Kapitel 16

Hoffnung

In den nun folgenden Monaten taten meine Eltern ihr Möglichstes, die Lücke, die Bens Fortgang gerissen hatte, zu füllen, und brachten auch die übrigen Mitglieder der Truppe dazu, mich sinnvoll zu beschäftigen und vom Trübsalblasen abzuhalten.

Wisst Ihr, in dieser Truppe spielte das Alter keine große Rolle. Wenn man stark genug war, die Pferde zu satteln, sattelte man die Pferde. Wenn man flinke Finger hatte, jonglierte man. Wenn man tadellos rasiert war und in das entsprechende Kleid passte, spielte man in Der Schweinehirt und die Nachtigall die Lady Reythiel. So einfach war das.

Und so brachte mir Trip allerlei Schabernack bei. Shandi führte mich in höfische Tänze aus allen möglichen Ländern ein. Teren maß mich mit dem Heft seines Schwerts und befand, dass ich mittlerweile groß genug war, um mich mit den Grundlagen des Schwertkampfs zu befassen. Noch nicht groß genug, um tatsächlich zu kämpfen, das betonte er, aber groß genug, dass ich damit auf der Bühne eine gute Show abziehen konnte.

Die Straßen waren zu dieser Jahreszeit gut befahrbar, und so kamen wir auf unseren Fahrten durch das nördliche Commonwealth zügig voran – fünfzehn, zwanzig Meilen pro Tag. Da Ben nun fort war, fuhr ich oft bei meinem Vater mit, und er begann mit meiner formellen Ausbildung für die Bühne.

Ich wusste natürlich schon eine ganze Menge. Doch was ich aufgeschnappt hatte, war ein ziemliches Durcheinander. Mein Vater machte sich nun daran, mich systematisch in der Technik und dem Handwerk des Schauspiels zu unterrichten. Wie minimale Änderungen des Akzents oder der Körperhaltung einen Menschen einfältig, gerissen oder dumm erscheinen lassen.

Schließlich begann meine Mutter mich in den Umgangsformen in feiner Gesellschaft zu unterweisen. Ich kannte das schon ein wenig von unseren Aufenthalten bei Baron Greyfallow und glaubte, vornehm genug zu sein, auch ohne dass ich mir Anredeformen, Tischmanieren und die verzwickte Rangliste der Adelstitel einprägte. Schließlich sagte ich genau das meiner Mutter.

»Wen kümmert’s denn, ob ein Viscount aus Modegan rangmäßig höher steht als ein Vintischer Sparathain?«, protestierte ich. »Und wen kümmert’s, ob der eine mit ›Euer Gnaden‹ und der andere mit ›Mylord‹ angesprochen wird?«

»Diese Leute kümmert das durchaus«, sagte meine Mutter mit Nachdruck. »Wenn du bei ihnen auftrittst, musst du ein würdevolles Gebaren an den Tag legen und lernen, deinen Ärmel aus der Suppe herauszuhalten.«

»Vater macht sich keine Gedanken darüber, welche Gabel man wozu benutzt und wer rangmäßig über wem steht«, nörgelte ich.

»Dein Vater weiß mehr als er sich anmerken lässt«, sagte meine Mutter. »Und wenn er irgendetwas einmal nicht weiß, überspielt er es mit Hilfe seines beträchtlichen Charmes. So macht er das.« Sie ergriff mein Kinn und wandte mein Gesicht zu sich. Sie hatte grüne Augen mit einem goldenen Ring um die Pupille. »Willst du dich einfach nur so durchschlagen? Oder willst du, dass ich stolz auf dich bin?«

Darauf gab es nur eine Antwort. Und nachdem ich mich erst einmal in die Sache hineingekniet hatte, erwies es sich lediglich als eine weitere Form der Schauspielerei. Nur ein weiteres auswendig zu lernendes Skript. Meine Mutter dachte sich Reime aus, um mir zu helfen, mir die unsinnigeren Elemente der Etikette einzuprägen, und gemeinsam schrieben wir ein kleines unanständiges Lied zu diesem Thema. Meine Mutter verbot mir strengstens, es meinem Vater vorzusingen, aus Furcht, er könnte es womöglich eines Tages den falschen Leuten vortragen und uns alle damit in große Schwierigkeiten bringen.

»Baum!« Der Ruf erscholl vorn in der Kolonne. »Große Eiche!«

Mein Vater hielt mitten in dem Monolog inne, den er mir rezitierte, und seufzte verärgert. »Dann kommen wir heute nicht mehr weiter«, murrte er und sah zum Himmel empor.

»Halten wir?«, rief meine Mutter aus dem Wageninnern.

»Da liegt schon wieder ein Baum auf der Straße«, erklärte ich.

»Nicht zu fassen«, sagte mein Vater und lenkte den Wagen zu einer freien Stelle am Straßenrand. »Ist das hier eine Straße des Königs oder nicht? Man könnte meinen, wir wären die einzigen Leute, die hier unterwegs sind. Wie lange ist der Sturm schon her? Zwei Spannen?«

»Nicht ganz«, sagte ich. »Sechzehn Tage.«

»Und immer noch blockieren umgestürzte Bäume die Straße! Ich hätte nicht übel Lust, dem Konsulat für jeden Baum, den wir zersägen und von der Straße räumen mussten, eine Rechnung zu senden. Das wirft uns weitere drei Stunden zurück.« Der Wagen kam zum Stehen, und er sprang ab.

»Ich finde es schön«, sagte meine Mutter, die von der Rückseite des Wagens aus dazukam. »Das verschafft uns die Gelegenheit, etwas Warmes zu uns zu nehmen.« Sie schenkte meinem Vater einen vielsagenden Blick. »Es ist doch ärgerlich, wenn man sich immer nur mit dem begnügen muss, was am Ende des Tages gerade noch greifbar ist. Der Körper braucht doch mehr.«

Die Laune meines Vaters besserte sich sichtlich. »Das ist wohl wahr«, sagte er.

»Schatz?«, rief meine Mutter zu mir herüber. »Meinst du, du könntest mir etwas wilden Salbei pflücken?«

»Ich habe keine Ahnung, ob hier welcher wächst«, erwiderte ich mit eben der richtigen Unsicherheit im Ton.

»Es kann nicht schaden, danach zu suchen«, erwiderte sie vernünftigerweise. Aus dem Augenwinkel sah sie zu meinem Vater hinüber. »Pflück einen Armvoll, wenn du genug findest. Das trocknen wir dann für später.«

Es spielte normalerweise keine große Rolle, ob ich fand, was ich suchte, oder nicht.

Ich hatte die Angewohnheit, mich abends von der Truppe zu absentieren. Normalerweise hatte ich irgendeine Besorgung zu erledigen, während meine Eltern das Abendessen zubereiteten. Aber das war für uns alle nur ein Vorwand, um auch einmal allein sein zu können. Privatsphäre ist unterwegs ein kostbares Gut, und die beiden brauchten das ebenso wie ich. Und daher störte es sie gar nicht, wenn ich eine geschlagene Stunde brauchte, um einen Armvoll Brennholz zu sammeln. Und wenn sie bei meiner Rückkehr noch gar nicht mit der Zubereitung des Abendessens begonnen hatten, war das schließlich nur recht und billig so, nicht wahr?

Ich hoffe, sie verbrachten diese letzten Stunden mit etwas Schönem. Ich hoffe, sie vergeudeten sie nicht mit irgendwelchen geistlosen Tätigkeiten: dem Entfachen des Lagerfeuers oder dem Kleinschneiden von Gemüse. Ich hoffe, sie sangen etwas miteinander, wie sie es so oft taten. Ich hoffe, sie zogen sich in ihren Wagen zurück und lagen einander in den Armen. Ich hoffe, sie lagen auch anschließend noch beieinander und plauderten über Kleinigkeiten. Ich hoffe, sie waren zusammen und liebten sich, bis das Ende kam.

Das ist eine kleine Hoffnung, und eine sinnlose dazu. Tot sind sie so oder so.

Dennoch hoffe ich es.

Überspringen wir die Zeit, die ich an jenem Abend allein im Wald verbrachte, mit kindlichen Spielen befasst. Die letzten sorglosen Stunden meines Lebens. Die letzten Augenblicke meiner Kindheit.

Überspringen wir meine Rückkehr ins Lager, kurz vor Sonnenuntergang. Den Anblick der Leichen, die wie zerschlagene Puppen herumlagen. Den Geruch von Blut und verbranntem Haar. Wie ich ziellos umherging, zu verwirrt, um in Panik zu geraten, wie benommen vor Entsetzen und Furcht.

Ja, am liebsten würde ich diesen ganzen Abend überspringen. Ich würde euch am liebsten all das ersparen, wäre eines davon nicht für die Geschichte nötig. Es ist von entscheidender Bedeutung. Es ist der Dreh- und Angelpunkt, das Scharnier, um das sich die ganze Geschichte dreht wie eine sich öffnende Tür. In mancher Hinsicht beginnt die Geschichte erst hier.

Bringen wir es also hinter uns.

Rauchschwaden hingen in der stillen Abendluft. Es war ruhig, so als lausche die ganze Truppe auf irgendetwas. Als hielten sie alle den Atem an. In den Baumkronen raschelte ein träger Wind und trieb Rauch in meine Richtung. Ich trat aus dem Wald und lief durch den Rauch zurück ins Lager.

Ich schaute mich um und sah Trips Zelt halb eingestürzt daliegen und in seinem Lagerfeuer vor sich hin schwelen. Die imprägnierte Zeltleinwand brannte an einzelnen Stellen, und beißender grauer Rauch hing flach über dem Boden.

Ich sah Terens Leichnam neben seinem Wagen liegen, das Schwert in seiner Hand zerbrochen. Seine grün-graue Kluft war durch und durch mit frischem Blut getränkt. Sein eines Bein war widernatürlich verdreht, und der zersplitterte Knochen, der aus der Haut ragte, war sehr, sehr weiß.

Ich stand da, unfähig, den Blick von Teren zu lösen, dem grauen Hemd, dem roten Blut, dem weißen Knochen. Ich starrte es an, als wäre es ein Diagramm in einem Buch, das ich zu durchschauen versuchte. Ich war wie benommen. Es kam mir vor, als versuchte ich, durch Sirup zu denken.

Ein kleiner vernünftiger Teil von mir erkannte, dass ich gerade einen schweren Schock erlitt. Er flüsterte mir das immer wieder ein. Ich bot Bens ganzes Training auf, um das zu ignorieren. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was ich sah. Ich wollte nicht wissen, was hier geschehen war. Ich wollte nicht wissen, was all das zu bedeuten hatte.

Nach ich weiß nicht wie langer Zeit trieb weiterer Rauch durch mein Gesichtsfeld. Ich setzte mich wie benommen an das nächstbeste Lagerfeuer. Es war das von Shandi, und ein kleiner Kochtopf hing darüber, in dem Kartoffeln vor sich hin köchelten, ein seltsam vertrauter Anblick inmitten des Chaos.

Ich konzentrierte mich auf diesen Topf. Auf etwas Normales. Ich stocherte mit einem Stöckchen nach den Kartoffeln und sah, dass sie gar waren. Ganz normal. Ich nahm den Topf vom Feuer und stellte ihn neben Shandis Leichnam auf dem Boden ab. Ihre Kleider hingen in Fetzen. Ich versuchte ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen, und als ich die Hand wieder zurückzog, war sie blutig. Der Feuerschein spiegelte sich in ihren stumpfen, blicklosen Augen.

Ich stand auf und sah mich ziellos um. Trips Zelt stand nun in Flammen, und Shandis Wagen stand mit einem Rad in Marions Lagerfeuer. All diese Flammen hatten etwas Bläuliches, etwas, das der ganze Szene etwas Traumähnliches, Surreales verlieh.

Ich hörte Stimmen. Um Shandis Wagen herumspähend, sah ich einige mir unbekannte Männer und Frauen an einem Feuer sitzen. Es war das Feuer meiner Eltern. Vom Schwindel gepackt, streckte ich die Hand aus, um mich an dem Wagenrad festzuhalten. Als ich es ergriff, zerbröckelte mir der Eisenreifen unter den Fingern, zersplitterte zu grobkörnigem Rost. Als ich die Hand wieder wegzog, knarrte das Rad und begann zu bersten. Ich wich zurück, und der Wagen brach auseinander, als wäre sein Holz so morsch wie ein uralter Baumstumpf.

Nun war ich vom Feuer aus gut zu sehen. Einer der Männer erhob sich und zog das Schwert. Seine Bewegungen erinnerten mich an Quecksilber, das aus einem Krug auf eine Tischplatte fließt – mühelose Geschmeidigkeit. Er blickte gespannt, aber sein Körper war gelöst, so als hätte er sich eben erst gestreckt.

Sein Schwert war hell und elegant. Wenn es sich bewegte, durchschnitt es mit scharfem Sausen die Luft. Es erinnerte mich an die Stille, die sich an den kältesten Wintertagen, wenn das Atmen wehtut, auf alles legt.

Der Mann stand etwa zehn Meter von mir entfernt, aber ich konnte ihn im Licht des Sonnenuntergangs gut sehen. Ich erinnere mich an ihn so deutlich, wie ich mich an meine Mutter erinnere, manchmal deutlicher. Sein Gesicht war scharf geschnitten und schmal, sein Teint makellos wie Porzellan. Schulterlanges Haar rahmte sein Gesicht in eisfarbenen Locken. Er war ein winterfahles Wesen. Alles an ihm war kalt, scharf und weiß.

Bis auf seine Augen. Die waren schwarz, wie die einer Ziege, doch ohne Iris. Seine Augen glichen seinem Schwert, und in beiden spiegelte sich weder der Feuerschein noch die untergehende Sonne.

Als er mich erblickte, ließ er das Schwert sinken und lächelte mit makellosen, elfenbeinfarbenen Zähnen. Es war ein Gesichtsausdruck wie aus einem Alptraum. Ein Gefühl durchstieß die Verwirrung, die ich wie eine dicke, schützende Decke um mich gerafft hatte. Etwas griff mit beiden Händen tief in meine Brust und drückte zu. Es könnte durchaus das erste Mal in meinem Leben gewesen sein, dass ich wirklich Angst empfand.

Drüben am Feuer lachte ein graubärtiger Glatzkopf. »Da haben wir wohl ein Häschen übersehen. Pass auf, Cinder, es könnte scharfe Zähne haben.«

Der Cinder Genannte steckte sein Schwert in die Scheide – mit einem Laut, wie wenn ein Baum unter winterlicher Eislast knackt. Weiter Abstand haltend, kniete er sich hin. Seine Bewegungen gemahnten mich wieder an Quecksilber. Nun auf Augenhöhe mit mir, blickten seine mattschwarzen Augen besorgt. »Wie heißt du, Junge?«

Ich stand stumm da. Starr wie ein aufgeschrecktes Kitz.

Cinder seufzte und sah einen Moment lang zu Boden. Als er den Blick wieder hob, sahen mich seine tief liegenden Augen mitleidig an.

»Junger Mann«, sagte er. »Wo sind denn deine Eltern?« Er sah mir einen Moment lang in die Augen und blickte sich dann zum Feuer um, wo die anderen saßen.

»Weiß jemand, wo seine Eltern sind?«

Einige von ihnen lächelten, so als wäre das ein ganz besonders gelungener Scherz. Ein oder zwei lachten laut auf. Cinder wandte sich wieder zu mir, und das Mitleid fiel von ihm ab wie eine zerplatzte Maske und ließ nur das alptraumhafte Lächeln auf seinem Gesicht zurück.

»Ist das das Lagerfeuer deiner Eltern?«, fragte er mit entsetzlichem Ergötzen.

Ich nickte wie benommen.

Sein Lächeln schwand. Mit ausdrucksloser Miene blickte er tief in mich hinein. Seine Stimme war ruhig, kalt und scharf. »Die Eltern von irgendwem«, sagte er, »haben die falschen Lieder gesungen.«

»Cinder.« Eine kühle Stimme vom Feuer her.

Er kniff gereizt die Augen zusammen. »Was?«, zischte er.

»Du erregst mein Missfallen. Der da hat nichts getan. Schick ihn fort, in seinen Schlaf.« Beim letzten Wort stockte die Stimme kurz, als fiele es ihr schwer, es auszusprechen.

Die Stimme stammte von einem Mann, der etwas abseits der anderen saß, am Rande des Feuers in Schatten gehüllt. Obwohl der Himmel immer noch hell war und sich zwischen dem Feuer und der Stelle, an der er saß, nichts befand, sammelten sich Schatten um ihn wie dickflüssiges Öl. Das Feuer knisterte und züngelte lebhaft und warm, mit leichtem Blaustich, doch sein flackerndes Licht kam ihm nicht nah. Rings um seinen Kopf wurden die Schatten tiefer. Ich erhaschte einen Blick auf eine große Kapuze, wie manche Priester sie tragen, doch darunter war der Schatten so dunkel, als blickte man um Mitternacht in einen Brunnenschacht.

Cinder blickte kurz zu dem umschatteten Mann hinüber. »Ihr gebt einen guten Aufpasser ab, Haliax«, sagte er barsch.

»Und du hast anscheinend unsere Ziele aus den Augen verloren«, sagte der dunkle Mann, und sein kühler Tonfall wurde schärfer. »Oder verfolgst du gar andere Ziele als ich?« Die letzten Worte sprach er sehr sorgfältig aus, so als hätte es eine besondere Bewandtnis damit.

Cinders Arroganz fiel schlagartig von ihm ab, wie wenn ein Wassereimer ausgekippt wird. »Nein«, sagte er und wandte sich wieder zum Feuer. »Nein, ganz gewiss nicht.«

»Das ist gut. Ich möchte doch nicht, dass unsere lange Bekanntschaft ein jähes Ende nimmt.«

»Das möchte ich auch nicht.«

»Frische doch einmal mein Gedächtnis auf. In welchem Verhältnis stehen wir zueinander, Cinder«, sagte der umschattete Mann, und Verärgerung schlich sich in seinen geduldigen Tonfall.

»Ich … ich bin Euch zu Diensten …« Cinder machte eine beschwichtigende Handbewegung.

»Du bist ein Werkzeug in meiner Hand«, unterbrach ihn der umschattete Mann. »Weiter nichts.«

Ein Anflug von Trotz huschte über Cinders Miene. Er zögerte. »Ich –«

Die leise Stimme hatte nun die Härte von Ramston-Stahl. »Ferula.«

Cinders quecksilbrige Geschmeidigkeit war wie fortgeblasen. Er schwankte, sein ganzer Leib mit einem Mal starr vor Schmerz.

»Du bist ein Werkzeug in meiner Hand«, wiederholte die kühle Stimme. »Sag es.«

Cinders Kiefer bebte kurz vor Wut, und dann krümmte sich der Mann vor Schmerz und schrie und hörte sich dabei eher wie ein verwundetes Tier an als wie ein Mensch. »Ich bin ein Werkzeug in Eurer Hand«, stieß er keuchend hervor.

»Lord Haliax.«

»Ich bin ein Werkzeug in Eurer Hand, Lord Haliax«, berichtigte sich Cinder und sank zitternd auf die Knie.

»Wer kennt die tieferen Bewandtnisse deines Namens, Cinder?« Die Worte wurden mit großer Geduld gesprochen, wie wenn ein Lehrer eine vergessene Lektion hersagt.

Cinder schlang bebende Arme um seinen Rumpf, krümmte sich und preßte die Augen zu. »Ihr, Lord Haliax.«

»Wer schützt dich vor den Amyr? Den Sängern? Den Sithe? Vor allem auf der Welt, was dir schaden kann?«, fragte Haliax ruhig und höflich, so als wäre er tatsächlich auf die Antwort gespannt.

»Ihr, Lord Haliax.« Cinders Stimme war nur noch ein schmerzhaftes Wimmern.

»Und wessen Zielen dienst du?«

»Euren Zielen, Lord Haliax«, presste Cinder hervor. »Euren. Keinen anderen.« Die Anspannung verflog, und Cinders Körper erschlaffte. Er fiel nach vorn, auf die Hände, und Schweißtropfen gingen von seinem Gesicht wie ein Regenschauer hernieder. Das weiße Haar hing ihm welk ums Haupt. »Danke, mein Gebieter«, keuchte er. »Ich werde es nicht noch einmal vergessen.«

»Doch, das wirst du. Dazu sind dir deine kleinen Grausamkeiten viel zu lieb und teuer. Euch allen.« Haliax richtete den Blick nacheinander auf die Gestalten am Feuer. Sie regten sich beklommen. »Ich bin froh, dass ich euch heute begleitet habe. Ihr weicht vom rechten Pfade ab, gebt euch Launen hin. Einige von euch scheinen vergessen zu haben, wonach wir streben, was wir erreichen wollen.«

Dann wandte er sich wieder an Cinder. »Aber ich verzeihe euch. Denn wer weiß: Ohne diese Erinnerung wäre ich es womöglich, der das vergisst.« Bei den letzten Worten klang er gereizt. »Und nun vollendet, was ihr –« Seine kühle Stimme verstummte, und er neigte die umschattete Kapuze und blickte zum Himmel empor. Erwartungsvolles Schweigen.

Die Gestalten am Feuer blickten gespannt. Gleichzeitig legten sie den Kopf in den Nacken, als schauten sie alle zur selben Stelle am dämmrigen Himmel, als versuchten sie, Witterung von etwas aufzunehmen.

Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich spürte eine Spannung, eine minimale Veränderung der Beschaffenheit der Luft. Ich konzentrierte mich darauf, froh über die Ablenkung, froh über alles, was mich noch ein paar Sekunden weiter davon abhielt, klar zu denken.

»Sie kommen«, sagte Haliax leise. Er erhob sich, und Schatten umfingen ihn wie ein dunkler Nebel. »Schnell. Zu mir.«

Die anderen erhoben sich ebenfalls. Cinder kam mühsam auf die Beine und wankte zum Feuer.

Haliax breitete die Arme aus, und der Schatten um ihn her blähte sich kelchförmig, wie eine sich öffnende Blüte. Dann wandten sich die anderen mit geübter Leichtigkeit und traten einen Schritt auf Haliax zu und in den Schatten hinein. Als sie den Fuß absetzten, verlangsamten sich ihre Bewegungen, und dann lösten sie sich langsam auf, so als wären sie aus Sand, den der Wind verweht. Nur Cinder sah sich noch einmal um, ein Anflug von Wut war in seinem alptraumhaften Blick.

Dann waren sie alle fort.

Ich will Euch nicht mit dem belasten, was nun folgte. Wie ich von Leichnam zu Leichnam lief und verzweifelt nach Lebenszeichen suchte, wie Ben es mir beigebracht hatte. Mein vergeblicher Versuch, ein Grab auszuheben. Wie ich im Erdboden scharrte, bis mir die Finger bluteten. Wie ich meine Eltern fand …

Es war in der dunkelsten Stunde der Nacht, als ich auf unseren Wagen stieß. Unser Pferd hatte ihn fast hundert Meter weit die Straße hinabgezogen, ehe es verendet war. Drinnen sah es ganz normal aus. Besonders verblüffte mich, wie sehr es hinten im Wagen nach den beiden roch.

Ich zündete sämtliche Lampen und Kerzen an. Das Licht war kein Trost, aber es war das ehrliche Gold echten Feuers, ohne Blau. Ich nahm den Lautenkasten meines Vaters. Ich legte mich ins Bett meiner Eltern, die Laute neben mir. Das Kissen meiner Mutter duftete nach ihrem Haar, nach einer Umarmung. Ich wollte nicht schlafen, aber der Schlaf übermannte mich.

Ich erwachte hustend. Um mich her stand alles in Flammen. Natürlich die Kerzen. Immer noch vollkommen unter Schock, raffte ich ein paar Dinge in eine Tasche. Ich handelte langsam und planlos und hatte überhaupt keine Angst, als ich Bens Buch unter meiner brennenden Matratze hervorzog. Wie sollte ein simples Feuer mich jetzt noch schrecken?

Ich legte die Laute meines Vaters in den Kasten. Ich kam mir wie ein Dieb vor, aber mir fiel nichts anderes ein, das mich an sie erinnern würde. Beider Hände hatten unzählige Male dieses Holz berührt.

Dann ging ich fort. Ich ging in den Wald und ging immer weiter, bis sich im Osten die erste Morgenröte zeigte. Als die Vögel zu singen begannen, blieb ich stehen und setzte meine Tasche ab. Ich holte die Laute meines Vaters hervor und drückte sie an mich. Dann begann ich zu spielen.

Die Finger taten mir weh, aber ich spielte dennoch. Ich spielte, bis ich mir an den Saiten die Finger blutig riss. Ich spielte, bis die Sonne zwischen den Bäumen hindurchschien. Ich spielte, bis mir die Arme wehtaten. Ich spielte gegen die Erinnerung an, bis ich schließlich einschlief.

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