Kapitel 5

Zettel

Es war schon weit nach Mitternacht, als Kote schließlich nach Newarre zurückkehrte, den bewusstlosen Chronisten auf den zerschundenen Schultern. Der Ort lag still und dunkel da, und nur das Wirtshaus war hell erleuchtet.

Bast stand am Eingang, vor Ärger geradezu tänzelnd. Als er die sich nähernde Gestalt erblickte, lief er die Straße hinab, wütend mit einem Blatt Papier fuchtelnd. »Einen Zettel? Du schleichst dich weg und hinterlässt mir einen Zettel?«, zischte er. »Wer bin ich denn? Irgendeine Hafennutte?«

Kote wandte sich um und ließ den schlaffen Leib des Chronisten mit einem Achselzucken Bast in die Arme plumpsen. »Du hättest dich ja doch nur mit mir gestritten, Bast.«

Bast trug den Chronisten mit Leichtigkeit vor der Brust. »Und dann war es auch noch lausig formuliert! ›Wenn Du das hier liest, bin ich wahrscheinlich schon tot.‹ Da lachen ja die Hühner!«

»Du hättest den Brief erst morgen früh finden sollen«, sagte Kote müde. Sie gingen die Straße hinunter zum Wirtshaus.

Bast sah sich den Mann an, den er trug, als bemerke er ihn erst jetzt. »Wer ist das?« Er schüttelte ihn ein wenig, betrachtete ihn neugierig und warf ihn sich dann wie einen Sack über die Schulter.

»Irgend ein armes Schwein, das zur falschen Zeit am falschen Ort war«, sagte Kote wegwerfend. »Schüttele ihn nicht zu sehr. Sein Kopf könnte ein bisschen lose sein.«

»Warum zum Teufel hast du dich denn überhaupt fortgeschlichen?«, verlangte Bast zu wissen, als sie das Wirtshaus betraten. »Wenn du mir schon einen Zettel hinterlässt, sollte wenigstens draufstehen, was –« Bast bekam große Augen, als er Kote im Licht des Schankraums sah, blutig, dreckig und blass.

»Jetzt darfst du dir Sorgen machen, wenn du magst«, bemerkte Kote trocken. »Es ist genau so schlimm, wie es aussieht.«

»Du hast Jagd auf sie gemacht, nicht wahr?«, zischte Bast. »Nein. Du hast von dem, den Carter zur Strecke gebracht hat, ein Stück behalten. Ich kann dir kein Wort mehr glauben. Du hast mich belogen. Mich!«

Kote seufzte. »Regst du dich wegen der Lüge auf oder weil du mich nicht dabei ertappt hast?«, fragte er und stapfte die Treppe hinauf.

Bast stotterte: »Ich rege mich auf, weil du dachtest, du könntest mir nicht vertrauen.«

Sie unterbrachen ihr Gespräch, betraten eins der vielen freien Zimmer im ersten Stock, zogen den Chronisten aus und legten ihn in ein Bett. Kote ließ die Mappe und den Reisesack des Mannes vor dem Bett auf dem Boden liegen.

Nachdem er die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, sagte Kote: »Ich vertraue dir, Bast, aber ich wollte dich nicht in Gefahr bringen. Ich wusste, dass ich das auch alleine schaffe.«

»Ich hätte dir helfen können, Reshi.« Bast klang gekränkt. »Du weißt, dass ich dir geholfen hätte.«

»Du kannst mir immer noch helfen, Bast«, sagte Kote, ging in sein Zimmer und ließ sich auf der Kante seines schmalen Betts nieder. »Ich habe einige Wunden zu nähen.« Er begann sein Hemd aufzuknöpfen. »Ich könnte das selber machen. Aber an meine Schultern und meinen Rücken komme ich nur schwer ran.«

»Red keinen Quatsch, Reshi. Ich mache das.«

Kote wies zur Tür. »Meine Sachen sind im Keller.«

Bast schnaubte verächtlich. »Ich nehme meine eigenen Nadeln, schönen Dank auch. Guter, ehrlicher Knochen. Nicht deine fiesen gezackten Eisenteile.« Er erschauderte. »Bei Strom und Stein, es ist beängstigend, wie primitiv ihr seid.« Bast eilte aus dem Zimmer und ließ die Tür offen stehen.

Kote schälte sich langsam aus dem Hemd. Das getrocknete Blut zerrte an den Wunden, und er verzog das Gesicht und sog Luft durch zusammengebissene Zähne. Als Bast mit einer Schale Wasser zurückkehrte, setzte er wieder eine stoische Miene auf.

Bast begann ihn zu reinigen, und als das getrocknete Blut abgewaschen war, kam eine ganze Reihe langer, gerader Schnittwunden zum Vorschein. Sie klafften rot in Kotes heller Haut und sahen aus, als stammten sie von einem Rasiermesser oder einer Glasscherbe. Es waren insgesamt gut ein Dutzend, die meisten oben auf den Schultern, ein paar auch auf dem Rücken und an den Armen. Eine begann oben auf der Kopfhaut und verlief bis hinter ein Ohr.

»Und ich dachte, du blutest nicht, Reshi«, sagte Bast. »Man nennt dich doch den Blutlosen.«

»Du solltest nicht alle Geschichten glauben, die du hörst, Bast. Das ist doch alles gelogen.«

»Nun ja, du bist längst nicht so schwer verletzt, wie ich dachte«, sagte Bast und wischte sich die Hände ab. »Auch wenn du um ein Haar ein Stück Ohr verloren hättest. Waren sie verwundet, so wie die, die Carter angegriffen hat?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Kote.

»Wie viele waren es?«

»Fünf.«

»Fünf?«, erwiderte Bast entgeistert. »Und wie viele hat der andere Kerl getötet?«

»Er hat eine davon eine Zeitlang abgelenkt«, sagte Kote großzügig.

»Anpauen, Reshi«, sagte Bast kopfschüttelnd und fädelte dann etwas Dünneres und Feineres als Katgut in eine Knochennadel. »Eigentlich müsstest du tot sein. Eigentlich hättest du gleich zweimal dran glauben müssen.«

Kote zuckte die Achseln. »Das passiert mir nicht zum ersten Mal, Bast. Dem Tod von der Schippe zu springen ist offenbar eine Spezialität von mir.«

Bast beugte sich über seine Arbeit. »Das wird jetzt ein wenig wehtun«, sagte er und griff vorsichtig zu. »Ehrlich, Reshi, ich verstehe nicht, wie es dir gelungen ist, so lange am Leben zu bleiben.«

Kote zuckte erneut die Achseln und schloss die Augen. »Ich verstehe es auch nicht, Bast«, sagte er mit müder Stimme.

Stunden später öffnete sich Kotes Zimmertür einen Spalt breit, und Bast spähte hinein. Als er weiter nichts als langsames, gleichmäßiges Atmen hörte, ging er leise zum Bett und beugte sich über den schlafenden Mann. Er betrachtete die Farbe seiner Wangen, roch an seinem Atem und berührte vorsichtig seine Stirn, sein Handgelenk und seine Halsbeuge.

Dann stellte sich Bast einen Stuhl ans Bett und setzte sich, beobachtete seinen Meister und lauschte seinem Atem. Er strich ihm die widerspenstigen roten Haare aus dem Gesicht, wie eine Mutter bei einem schlafenden Kind. Dann begann er leise zu singen:

Der Menschen Flamme brennt erst munter,

Dann verglimmt sie Tag um Tag.

Ihre Seelen sind nur Zunder,

Und der Wind spielt, wie er mag.

Wär doch mein Feuer dir zu eigen!

Was mag dein Flackern wohl bezeigen?

Dann saß er noch lange reglos da und sah zu, wie die Brust seines Meisters sich im Schlaf hob und senkte.

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