem anderen Licht. Jetzt entsprach jede von ihnen einer schweren Münze in meiner Tasche. Die Studiengebühren des nächsten Trimesters, neue Kleider, keine Schulden mehr bei Devi …
Ich sah, dass auch Denna die Pfannen mit einer gewissen Faszination betrachtete, wenn auch mit etwas glasigerem Blick als ich. »Davon könnte ich ein Jahr lang gut leben«, sagte sie. »Und wäre niemandem etwas schuldig.«
Ich ging zu dem Werkzeugschuppen und holte uns zwei Schaber. Nach wenigen Minuten hatten wir den Inhalt der einzelnen Pfannen zu einem schwarzen, klebrigen Klumpen von der Größe einer Honigmelone zusammengeschabt.
Denna zitterte ein wenig. Sie sah mich an und lächelte. Ihre Wangen waren gerötet. »Mit einem Mal fühle ich mich richtig gut.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Richtig, richtig gut. Und ich glaube, das ist nicht allein der Gedanke an das viele Geld.«
»Das ist das Harz«, sagte ich. »Es ist ein gutes Zeichen, dass es so lange gedauert hat, bis die Wirkung einsetzt. Wenn es schneller gegangen wäre, hätte ich mir Sorgen gemacht.« Ich sah sie ernst an. »Du musst mir sofort Bescheid sagen, wenn du irgendwelche Beklemmungen in der Brust spürst oder Schwierigkeiten hast zu atmen. So lange diese Symptome nicht auftreten, ist es nicht weiter schlimm.«
Denna nickte und atmete einmal tief durch. »O lieber Engel Ordal, geht’s mir gut.« Sie setzte mir gegenüber eine besorgte Miene auf, konnte ihr Grinsen aber einfach nicht unterbrechen. »Werde ich jetzt abhängig von dem Zeug?«
Ich schüttelte den Kopf, und sie seufzte erleichtert. »Weißt du, was das Verrückteste daran ist? Ich habe Angst, abhängig zu werden, aber gleichzeitig kümmert es mich nicht die Bohne, dass ich Angst habe. So habe ich mich noch nie gefühlt. Es ist wirklich kein Wunder, dass unser großer schuppiger Freund hier Stammgast ist.«
»Grundgütiger Tehlu«, sagte ich. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Das ist der Grund, weshalb er unbedingt hier herein will. Er wittert das Harz. Seit zwei Spannen frisst er die Dennerbäume, drei oder vier am Tag.«
»Der größte Junkie aller Zeiten.« Denna lachte. Doch dann wich ihr Lachen einer Miene des Entsetzens. »Wie viele Bäume sind denn noch übrig?«
»Zwei oder drei«, sagte ich. »Vielleicht hat er auch noch einen gefressen, seit wir wieder hier unten sind.«
»Hast du schon mal so einen Dennersüchtigen gesehen, wenn ihn der Harzhunger packt und er nichts mehr hat?«, fragte sie. »Die werden schier wahnsinnig.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich und dachte an das Mädchen, das ich in Tarbean nackt im Schnee hatte tanzen sehen.
»Was wird er tun, wenn er alle Bäume aufgefressen hat?«
»Er wird Nachschub suchen. Und er wird in Verzweiflung geraten. Und er weiß, dass an dem Ort, an dem er die Bäume gefunden hat, ein kleines Haus stand, das nach Menschen roch … Wir werden ihn töten müssen.«
»Ihn töten?« Sie lachte und hielt sich dann wieder mit beiden Händen den Mund zu. »Mit weiter nichts als meiner schönen Singstimme und deinem Draufgängertum?« Nun bekam sie einen Kicheranfall und hielt sich wieder die Hände vor den Mund. »Entschuldige bitte, Kvothe. Wie lange werde ich denn noch so sein?«
»Das weiß ich nicht. Ophalum löst einen euphorischen Zustand aus …«
»Das kann man wohl sagen …«
»… gefolgt von einer manischen Phase und, wenn die Dosis hoch genug war, einem Delirium. Anschließend große Erschöpfung.«
»Vielleicht schlafe ich dann wenigstens mal eine Nacht durch«, sagte sie. »Du kannst dir doch nicht im Ernst vornehmen, dieses Ungeheuer zu töten. Womit willst du es denn angreifen? Mit einem angespitzten Stock?«
»Ich kann nicht zulassen, dass er frei herumläuft. Nach Trebon sind es nur fünf Meilen. Und in der näheren Umgebung gibt es etliche Bauernhöfe. Stell dir doch bloß mal vor, was für Schäden er da anrichten könnte.«
»Aber wie? Wie tötet man so ein Vieh?«
Ich ging zu dem Werkzeugschuppen. »Wenn wir Glück haben, hatte der Mann noch eine zweite Armbrust.« Ich wühlte im Innern herum und warf, was ich nicht gebrauchen konnte, zur Tür hinaus. Holzschaufeln, Eimer, Schaber, einen Spaten, noch mehr Eimer, ein Fass …
Das Fass war etwa so groß wie ein kleines Bierfass. Ich trug es nach draußen und hebelte den Deckel auf. Darin fand sich in einem imprägnierten Sack eine beträchtliche Menge Dennerharz, mindestens das Vierfache dessen, was Denna und ich zusammengeschabt hatten.
Ich hob den Sack heraus und hielt ihn für Denna auf. Sie spähte hinein, es verschlug ihr den Atem, und sie hüpfte auf und ab. »Jetzt kann ich mir ein Pony kaufen!«, sagte sie und lachte.
»Ein Pony? Ich weiß ja nicht …«, sagte ich und stellte im Kopf einige Berechnungen an. »Aber bevor wir das Geld unter uns aufteilen, finde ich, sollten wir dir hiervon eine schöne kleine Harfe kaufen. Statt so einer blöden Leier.«
»Ja!«, sagte Denna und schlang voller Begeisterung die Arme um mich. »Und für dich kaufen wir …« Sie sah mich neugierig an, ihr geschwärztes Gesicht nur eine Handbreit von meinem entfernt. »Was wünschst du dir?«
Noch bevor ich darauf antworten konnte, brüllte der Draccus.