Kapitel 8

Diebe, Ketzer, Huren

Wenn diese Geschichte so etwas wie das Buch meiner Taten werden soll, müssen wir ganz am Anfang beginnen. Beim Kern dessen, was ich bin. Dazu müsst Ihr bedenken, dass ich, bevor ich sonst etwas wurde, ein Edema Ruh war.

Entgegen der landläufigen Ansicht gehören nicht alle fahrenden Künstler zu den Ruh. Meine Truppe, das war keine armselige Pantomimenschar, die an Straßenkreuzungen für ein paar Pennys Schabernack trieb. Wir sangen nicht für ein Abendessen. Wir traten bei Hofe auf, wir unterstanden der Schirmherrschaft Lord Greyfallows. Unsere Ankunft war in den meisten Ortschaften ein größeres Ereignis als das Wintersonnenwendfest und die Solinadenspiele zusammen. Unsere Truppe fuhr meist mindestens auf acht Wagen und bestand aus über zwei Dutzend Künstlern – Schauspieler und Akrobaten, Musiker, Gaukler, Jongleure und Narren –: Meine Familie.

Mein Vater war ein besserer Schauspieler und Musiker als Ihr je einen gesehen habt. Und meine Mutter war überaus sprachbegabt. Beide waren sie schöne Menschen, mit dunklem Haar und stets zu einem Lächeln aufgelegt. Sie waren durch und durch Ruh, und das sagt wirklich alles.

Außer vielleicht, dass meine Mutter eine Edelfrau war, bevor sie zu unserer Truppe kam. Sie hat mir erzählt, mein Vater habe sie aus einer ›entsetzlich langweiligen Hölle‹ voll süßlicher Musik und noch süßlicherer Worte fortgelockt. Ich kann nur annehmen, dass sie den Ort Dreyscheid damit meinte, wo wir einmal Verwandte besuchten, als ich noch ganz klein war. Aber auch nur einmal.

Meine Eltern waren nie richtig verheiratet, womit ich sagen will, dass sie sich nie die Mühe machten, sich ihr Verhältnis von irgendeiner Kirche verbriefen zu lassen. Ich schäme mich dessen nicht. Sie empfanden sich als Ehepaar und sahen keinen Sinn darin, das irgendeinem Staat oder Gott gegenüber zu bekunden. Ich habe Achtung davor. Und wirklich erschienen sie mir zufriedener und treuer als viele der Form nach verheiratete Paare, denen ich seither begegnet bin.

Unser Schirmherr war Baron Greyfallow, und sein Name öffnete viele Türen, die den Edema Ruh sonst verschlossen geblieben wären. Dafür trugen wir seine Farben, grün und grau, und mehrten, wohin wir kamen, sein Ansehen. Zwei Spannen alljährlich weilten wir auf seinem Gut und unterhielten ihn und seinen Hof.

Es war eine glückliche Kindheit, inmitten einer nimmer endenden Kirmes aufzuwachsen. Auf den langen Fahrten von Ort zu Ort trug mir mein Vater aus den großen Monologen vor. Er rezitierte meist aus dem Gedächtnis, und seine Stimme donnerte eine Viertelmeile weit die Straße hinab. Ich las mit und sprach die Nebenrollen. Bei besonders schönen Stellen ermunterte mich mein Vater, mich selbst daran zu versuchen, und so lernte ich die Schönheit der Sprache lieben.

Meine Mutter und ich ersannen gemeinsam Lieder. Dann wieder spielten meine Eltern romantische Dialoge nach, und ich folgte dem Text in einem Buch. Alles erschien mir damals wie ein Spiel. Ich bemerkte kaum, wie geschickt ich unterrichtet wurde.

Ich war ein neugieriges Kind, immer schnell mit Fragen bei der Hand und ausgesprochen lernbegierig. Und da Akrobaten und Schauspieler meine Lehrer waren, ist es nicht verwunderlich, dass mir, im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern, vor dem Lernen nie graute.

Die Straßen waren damals sicherer, aber dennoch schlossen sich Leute sicherheitshalber unserer Truppe an. Und auch sie trugen zu meiner Erziehung und Bildung bei. Von einem reisenden Anwalt lernte ich alles Mögliche über das Recht des Commonwealth. Er war entweder zu betrunken oder zu aufgeblasen, um zu bemerken, dass er da einem Achtjährigen Vorträge hielt. Und ein Jäger namens Laclith, der fast eine ganze Saison lang mit uns reiste, brachte mir die Holzschnitzerei bei.

So manches über die moralische Verkommenheit am königlichen Hofe zu Modeg erfuhr ich von … einer Kurtisane. Wie mein Vater zu sagen pflegte: ›Nenne das Kind beim Namen, Huren aber nenne Damen. Sie haben es schwer genug im Leben, und Höflichkeit kann nie schaden.‹

Hetera duftete immer ein wenig nach Zimt, und mit neun Jahren faszinierte sie mich, ohne dass ich genau hätte sagen können, warum. Sie lehrte mich, im Privaten nichts zu tun, von dem ich nicht wollte, dass in der Öffentlichkeit darüber gesprochen wurde, und warnte mich davor, im Schlaf zu sprechen.

Und dann war da Abenthy, mein erster richtiger Lehrer. Er brachte mir mehr bei als all die anderen zusammen. Ohne ihn wäre ich niemals der geworden, der ich heute bin.

Ich bitte Euch: Nehmt es ihm nicht übel. Er meinte es nur gut.

»Ihr müsst weiterziehen«, sagte der Bürgermeister. »Schlagt euer Lager außerhalb der Stadt auf, dann wird man euch in Ruhe lassen, solange ihr keinen Streit anfangt und nichts mitnehmt, was euch nicht gehört.« Er sah meinen Vater vielsagend an. »Und morgen zieht ihr dann weiter eurer Wege. Keine Auftritte. Das bringt nur Scherereien.«

»Wir haben aber eine Genehmigung«, sagte mein Vater und zog ein zusammengefaltetes Pergament aus der Innentasche seiner Jacke. »Wir haben den Auftrag, hier aufzutreten.«

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf und machte keine Anstalten, das Schreiben unseres Schirmherrn in Augenschein zu nehmen. »Die Leute geraten jedesmal außer Rand und Band«, sagte er mit Entschiedenheit. »Beim letzten Mal ist es während der Aufführung zu einem fürchterlichen Krawall gekommen. Die Leute trinken zuviel und sind viel zu aufgekratzt. Sie haben im Wirtshaus die Türen herausgerissen und die Tische zerschlagen. Das Wirtshaus gehört der Stadt. Die Stadt muss für die Reparaturen aufkommen.«

Mittlerweile erregten unsere Wagen Aufmerksamkeit. Trip jonglierte ein wenig. Marion und seine Frau führten ein improvisiertes Marionettentheater auf. Ich saß hinten in unserem Wagen und sah meinem Vater zu.

»Wir wollen euch und euern Schirmherrn ganz gewiss nicht kränken«, sagte der Bürgermeister. »Aber einen weiteren derartigen Abend kann sich die Stadt schlicht und einfach nicht leisten. Als Geste des guten Willens bin ich bereit, jedem von euch eine Kupfermünze zu zahlen, sagen wir zwanzig Penny, einfach nur, damit Ihr weiterzieht und uns hier keine Schwierigkeiten macht.«

Nun muss man dazu wissen, dass zwanzig Penny für eine dahergelaufene Lumpentruppe, die von der Hand in den Mund lebt, eine schöne Summe gewesen wäre. Für uns aber war das schlicht eine Unverschämtheit. Er hätte uns vierzig bieten müssen, damit wir an diesem Abend aufgetreten wären, dazu die freie Verwendung des Wirtshauses, gute Verpflegung und Herbergszimmer für die Nacht. Letzteres hätten wir dankend abgelehnt, denn die Betten dort waren zweifellos voller Flöhe, und die in unseren Wagen waren das nicht.

Wenn mein Vater verblüfft oder beleidigt war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Einpacken!«, rief er, hinter sich gewandt.

Trip steckte fix seine Jongliersteine ein. Einige Dutzend Bürger der Stadt machten ihrer Enttäuschung Luft, als die Marionetten mitten im Spiel innehielten und wieder weggepackt wurden. Der Bürgermeister wirkte erleichtert, holte seinen Geldbeutel hervor und nahm zwei Silberpennys heraus.

»Ich werde dem Baron von Eurer Großzügigkeit berichten«, sagte mein Vater mit Bedacht, als ihm der Bürgermeister die Münzen in die Hand legte.

Der Bürgermeister erstarrte. »Dem Baron?«

»Baron Greyfallow.« Mein Vater hielt inne und wartete ab, ob dem Gesicht des Bürgermeisters ein Funke der Erkenntnis anzusehen war. »Dem Herrn über die östlichen Marschen, Hudumbran-by-Thiren und die Wydeconte Hills.« Mein Vater blickte zum Horizont. »Wir sind hier doch noch in den Wydeconte Hills, oder etwa nicht?«

»Nun, ja«, sagte der Bürgermeister. »Aber Squire Semelan …«

»Oh, wir befinden uns hier auf Semelans Lehen?«, sagte mein Vater und sah sich um, als finde er sich jetzt erst wieder zurecht. »Ein schlanker Herr mit einem schmucken kleinen Bart?« Er rieb sich das Kinn. Der Bürgermeister nickte wie benommen. »Ein reizender Mensch, und er hat eine sehr schöne Singstimme. Wir haben ihn kennengelernt, als wir vergangenen Mittwinter dem Baron aufspielten.«

»Selbstverständlich«, sagte der Bürgermeister und machte eine bedeutsame Pause. »Dürfte ich Euer Schreiben sehen?«

Ich sah zu, wie der Bürgermeister es las. Es dauerte eine ganze Weile, denn mein Vater hatte sich nicht die Mühe gemacht, sämtliche Titel des Barons zu nennen, der außerdem auch noch Viscount von Montrone und Lord von Trelliston war. Letztlich sah es so aus: Es stimmte zwar, dass dieses Städtchen und das Land ringsumher Squire Semelan unterstanden, doch schuldete dieser Greyfallow Lehenstreue. Konkreter gesagt: Greyfallow war der Kapitän dieses Schiffs, und Semelan schrubbte die Planken und salutierte ihm.

Der Bürgermeister faltete das Pergament wieder zusammen und gab es meinem Vater zurück. »Ich verstehe.«

Das war alles. Ich weiß noch, wie verblüfft ich war, als sich der Bürgermeister weder entschuldigte noch meinem Vater mehr Geld anbot.

Mein Vater schwieg ebenfalls einen Moment lang und fuhr dann fort: »Ihr habt in dieser Stadt das Sagen, Sir. Aber wir treten so oder so auf. Entweder hier oder gleich hinter der Stadtgrenze.«

»Das Wirtshaus könnt Ihr nicht benutzen«, sagte der Bürgermeister mit Bestimmtheit. »Ich lasse nicht zu, dass es schon wieder demoliert wird.«

»Wir könnten hier an Ort und Stelle auftreten«, sagte mein Vater und wies auf den Marktplatz. »Hier ist genug Platz, und dann bliebe jedermann in der Stadt.«

Der Bürgermeister zögerte, und ich konnte es kaum glauben. Wir traten manchmal im Freien auf, wenn an einem Ort die Gebäude nicht groß genug waren. Zwei unserer Wagen waren so gebaut, dass sie in einem solchen Falle als Bühne dienen konnten. Doch in den elf Jahren, die mein Gedächtnis zurückreichte, konnte ich die Gelegenheiten an zwei Händen abzählen, bei denen wir gezwungen gewesen waren, im Freien aufzutreten. Und außerhalb der Stadtgrenzen hatten wir noch nie gespielt.

Doch das blieb uns erspart. Der Bürgermeister nickte und winkte meinen Vater zu sich. Ich schlüpfte hinten aus dem Wagen, schlich mich näher heran und bekam noch den Schluss dessen mit, was er sagte: »– gottesfürchtige Leute hier. Nichts Vulgäres oder Ketzerisches. Die letzte Truppe, die hier durchkam, hat uns nichts als Scherereien bereitet: Zwei Schlägereien, anschließend fehlte Wäsche, und eine Tochter der Familie Branston befand sich plötzlich in anderen Umständen.«

Ich war empört. Ich wartete darauf, dass mein Vater den Bürgermeister mit scharfer Zunge zurechtwies und ihm den Unterschied zwischen irgendwelchem fahrenden Volk und den Edema Ruh erklärte. Wir waren keine Diebe. Und niemals würden uns die Dinge so aus dem Ruder laufen, dass eine Horde Betrunkener den Saal, in dem wir auftraten, demolieren konnte.

Doch mein Vater tat nichts dergleichen. Er nickte nur und ging zurück zu unserem Wagen. Er gab Trip ein Zeichen, und der begann wieder zu jonglieren. Die Marionetten kamen wieder aus dem Kasten.

Als er um den Wagen kam, sah er mich dort stehen, halb hinter den Pferden versteckt. »So wie du guckst, hast du das bestimmt mitangehört«, sagte er mit schmerzlichem Lächeln. »Lass gut sein, mein Junge. Ihm gebührt Lob für seine Aufrichtigkeit, wenn auch nicht für seine Manieren. Er spricht nur aus, was andere Leute im Grunde ihres Herzens denken. Was glaubst du denn, warum ich euch immer nur zu zweit losgehen lasse, wenn wir in größeren Städten auftreten?«

Mir war klar, dass er recht hatte. Aber dennoch war das für einen kleinen Jungen eine bittere Pille. »Zwanzig Penny«, sagte ich bissig. »Als würde er uns ein Almosen geben.«

Das war das Schwierigste, wenn man als Edema Ruh aufwuchs. Wir waren überall Fremde. Viele hielten uns für Landstreicher und Bettler, andere für nichts Besseres als Diebe, Ketzer, Huren. Es ist nicht angenehm, zu Unrecht beschuldigt zu werden, aber schlimmer noch ist es, wenn die Leute, die auf einen herabblicken, irgendwelche Bauerntölpel sind, die nie im Leben ein Buch gelesen und sich nie weiter als zwanzig Meilen von ihrem Geburtsort entfernt haben.

Mein Vater lachte und zauste mir das Haar. »Hab Mitleid mit ihm, mein Junge. Wir ziehen morgen weiter, er aber muss sich noch bis ans Ende seiner Tage selbst ertragen.«

»Er ist ein ignoranter Schwafler«, sagte ich bitter.

Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter und ließ mich so wissen, dass ich genug gesagt hatte. »Das kommt dann wohl davon, wenn man Atur zu nahe kommt. Morgen ziehen wir gen Süden: Grünere Weiden, nettere Leute, schönere Frauen.« Er hielt sich in Richtung Wagen eine Hand ans Ohr und stupste mich mit dem Ellenbogen.

»Ich höre jedes Wort«, rief meine Mutter von drinnen. Mein Vater grinste und zwinkerte mir zu.

»Welches Stück werden wir denn aufführen?«, fragte ich. »Bloß nichts Vulgäres. Das sind gottesfürchtige Leute hier.«

Er sah mich an. »Welches würdest du wählen?«

Ich überlegte einen Moment lang. »Ich würde etwas aus dem Brightfield-Zyklus aufführen. Das Schmieden des Weges oder so.«

Mein Vater verzog das Gesicht. »Kein sehr gutes Stück.«

Ich zuckte die Achseln. »Das merken die doch gar nicht. Und außerdem geht es darin ständig um Tehlu, und also kann keiner behaupten, es wäre vulgär.« Ich sah zum Himmel. »Ich hoffe nur, es fängt nicht mittendrin an zu regnen.«

Mein Vater sah ebenfalls zu den Wolken empor. »Das wird es. Aber es gibt Schlimmeres, als im Regen zu spielen.«

»Etwa im Regen zu spielen, nachdem man wie Dreck behandelt wurde?«, fragte ich.

Der Bürgermeister eilte herbei. Er hatte Schweiß auf der Stirn und schnaufte ein wenig, so als wäre er gelaufen. »Ich habe mit einigen Ratsmitgliedern gesprochen, und wir haben beschlossen, dass ihr gern das Wirtshaus nutzen dürft, wenn ihr mögt.«

Die Körpersprache meines Vaters war perfekt. Es war offenkundig, dass er zwar gekränkt war, aber viel zu höflich, um darauf zu sprechen zu kommen. »Ich will Euch aber wirklich keine …«

»Nein, nein, das macht gar keine Umstände. Ja, ich bestehe darauf.«

»Nun gut, wenn Ihr darauf besteht.«

Der Bürgermeister lächelte und eilte von dannen.

»Na, das ist doch schon besser«, seufzte mein Vater. »Noch müssen wir den Gürtel nicht enger schnallen.«

»Einen Halbpenny pro Kopf. Ja, genau. Leute ohne Kopf haben freien Eintritt. Vielen Dank, Sir.«

Trip machte die Kasse und achtete darauf, dass wir nur zahlende Zuschauer hatten. »Einen Halbpenny pro Kopf. Aber wenn ich mir die glühenden Wangen Eurer Gemahlin so ansehe, sollte ich Euch eigentlich anderthalb Köpfe berechnen. Nicht dass mich das irgendwas anginge.«

Trip war der Schlagfertigste der ganzen Truppe und daher genau der Richtige, wenn es zu verhindern galt, dass sich jemand durch Beschwatzen oder Einschüchterung freien Zutritt verschaffte. Wenn Trip sein grün-graues Narrenkleid trug, konnte er sagen, was er wollte, und kam ungestraft davon.

»Hallo, Muttchen, der Kleine kommt gratis rein, aber wenn er anfängt zu schreien, gibst du ihm besser flugs das Tittchen oder gehst mit ihm an die frische Luft.« Trip ließ seinem Mundwerk freien Lauf. »Ja genau, einen Halbpenny. Ja, Sir, auch ein leerer Kopf zahlt den vollen Preis.«

Es bereitete mir zwar immer großes Vergnügen, Trip bei der Arbeit zuzusehen, aber in diesem Moment richtete sich meine Aufmerksamkeit mehr auf einen Wagen, der eine Viertelstunde zuvor vom anderen Ende her in die Stadt gekommen war. Der Bürgermeister hatte sich mit dem alten Mann, der auf dem Kutschbock saß, gestritten und war dann davongestürmt. Jetzt sah ich ihn zu dem Wagen zurückkehren, begleitet von einem großen Mann, der einen langen Knüppel trug – einem Wachtmeister, wenn mich nicht alles täuschte.

Mich packte die Neugier, und ich ging in Richtung des Wagens und bemühte mich dabei, außer Sicht zu bleiben. Als ich in Hörweite kam, stritten der Bürgermeister und der alte Mann schon wieder. Der Wachtmeister stand dabei und blickte gereizt und besorgt.

»… hab’s Euch doch schon gesagt. Ich habe keine Lizenz. Ich brauche auch keine Lizenz. Braucht ein Straßenhändler eine Lizenz? Braucht ein Kesselflicker eine Lizenz?«

»Ihr seid kein Kesselflicker«, sagte der Bürgermeister. »Versucht Euch nicht als einer auszugeben.«

»Ich versuche überhaupt nicht, mich als irgendetwas auszugeben«, entgegnete der alte Mann unwirsch. »Ich bin Kesselflicker und Straßenhändler und noch manches mehr. Ich bin Arkanist, verdammter Vollidiot.«

»Eben darum geht es«, beharrte der Bürgermeister. »Wir sind gottesfürchtige Leute. Wir wollen nicht, dass man an dunkle Dinge rührt, von denen man besser die Finger lässt. Wir wollen die Scherereien nicht, die Leute Eures Schlags bringen.«

»Leute meines Schlags?«, erwiderte der alte Mann. »Was wisst Ihr denn schon über Leute meines Schlags? In dieser Gegend hat sich doch wahrscheinlich seit fünfzig Jahren kein Arkanist mehr blicken lassen.«

»Und eben das schätzen wir. Macht einfach kehrt und fahrt dorthin zurück, woher Ihr gekommen seid.«

»Ich werd den Teufel tun, die Nacht im Regen zu verbringen, nur weil Ihr so uneinsichtig seid«, sagte der alte Mann heftig. »Ich brauche Eure Erlaubnis nicht, um mir ein Zimmer zu nehmen oder auf der Straße meinen Geschäften nachzugehen. Nun lasst mich in Ruhe, oder ich zeige Euch, wozu Leute meines Schlags tatsächlich in der Lage sind.«

Angst blitzte im Gesicht des Bürgermeisters auf, wich aber schnell Empörung. Er wies über seine Schulter auf den Wachtmeister. »Dann verbringt Ihr die Nacht hinter Gittern, wegen Landstreicherei und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wir lassen Euch morgen früh weiterziehen, wenn Ihr bis dahin gelernt habt, Eure Zunge im Zaum zu halten.« Der Wachtmeister rückte auf den Wagen vor, den Knüppel zur Vorsicht an der Seite.

Der alte Mann gab jedoch nicht klein bei. Er hob warnend eine Hand. Ein tiefrotes Licht stieg vorn in seinem Wagen empor. »Das ist nah genug«, sagte er in unheilschwangerem Ton. »Sonst könnte es hier zu unschönen Szenen kommen.«

Nach einem Moment der Verblüffung wurde mir klar, dass das sonderbare Licht von zwei Sympathielampen ausging, die der alte Mann an seinem Wagen angebracht hatte. Ich hatte schon einmal so eine Lampe gesehen – in Lord Greyfallows Bibliothek. Sie leuchteten heller als Gaslampen, waren verlässlicher als Kerzen oder Öllampen und hielten fast unbegrenzt. Sie waren allerdings auch fürchterlich teuer. Ich hätte wetten mögen, dass in dieser kleinen Stadt niemand je davon gehört, geschweige denn schon einmal eine gesehen hatte.

Der Wachtmeister blieb abrupt stehen, als das Licht aufleuchtete. Als jedoch weiter nichts geschah, machte er ein zorniges Gesicht und ging weiter auf den Wagen zu.

Nun war der alte Mann besorgt. »Moment mal«, sagte er, und das rote Licht aus dem Wagen wurde schwächer. »Wir wollen doch nicht, dass …«

»Halt die Schnauze, alter Schwätzer«, sagte der Wachtmeister. Er packte den Arkanisten beim Arm, so vorsichtig, als würde er eine Hand in einen Ofen stecken. Als daraufhin nichts geschah, lächelte er und wurde selbstsicherer. »Glaub bloß nicht, dass ich dir keins überbrate, um dich davon abzuhalten, hier weiter deine Teufelskunst zu treiben.«

»Gut so, Tom«, sagte der Bürgermeister erleichtert. »Führ ihn ab. Den Wagen lassen wir später holen.«

Der Wachtmeister grinste und drehte dem alten Mann den Arm auf den Rücken. Der Arkanist krümmte sich und ächzte vor Schmerz.

Von meinem Versteck aus sah ich, wie der besorgte Gesichtsausdruck des Arkanisten im Nu wütend wurde. Ich sah, dass er den Mund bewegte.

Wie aus dem Nichts kam ein heftiger Windstoß, so als wäre ohne Vorwarnung ein Sturm losgebrochen. Der Wind packte den Wagen des alten Mannes, hob ihn an, bis er nur noch auf zwei Rädern stand, und rammte ihn dann wieder zu Boden. Der Wachtmeister wankte und stürzte lang hin, als hätte die unsichtbare Hand Gottes ihn niedergestreckt. Selbst dort, wo ich mich versteckte, gut zehn Meter entfernt, war der Wind so stark, dass ich einen Schritt nach vorn machen musste, so als würde ich von hinten geschoben.

»Fort mit euch!«, rief der alte Mann zornig. »Hört auf, mich zu behelligen! Sonst stecke ich euer Blut in Brand und erfülle euch mit einer Furcht wie aus Eis und Eisen!« Seine Worte kamen mir bekannt vor, aber ich hätte nicht sagen können, woher.

Die beiden Männer nahmen nun Reißaus wie scheuende Pferde.

Der Wind legte sich so schnell, wie er gekommen war. Der plötzliche Windstoß hatte im ganzen höchstens fünf Sekunden lang angehalten. Da sich die meisten Einwohner der Stadt im und um das Wirtshaus aufhielten, bezweifelte ich, dass irgend jemand es gesehen hatte – abgesehen von mir, dem Bürgermeister, dem Wachtmeister und den Eseln des alten Mannes, die ganz ruhig und gänzlich unbeeindruckt in ihrem Geschirr standen.

»Hebt euch von dannen, widerwärtige Gestalten«, murmelte der Arkanist und sah den Männern nach. »Mittels der Macht meines Namens befehle ich es.«

Nun wurde mir klar, warum mir seine Worte bekannt vorkamen. Es waren Zitate aus der Exorzismus-Szene in Daeonica. Ein Stück, das nicht viele Leute kannten.

Der alte Mann wandte sich wieder zu seinem Wagen und begann zu extemporieren. »Ich verwandle euch in ein Stück Butter an einem Sommertag. Ich verwandle euch in einen Dichter mit der Seele eines Priesters. Ich fülle euch mit Zitronenpudding und werfe euch aus dem Fenster.« Er spie aus. »Dreckskerle.«

Sein Zorn schien schließlich zu verrauchen, und er seufzte erschöpft. »Also, schlimmer hätte es ja fast nicht kommen können«, murmelte er und rieb sich die Schulter, die ihm der Wachtmeister verdreht hatte. »Ob die wohl wiederkommen? Mit einem Mob im Schlepptau?«

Einen Moment lang glaubte ich, der alte Mann redete mit mir. Dann wurde mir klar, dass er mit seinen Eseln sprach.

»Glaube ich auch nicht«, sagte er. »Aber man weiß ja nie. Bleiben wir doch lieber hier am Stadtrand und schaun mal, was der Hafersack noch hergibt, hm?«

Er stieg hinten auf den Wagen und kam mit einem breiten Eimer und einem fast leeren Sack wieder. Den Inhalt kippte er in den Eimer und wirkte angesichts des Ergebnisses entmutigt. Er nahm sich selbst eine Handvoll und schob den Eimer dann den Eseln hin. »Guckt mich nicht so an«, sagte er. »Wir bekommen alle nur eine kleine Ration. Und ihr könnt außerdem grasen.« Er tätschelte einen Esel, während er selber seine Handvoll Hafer aß und dabei gelegentlich eine Spelze ausspuckte.

Ich fand das sehr traurig: Dieser alte Mann, ganz allein unterwegs, und außer seinen Eseln hatte er keinen, mit dem er reden konnte. Für uns Edema Ruh war es schon schwer genug, aber wir hatten wenigstens einander. Dieser Mann hingegen hatte niemanden.

»Wir haben uns zu weit von der Zivilisation entfernt, Jungs. Die Leute, die mich bräuchten, trauen mir nicht, und die mir trauen, können sich meine Dienste nicht leisten.« Er spähte in seinen Geldbeutel. »Wir haben noch anderthalb Penny, also sind unsere Möglichkeiten beschränkt. Wollen wir heute Nacht nass werden oder morgen hungern? Wir werden hier keine Geschäfte machen können, also wird uns wahrscheinlich eins davon nicht erspart bleiben.«

Ich schlich mich bis an die Ecke des Gebäudes, so dass ich lesen konnte, was auf dem Wagen des alten Mannes geschrieben stand. Die Aufschrift lautete:

ABENTHY – DER ARKANIST.

Schreiber. Rutengänger. Chemiker. Dentist.

Raritäten. Behandlung sämtlicher Gebrechen.

Allesfinder. Allesflicker.

Keine Horoskope. Keine Liebestränke. Keine Missetaten.

Abenthy bemerkte mich, sobald ich hinter der Gebäudeecke hervortrat. »Hallo, junger Mann. Was kann ich für dich tun?«

»Könnte ich für einen Penny irgendetwas bei Euch kaufen?«

Er wirkte belustigt, aber auch neugierig. »Was hättest du denn gern?«

»Ich hätte gern etwas Lacillium.« Wir hatten im vergangenen Monat ein Dutzend Mal Die holde Farien aufgeführt, und das hatte mein kindliches Gemüt mit Intrigen und Mordkomplotten erfüllt.

»Rechnest du denn damit, dass dich jemand vergiften will?«, fragte er ein wenig erstaunt.

»Nein, eigentlich nicht. Aber ich glaube, wenn man tatsächlich mal ein Gegengift braucht, ist es wahrscheinlich schon zu spät, um sich eins zu besorgen.«

»Ich könnte dir wohl für einen Penny etwas davon verkaufen«, sagte er. »Das wäre ungefähr die richtige Dosis für einen Menschen von deiner Körpergröße. Aber es ist auch selbst eine gefährliche Substanz. Und es wirkt nur bei bestimmten Giften. Man kann sich großen Schaden zufügen, wenn man es zum falschen Zeitpunkt nimmt.«

»Oh«, sagte ich. »Das wusste ich nicht.« In dem Stück wurde es als Allheilmittel dargestellt.

Abenthy tippte sich nachdenklich mit einem Finger an den Mund. »Kannst du mir einstweilen eine Frage beantworten?« Ich nickte. »Wessen Truppe ist das?«

»In gewisser Hinsicht ist es meine«, sagte ich. »In anderer Hinsicht jedoch ist es die meines Vaters, denn er leitet die Vorstellungen und bestimmt, wohin wir fahren. Aber es ist auch die von Baron Greyfallow, denn der ist unser Schirmherr.«

Der alte Mann sah mich belustigt an. »Ich habe schon von euch gehört. Eine gute Truppe. Sehr angesehen.«

Ich nickte, denn ich sah keinen Anlass für falsche Bescheidenheit.

»Meinst du, dein Vater wäre an fremder Hilfe interessiert?«, fragte er. »Ich behaupte nicht, ein großer Schauspieler zu sein, aber es ist immer praktisch, mich dabeizuhaben. Ich könnte euch Schminke herstellen, die frei von Blei, Quecksilber und Arsen ist. Ich könnte auch für die Beleuchtung sorgen – schnell, sauber und hell. In unterschiedlichen Farben, wenn ihr wollt.«

Da musste ich nicht lange überlegen. Kerzen waren teuer und bei Wind nicht zu gebrauchen. Fackeln waren schmutzig und gefährlich. Und welche Gefahren von schlechter Schminke ausgingen, hatte jeder in der Truppe schon in jungen Jahren gelernt. Es war nicht leicht, als Mime alt zu werden, wenn man sich jeden dritten Tag Gift ins Gesicht schmierte und deshalb schon mit fünfundzwanzig dem Wahnsinn anheim fiel.

»Ich überschreite hier womöglich ein wenig meine Befugnisse«, sagte ich und streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen. »Aber lasst mich der Erste sein, der Euch bei unserer Truppe willkommen heißt.«

Da dies eine umfassende und aufrichtige Schilderung meines Lebens und meiner Taten werden soll, sollte ich erwähnen, dass ich Ben nicht ausschließlich aus uneigennützigen Motiven zu unserer Truppe einlud. Ja, es traf natürlich zu, dass gute Schminke und sauberes Licht eine willkommene Hilfe darstellten. Und es stimmt auch, dass mir der alte Mann dort ganz allein auf der Straße leid tat.

Doch vor allem bewegte mich meine Neugier dazu. Ich hatte Abenthy etwas tun sehen, das ich mir nicht erklären konnte, etwas sehr Seltsames und Wunderbares. Ich meine nicht den Trick mit den Sympathielampen. Das erkannte ich als das, was es war: ein Bluff, um unwissende Leute zu beeindrucken.

Was er danach getan hatte, war etwas anderes. Er hatte den Wind gerufen, und – der Wind war gekommen. Das war Magie. Echte Magie. Jene Art von Magie, wie ich sie aus Geschichten über Taborlin den Großen kannte. Jene Art von Magie, an die ich seit meinem sechsten Lebensjahr nicht mehr glaubte. Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich glauben sollte.

Und daher lud ich ihn ein, sich zu unserer Truppe zu gesellen, in der Hoffnung, Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Und obwohl es mir nicht bewusst war, wollte ich schon damals den Namen des Windes erfahren.

Загрузка...