Kapitel 69
Wie der Wille einer Frau
In den nächsten beiden Spannen hielt mich mein neuer Umhang auf meinen gelegentlichen Ausflügen nach Imre warm, aber es gelang mir auch weiter nicht, Denna ausfindig zu machen. Ich fand immer neue Gründe, um den Fluss zu überqueren: Manchmal lieh ich mir von Devi ein Buch, manchmal aß ich mit Threpe zu Mittag, manchmal trat ich im Eolian auf. Doch der wahre Grund war Denna.
Kilvin verkaufte auch meine übrigen Emitter, und meine Stimmung besserte sich, als schließlich die Brandwunden heilten. Ich konnte Geld für Luxusartikel wie Seife und ein neues Zweithemd erübrigen. An diesem Tag nun war ich nach Imre gegangen, um ein paar Bassalfeilspäne zu besorgen, die ich für mein neuestes Projekt benötigte: eine große Sympathielampe aus zwei Emittern, die ich für eigene Zwecke behalten hatte. Ich hoffte, damit einen schönen Gewinn erzielen zu können.
Es mag merkwürdig erscheinen, dass ich auf der anderen Seite des Flusses Materialien für meine Handwerksprojekte einkaufte, aber die Händler in Universitätsnähe beuteten die Faulheit der Studenten gern aus und verlangten übertrieben hohe Preise. Und wenn ich ein paar Pennys sparen konnte, lohnte sich der Weg.
Als ich die Einkäufe erledigt hatte, ging ich zum Eolian. Deoch lehnte wie üblich am Eingang. »Ich habe Ausschau nach deinem Mädchen gehalten«, sagte er.
Gereizt darüber, wie leicht ich offenbar zu durchschauen war, murmelte ich: »Sie ist nicht mein Mädchen.«
Deoch verdrehte die Augen. »Dann eben nach dem Mädchen. Denna, Dianne, Dyanae … Wie auch immer sie sich gerade nennt. Und ich habe sie nicht gesehen. Ich habe mich sogar ein wenig umgehört, und seit einer ganzen Spanne hat niemand sie mehr gesehen. Das bedeutet, dass sie wahrscheinlich die Stadt verlassen hat. Das ist so ihre Art. Sie verschwindet immer mal wieder Hals über Kopf.«
Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. »Du hättest dir nicht so viel Mühe machen müssen«, sagte ich. »Aber trotzdem danke.«
»Ich habe mich nicht nur deinetwegen umgehört«, gestand Deoch. »Ich hege auch eine gewisse Zuneigung zu ihr.«
»Tust du das«, sagte ich, so ausdruckslos, wie ich nur konnte.
»Guck mich nicht so an. Ich bin keine Konkurrenz für dich.« Er lächelte schief. »Jedenfalls nicht mehr. Ich bin zwar keiner von euch Universitätstypen, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht klug genug bin, meine Hand nicht zwei Mal in das gleiche Feuer zu stecken.«
Ich kämpfte damit, meinen Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich lasse mir nicht gerne ansehen, was ich empfinde. »Also du und Denna …«
»Stanchion geht mir immer noch damit auf die Nerven, dass ich mal hinter einem Mädchen her war, das halb so alt war wie ich.« Er zuckte verlegen die Achseln. »Aber ich habe sie immer noch gern. Aber heute erinnert sie mich eher an meine jüngste Schwester.«
»Wie lange kennst du sie denn schon?«, fragte ich neugierig.
»Ich würde nicht sagen, dass ich sie wirklich kenne. Aber das erste Mal begegnet bin ich ihr vor – zwei Jahren? Nein, so lange ist das noch nicht her. Vielleicht anderthalb …« Deoch fuhr sich mit den Händen durch sein blondes Haar und streckte sich, und seine Armmuskeln spannten sich unter seinem Hemd. Dann seufzte er und schaute hinaus auf den fast leeren Hof. »Hier wird erst in einer Stunde was los sein. Kommst du mit einem alten Mann ein Gläschen trinken?« Er wies mit einer Kopfbewegung auf den Tresen.
Ich sah ihn an. Er war groß, muskulös, gebräunt. »Alter Mann? Du hast noch alle Haare und alle Zähne, oder? Wie alt bist du? Dreißig?«
»Nie fühlt ein Mann sich älter als neben einer jungen Frau.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Komm, trink was mit mir.« Wir gingen hinein, an den langen Mahagonitresen, und er ließ den Blick über die Flaschen schweifen und murmelte: »Bier trübt die Erinnerung, Schnaps lässt sie auflodern, aber Wein ist genau das Richtige für die Sehnsucht eines wunden Herzens.« Er hielt inne und sah sich zu mir um. »Der Rest fällt mir nicht mehr ein. Dir?«
»Das habe ich noch nie gehört«, sagte ich. »Aber Teccam zufolge eignet sich von allen Getränken nur Wein, wenn man in Erinnerungen schwelgen will. Ein guter Wein, schreibt er, ermögliche Klarheit und Konzentration, rücke die Erinnerungen aber gleichzeitig in ein angenehm gefärbtes Licht.«
»Einverstanden«, sagte Deoch, zog eine Flasche hervor, hielt sie ans Licht und spähte hindurch. »Dann schlage ich vor, dass wir sie in rosarotem Licht betrachten.« Er nahm zwei Gläser und führte mich zu einer Privatnische hinten im Saal.
»Dann kennst du Denna also schon eine ganze Weile«, sagte ich, als er uns den Rosé einschenkte.
Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Ich sah sie früher ab und zu. Aber genau genommen eher selten.«
»Wie war sie damals?«
Deoch dachte eine ganze Weile darüber nach und trank einen Schluck. »So wie heute«, sagte er schließlich. »Sie war jünger, aber ich kann nicht behaupten, dass sie mir jetzt älter vorkommt. Sie erschien mir immer älter, als sie eigentlich ist.« Er runzelte die Stirn. »Nein, älter ist nicht das richtige Wort, eher …«
»Erwachsener?«, schlug ich vor.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Mir fällt kein gutes Wort dafür ein. Das ist so, wie wenn man eine große Eiche betrachtet. Die bewundert man auch nicht, weil sie älter oder größer ist als die anderen Bäume. Sie hat einfach etwas, das den jüngeren Bäumen fehlt. Eine Vielschichtigkeit, Festigkeit, Bedeutsamkeit.« Deochs Miene verdüsterte sich. »Ich glaube, das war der blödeste Vergleich, den ich je gebracht habe.«
Ich musste lächeln. »Es ist schön zu sehen, dass ich nicht der Einzige bin, der Schwierigkeiten hat, sie in Worte zu fassen.«
»Nein, sie lässt sich schlecht fassen«, pflichtete Deoch bei und trank sein Glas aus. Er nahm die Flasche und klopfte mit dem Boden sacht an mein Glas. Ich trank aus, und er schenkte uns nach.
Deoch fuhr fort: »Sie war damals schon genau so rastlos und wild. Und genau so schön.« Er zuckte wieder die Achseln. »Wie gesagt: Nicht viel anders als heute auch. Eine liebliche Stimme, ebenso leichtfüßig wie schnellzüngig. Von den Männern verehrt und von den Frauen verachtet.«
»Verachtet?«
Deoch sah mich an, als verstünde er nicht, wieso ich fragte. »Frauen hassen Denna«, sagte er, als konstatiere er etwas, das wir beide längst wüssten.
»Hassen?« Der Gedanke verblüffte mich. »Aber wieso?«
Deoch sah mich ungläubig an und brach dann in Gelächter aus. »Mein Gott, du verstehst aber auch wirklich überhaupt nichts von Frauen, oder?« Normalerweise hätte ich eine solche Bemerkung übel genommen, doch er meinte es nicht böse. »Überleg doch mal. Sie ist schön und charmant. Die Männer balgen sich um sie wie brünftige Hirsche. Es ist doch klar, dass ihr das von Frauen verübelt wird.«
Mir fiel wieder ein, was Sim kürzlich über Deoch gesagt hatte: Er hat wieder mal die schönste Frau des Abends rumgekriegt. Für so etwas muss man den Mann einfach hassen. »Mir kam sie immer recht einsam vor«, wendete ich ein. »Vielleicht ist das der Grund dafür.«
Deoch nickte ernst. »Da ist was dran. Man sieht sie nie mit anderen Frauen. Und mit Männern hat sie etwa so viel Glück wie …« Er hielt inne, suchte nach einem Vergleich. »Wie … Mist.« Er seufzte.
»Wie man so sagt: Den richtigen Vergleich zu finden ist so schwer wie …« Ich zog ein nachdenkliches Gesicht. »So schwer wie …« Ich machte eine ratlose Geste.
Deoch lachte und schenkte uns nach. Ich entspannte mich allmählich. Es gibt eine Art von Kameradschaft unter Männern, die sich nur einstellen kann, wenn man gegen die gleichen Gegner gekämpft oder die gleichen Frauen gekannt hat. »Hatte sie damals auch schon die Angewohnheit, einfach so zu verschwinden?«
Er nickte. »Ohne Vorwarnung. Manchmal für eine Spanne. Manchmal für Monate.«
»So wechselhaft wie der Wind oder der Wille einer Frau«, zitierte ich. Es sollte nachdenklich klingen, klang aber doch eher bitter. »Hast du eine Ahnung, was dahinter steckt?«
»Ich habe oft darüber nachgedacht«, erwiderte er. »Zum Teil liegt es, glaube ich, in ihrem Charakter begründet. Sie hat wohl einfach eine Vagabundenseele.«
Bei diesem Wort musste ich daran denken, dass mein Vater uns einst manchmal befohlen hatte, die Zelte abzubrechen und eine Stadt zu verlassen, obwohl wir dort willkommen gewesen waren und das Publikum nur so zu uns strömte. Später erklärte er mir dann seine Gründe: Ein böser Blick von einem Polizisten, allzu viele schmachtende Seufzer von den jungen Ehefrauen des Orts …
Doch manchmal hatte er gar keinen Grund. Wir Ruh sind für die Wanderschaft gemacht, mein Junge. Und wenn mein Instinkt mir sagt, dass wir weiterziehen sollen, dann vertraue ich diesem Instinkt.
»Aber größtenteils liegt es wohl an ihren Lebensumständen«, fuhr Deoch fort.«
»Lebensumständen?«, fragte ich neugierig. Sie hatte mit mir nie über ihre Vergangenheit gesprochen, und ich wollte sie auch nicht drängen, darüber zu sprechen. Ich wusste schließlich aus eigener Erfahrung, wie es war, wenn man über seine Vergangenheit nicht sprechen wollte.
»Na ja, sie hat keine Familie und niemanden, der sie unterstützt. Keine alten Freunde, die ihr mal aus der Klemme helfen könnten.«
»Das habe ich auch nicht«, sagte ich. Der Wein machte mich ein wenig verdrießlich.
»Das ist ein himmelweiter Unterschied«, entgegnete Deoch leise tadelnd. »Einem Mann stehen viele Wege offen, wie er sich durchs Leben schlagen kann. Du hast einen Studienplatz an der Universität ergattert, und auch wenn dir das nicht gelungen wäre, stünden dir noch viele andere Möglichkeiten offen.« Er sah mich mit einem vielsagenden Blick an. »Aber welche Möglichkeiten hat ein junges, hübsches Mädchen, das keine Familie hat? Ohne Mitgift? Ohne Zuhause?«
Er zählte es an den Fingern ab. »Sie könnte betteln oder sich prostituieren. Oder sie könnte die Mätresse eines Edelmannes werden, was letztlich auf das Gleiche hinausläuft. Und wir wissen doch beide, dass Denna nicht zur Mätresse taugt.«
»Es gibt doch auch noch andere Verdienstmöglichkeiten«, wendete ich ein und zählte sie ebenfalls an den Fingern ab. »Sie könnte als Näherin arbeiten – oder als Kellnerin …«
Deoch schnaubte. »Also bitte, das weißt du doch besser. Du weißt doch, wie es in diesen Verhältnissen zugeht. Und du weißt auch, dass ein hübsches Mädchen, das keine Familie hat, letztlich genauso ausgenutzt wird wie eine Prostituierte – nur schlechter entlohnt.«
Bei dieser Zurechtweisung wurde ich ein wenig rot, auch weil mir der Wein allmählich zu Kopf stieg. Meine Lippen und Fingerspitzen wurden schon ein wenig taub davon.
Deoch schenkte uns nach. »Man kann es ihr nicht übel nehmen, dass sie geht, wohin der Wind sie weht. Sie muss die Möglichkeiten nutzen, die sich ihr bieten. Wenn sie die Gelegenheit bekommt, mit Leuten zu reisen, die sie gern singen hören, oder mit einem Händler, der hofft, dass ihr hübsches Gesicht ihm dabei hilft, seine Waren an den Mann zu bringen, wer wollte es ihr da verdenken, wenn sie ihre Zelte abbricht und die Stadt verlässt? Und wenn sie dabei ihre Reize nutzt, werde ich deshalb nicht schlecht von ihr denken. Junge Adlige machen ihr den Hof, kaufen ihr Geschenke, Kleider, Schmuck.« Er zuckte die Achseln. »Und wenn sie diese Dinge später wieder zu Geld macht, um davon zu leben, ist das nicht verwerflich. Diese Geschenke wurden ihr freiwillig gemacht, und sie kann damit tun, was sie will.«
Er sah mich an. »Aber was soll sie machen, wenn einer dieser Männer zudringlich wird? Oder wenn er wütend wird, weil er nicht bekommt, was er meint, bezahlt zu haben? Welcher Ausweg bleibt ihr dann? Sie hat keine Familie, keine Freunde, sie gehört keinem Stand an. Dann bleibt ihr nur eine Wahl: Sie kann sich ihm hingeben, gegen ihren Willen …« Deoch sah grimmig drein. »Oder sie sieht ganz schnell zu, dass sie Land gewinnt. Ist es da ein Wunder, dass sie schwieriger zu erhaschen ist als ein Blatt im Wind?«
Er schüttelte den Kopf und blickte auf die Tischplatte. »Nein. Ich beneide sie nicht um das Leben, das sie führt. Und ich mache ihr keine Vorwürfe.« Seine Worte schienen nun erschöpft und sie waren ihm offenbar ein wenig peinlich. Er sah mich nicht an, als er fortfuhr. »Ich würde ihr helfen, wenn sie mich ließe.« Er hob den Blick und sah mich mit einem verdrießlichen Lächeln an. »Aber sie will niemandem zu Dank verpflichtet sein. Auf keinen Fall.« Er seufzte und verteilte die letzten Tropfen des Weins gleichmäßig auf unsere Gläser.
»Du hast sie mir in einem ganz neuen Licht gezeigt«, sagte ich. »Und es ist mir peinlich, dass ich es nicht selbst erkannt habe.«
»Na ja, ich habe dir etwas voraus«, erwiderte er leichthin. »Ich kenne sie schon länger.«
»Trotzdem danke«, sagte ich und hob mein Glas.
Er hob seines ebenfalls. »Auf Dyanae«, sagte er. »Die Holdeste der Holden.«
»Auf Denna, Pracht und Wonne.«
»Jung und unbeugsam.«
»Und strahlend schön.«
»Stets begehrt, stets allein.«
»So klug und so töricht«, sagte ich. »So fröhlich und so traurig.«
»Götter meiner Ahnen«, sagte Deoch ehrfürchtig. »Schützt sie vor allem Leid und erhaltet sie so, wie sie ist.«
Wir tranken und stellten die Gläser ab.
»Lass mich die nächste Flasche ausgeben«, sagte ich. Damit wäre mein mühsam erspieltes Getränkekontingent zwar erschöpft, aber Deoch wuchs mir zusehends ans Herz, und es kam gar nicht in Frage, dass ich mich nicht revanchierte.
Er rieb sich das Gesicht. »Lieber nicht. Noch eine Flasche, und wir liegen, noch bevor die Sonne untergeht, am Fluss und schlitzen uns die Pulsadern auf.«
Ich winkte einer Kellnerin. »Ach was«, sagte ich. »Wir steigen nur auf etwas um, das einen nicht so wehmütig macht wie Wein.«
Ich bemerkte gar nicht, dass ich verfolgt wurde, als ich zur Universität zurückging. Vielleicht war in meinen Gedanken kein Raum für etwas anderes als für Denna. Oder vielleicht führte ich mittlerweile schon so lange ein zivilisiertes Leben, dass die Reflexe, die ich mir in Tarbean angeeignet hatte, allmählich zu schwinden begannen.
Der Brombeerbrand trug wahrscheinlich auch das Seinige dazu bei. Deoch und ich hatten uns noch lange unterhalten und gemeinsam eine halbe Flasche von dem Zeug geleert. Den Rest hatte ich mitgenommen, da ich wusste, dass Simmon ein Faible dafür hatte.
Aber es spielt ja auch keine Rolle, wieso ich sie nicht bemerkte. Ich schlenderte jedenfalls gerade einen schlecht beleuchteten Abschnitt der Newhall Lane hinab, als ich einen stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf bekam und fast bewusstlos in eine nahe Gasse gezerrt wurde.
Ich war nur einen Moment lang benommen, und als ich wieder zu Sinnen kam, hielt mir eine kräftige Hand den Mund zu. »Hör gut zu«, zischte mir der große Mann, der hinter mir stand, ins Ohr. »Ich habe ein Messer. Wenn du dich wehrst, steche ich zu. So einfach ist das.« Ich spürte etwas Spitzes an meinem Brustkorb, unter dem linken Arm. »Was sagt der Peiler?«, fragte er seinen Begleiter.
Eine große Gestalt war alles, was ich im Schummerlicht der Gasse erkannte. Der Mann neigte den Kopf und starrte in seine Hand. »Ich kann es nicht erkennen.«
»Dann nimm ein Streichholz. Wir müssen sicher sein.«
Jetzt bekam ich Panik. Das war kein Raubüberfall. Sie hatten nicht einmal meine Taschen nach Geld durchsucht. Hier ging es um etwas anderes.
»Wir wissen doch, dass er es ist«, sagte der Größere ungeduldig. »Bringen wir es hinter uns. Mir ist kalt.«
»Von wegen. Wir überprüfen das jetzt, wo wir ihn schon haben. Er ist uns schon zwei Mal entwischt. Und noch so eine beschissene Verwechslung wie in Anilin kann ich nicht gebrauchen.«
»Das verwünschte Ding«, sagte der Größere und wühlte in seinen Taschen, immer noch auf der Suche nach einem Streichholz.
»Du bist doch ein Idiot«, erwiderte der andere, der hinter mir stand. »Es ist so viel sicherer. Und auch viel einfacher. Keine verwirrenden Beschreibungen. Keine Namen. Keine Tarnung. Wir folgen der Nadel, finden den Mann und erledigen die Arbeit.«
Ihr sachlich-nüchterner Tonfall jagte mir einen Schrecken ein. Es waren offenbar Profis. Ich war mir nun schlagartig sicher, dass Ambrose tatsächlich etwas unternommen hatte, dass ich ihm nie wieder auf die Nerven gehen konnte.
Ich überlegte hektisch und tat das Einzige, was mir einfiel: Ich ließ die halbvolle Flasche Obstbrand fallen. Sie zersprang auf dem Kopfsteinpflaster, und die Abendluft war plötzlich von Brombeerduft erfüllt.
»Na toll«, zischte der Größere. »Warum lässt du ihn nicht gleich auch noch eine Glocke läuten?«
Der Mann hinter mir packte meinen Hals fester und schüttelte mich, so wie man einen jungen Hund schüttelt, um ihm Manieren beizubringen. »Lass den Scheiß«, sagte er gereizt.
Ich erschlaffte in der Hoffnung, ihn so in Sicherheit zu wiegen, konzentrierte mich dann und flüsterte unter seiner Pranke eine Bindeformel.
»Wenn du in die Glasscherben trittst, bist du selber schuld«, murmelte der Mann. Dann schrie er erschrocken auf, als die Schnapspfütze zu unseren Füßen in Brand geriet.
Ich nutzte die Verwirrung und löste mich aus seinem Griff, war aber nicht schnell genug. Er erwischte mich gerade noch mit seinem Messer am Brustkorb. Dann rannte ich die Gasse hinunter.
Meine Flucht war jedoch zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Die Gasse war eine Sackgasse und endete an einer Ziegelmauer. Keine Türen, keine Fenster, nichts, wohinter man sich hätte verstecken können oder was man hätte nutzen können, um die Mauer hochzuklettern. Ich saß in der Falle.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass die beiden Männer den Ausgang der Sackgasse blockierten. Der Größere war immer noch damit beschäftigt, die Flammen an seinem Hosenbein zu löschen.
Mein linkes Hosenbein brannte ebenfalls, aber ich verschwendete keinen Gedanken darauf. Eine kleine Brandwunde war das geringste meiner Probleme, wenn ich jetzt nicht schnell etwas unternahm. Ich sah mich noch einmal um, aber die Gasse war beklagenswert sauber. Hier lag nicht einmal irgendwelcher Unrat herum, den man als Waffe hätte gebrauchen können. Hektisch ging ich im Geiste durch, was ich in den Taschen meines Umhangs dabei hatte, und überlegte verzweifelt, was ich tun sollte. Eine kleine Rolle Kupferdraht war nutzlos. Salz – sollte ich es ihnen in die Augen schleudern? Nein. Ein getrockneter Apfel, Feder und Tinte, eine Murmel, Bindfäden, Wachs …
Der Größere der beiden hatte mittlerweile das brennende Hosenbein gelöscht, und nun kamen sie langsam die Gasse herauf. Das Licht der brennenden Pfütze fing sich auf den Klingen ihrer Dolche.
Immer noch dabei, meine Taschen zu durchsuchen, stieß ich auf einen Klumpen, den ich nicht erkannte. Dann fiel es mir wieder ein. Das war der Beutel mit den Bassalfeilspänen, die ich für meine Sympathielampe gekauft hatte.
Bassal ist ein silbriges Leichtmetall. Ich wollte es einigen Legierungen beimengen. Und Manet, stets der sorgsame Lehrmeister, hatte großen Wert darauf gelegt, mir bei jedem Material, das wir verwendeten, die damit verbundenen Gefahren zu erläutern. Bassal, so hatte er mir erklärt, brennt, wenn es ausreichend erhitzt wird, mit heißer, weißer Flamme.
Geschwind öffnete ich den Beutel. Das Dumme war, dass ich nicht wusste, wie ich es bewerkstelligen sollte. Einen Kerzendocht oder Alkohol zu entzünden, ist nicht schwer. Dazu braucht es nur einen gebündelten Hitzestoß. Bei Bassal aber ist es anders. Es entzündet sich nur bei großer Hitze. Deshalb dachte ich mir auch nichts dabei, es in der Tasche mit mir herumzutragen.
Die Männer kamen noch ein paar Schritte näher, und ich warf die Hand voll Bassalspäne in hohem Bogen in ihre Richtung. Ich zielte auf ihre Gesichter, machte mir aber keine großen Hoffnungen, denn die Späne waren sehr leicht, und es war, als würde man eine Hand voll losen Schnee werfen.
Ich hielt eine Hand an die Flamme an meinem Hosenbein und besann mich auf mein Alar. Die brennende Obstbrandpfütze hinter den beiden Männern erlosch, und nun war die Gasse in Dunkelheit getaucht. Die Hitze aber reichte noch nicht aus. In meiner Verzweiflung berührte ich meine blutende Seite und konzentrierte mich. Eine fürchterliche Kälte fuhr mir in die Glieder, als ich die Wärme meines Bluts anzapfte.
Die Gasse wurde mit einem Schlag in grelles weißes Licht getaucht. Ich hatte die Augen geschlossen, aber selbst durch die zugekniffenen Lider war es noch stechend hell. Einer der Männer schrie erschrocken auf. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich so geblendet, dass ich nur Schemen sah.
Der Schrei ging in ein Stöhnen über, und ich hörte einen dumpfen Laut, so als wäre einer der Männer hingefallen. Der Größere begann zu stammeln, seine Stimme kaum mehr als ein verängstigtes Schluchzen. »O Gott, Tam. Meine Augen. Ich bin blind.«
Allmählich konnte ich die Gasse wieder erkennen. Ich sah die dunklen Gestalten der beiden Männer. Der eine hockte auf den Knien und hielt sich die Hände vors Gesicht, und der andere lag etwas weiter hinten ausgestreckt am Boden. Er war offenbar mit dem Kopf an einen niedrigen Dachbalken geprallt und bewusstlos zu Boden gegangen. Über das Kopfsteinpflaster verteilt, sprühten die Bassalspäne noch letzte Funken.
Der hockende Mann war sicherlich nur vorübergehend geblendet, aber es würde noch einige Minuten anhalten. Zeit genug, um mich aus dem Staub zu machen. Ich ging langsam an ihm vorbei und gab mir dabei große Mühe, leise aufzutreten. Mein Herz machte einen Satz, als seine Stimme wieder erklang.
»Tam?« Der Mann hörte sich völlig verängstigt an. »Ich schwör dir, Tam, ich bin blind. Der Junge hat einen Blitz auf mich herabbeschworen.« Nun kroch er auf allen Vieren und tastete mit den Händen umher. »Du hattest recht. Wir hätten nicht herkommen sollen. Mit solchen Leuten sollte man sich nicht anlegen.«
Einen Blitz. Natürlich. Er verstand ja nichts von echter Magie. Da kam mir eine Idee.
Ich atmete tief durch und beruhigte meine Nerven ein wenig. »Wer hat euch gesandt?«, fragte ich in meinem besten Taborlin-der-Große-Tonfall. Er war zwar nicht so gut wie der meines Vaters, aber auch nicht schlecht.
Der Größere der beiden stöhnte jämmerlich und erstarrte. »Oh, Sir. Bitte tut mir nichts …«
»Ich frage nicht noch einmal«, schnitt ich ihm wütend das Wort ab. »Sag mir, wer euch gesandt hat. Und wenn du es wagst mich anzulügen, wird es dir schlecht ergehen.«
»Ich weiß keine Namen«, sagte er hastig. »Wir haben nur einen Vorschuss und ein Haar bekommen. Wir wissen keine Namen. Wir treffen die Leute gar nicht. Ich schwöre …«
Ein Haar. Was er als ›Peiler‹ bezeichnet hatte, war wahrscheinlich ein Wünschelkompass. Ich konnte etwas so Anspruchsvolles zwar noch nicht bauen, wusste aber, wie es prinzipiell funktionierte. Mit einem Haar von mir fand man mich mit diesem Gerät überall.
»Wenn ihr mir jemals wieder unter die Augen kommt, werde ich Schlimmeres auf euch herabbeschwören als nur Blitze«, sagte ich drohend und ging weiter zum Ausgang der Gasse. Wenn es mir gelang, den Wünschelkompass an mich zu nehmen, musste ich mir keine Sorgen machen, dass sie mich womöglich ein weiteres Mal aufspüren würden. Es war dunkel, und ich hatte die Kapuze meines Umhangs auf. Möglicherweise wussten sie gar nicht, wie ich aussah.
»Vielen Dank, Sir«, stammelte der Mann. »Ich schwöre Euch, Ihr werdet uns nie wieder sehen. »Vielen, vielen Dank …«
Ich sah mir den hingestürzten Mann an. Eine Hand lag auf dem Pflaster, aber sie war leer. Ich sah mich um, fragte mich, ob er das Gerät hatte fallen lassen. Wahrscheinlich hatte er es eher eingesteckt. Ich trat zu ihm, hielt den Atem an und tastete seinen Umhang nach Taschen ab, aber der Umhang hing unter ihm fest. Dann packte ich seine Schulter und drehte ihn vorsichtig …
In diesem Moment stöhnte er leise und drehte sich von sich aus auf den Rücken. Sein Arm klappte aufs Pflaster und schlug mir ans Bein.
Ich würde jetzt gerne behaupten, dass ich einen Schritt zurücktrat, da ich ja wusste, dass der Größere der beiden immer noch benommen und geblendet sein musste. Ich würde euch gerne erzählen, dass ich ganz ruhig blieb und mein Bestes gab, um die beiden noch mehr einzuschüchtern. Oder wenigstens, dass ich noch etwas Dramatisches oder sogar Witziges sagte, ehe ich ging.
Doch das wäre gelogen. In Wahrheit lief ich fort wie ein verängstigtes Reh. Ich legte gut eine Viertelmeile zurück, bevor meine geblendeten Augen mich in der Dunkelheit im Stich ließen und ich gegen ein gespanntes Seil lief und unter Schmerzen zu Boden ging. Halb blind und blutend lag ich da. Und erst da wurde mir klar, dass ich gar nicht mehr verfolgt wurde.
Ich kämpfte mich wieder hoch und verwünschte mich. Wenn ich vernünftig gewesen wäre, hätte ich den Wünschelkompass an mich genommen und wäre so vor Nachstellungen sicher gewesen. Nun aber musste ich andere Vorsichtsmaßnahmen treffen.
Ich ging zum Anker’s, doch als ich dort eintraf, brannte kein Licht mehr, und die Tür war abgeschlossen. Also kletterte ich, noch halb betrunken und verletzt, wie ich war, zu meinem Fenster hinauf und zog daran … Aber es ließ sich nicht öffnen.
Es war mindestens eine Spanne her, dass ich so spät heimgekommen war, dass ich durchs Fenster hatte steigen müssen. Waren die Scharniere eingerostet?
Ich stützte mich an der Mauer ab, zog meine Handlampe hervor und stellte sie auf die schwächste Stufe. Erst da entdeckte ich, dass etwas in der Fensterritze steckte. Hatte Anker mein Fenster mit einem Keil verriegelt?
Doch als ich es berührte, zeigte sich, dass es gar kein Holz, sondern ein gefaltetes Blatt Papier war. Ich zog es heraus, und das Fenster ließ sich leicht öffnen.
Mein Hemd war ruiniert, doch als ich es auszog, war ich erleichtert. Die Schnittwunde war nicht tief. Sie verlief unregelmäßig und tat sehr weh, war aber nicht so schlimm wie die, die ich mir bei der Auspeitschung zugezogen hatte. Der Umhang, den Fela mir geschenkt hatte, war ebenfalls aufgerissen, was ärgerlich war. Aber letztlich ließ er sich leichter flicken als eine Niere. Ich nahm mir vor, Fela dafür zu danken, dass sie einen so festen Stoff ausgesucht hatte.
Doch das Flicken des Umhangs konnte warten. Womöglich hatten sich die beiden Männer von dem Schreck, den ich ihnen eingejagt hatte, bereits wieder erholt und suchten vielleicht schon wieder nach mir.
Ich stieg wieder zum Fenster hinaus und ließ den Umhang zurück, damit er kein Blut abbekam. Ich baute ganz darauf, dass mich zu dieser späten Stunde niemand sah. Gar nicht auszudenken, was für Gerüchte die Runde machen würden, wenn mich jemand erblickte, wie ich mitten in der Nacht blutend und mit nacktem Oberkörper über die Dächer lief.
Ich lief zum Dach eines Mietstalls, von dem aus man auf den Hof mit dem Fahnenmast sah. Unterwegs sammelte ich eine Hand voll Blätter.
Im Mondschein konnte ich dort unten das Laub übers Kopfsteinpflaster trudeln sehen. Ich riss mir ein paar Haare aus, kratzte etwas Teer von einer Dachnaht und klebte damit ein Haar an ein Blatt. Das wiederholte ich ein Dutzend Mal und warf die Blätter dann vom Dach in den Hof hinunter.
Die Blätter flatterten in alle Himmelsrichtungen davon, und ich musste angesichts der Vorstellung lächeln, dass jemand versuchen würde, mich anhand von einem Dutzend widersprüchlichen Signalen aufzuspüren.
Ich hatte mir diesen Hof ausgesucht, weil hier eigenartige Windverhältnisse herrschten. Das war mir erst kürzlich aufgefallen, als das erste Laub dieses Herbstes gefallen war. Die Blätter trudelten hier in chaotischen Mustern über das Kopfsteinpflaster, mal in die eine, mal in die andere Richtung, und es ließ sich nie vorhersagen, wo sie landen würden.
Wenn man diese merkwürdigen Windverhältnisse erst einmal bemerkt hatte, fiel es schwer, sie zu ignorieren. Und von dort oben aus gesehen, hatten diese Wirbel eine geradezu hypnotische Wirkung. Sie bannten den Blick, wie dahinströmendes Wasser oder die Flammen eines Lagerfeuers.
Als ich dem Schauspiel in dieser Nacht zusah, erschöpft und verwundet, wie ich war, wirkte es entspannend auf mich. Und je länger ich zuschaute, desto weniger chaotisch erschien es mir. Ja, ich begann das große Muster zu erahnen, nach dem sich der Wind auf diesem Hof bewegte. Es wirkte nur chaotisch, weil es so ungeheuer komplex war. Und es schien sich auch ständig zu ändern. Es war ein Muster, das aus sich ständig verändernden Mustern bestand. Es war –
»So spät noch unterwegs?«, sagte eine leise Stimme hinter mir.
Aus meinen Gedanken gerissen, spannte sich mein Körper an, bereit zur Flucht. Wie hatte jemand hier heraufkommen können, ohne dass ich es bemerkte?
Es war Elodin. Meister Elodin. Er war nur mit einer Hose und einem offenen Hemd bekleidet. Er winkte mir zu und ließ sich dann im Schneidersitz auf der Dachkante nieder, so selbstverständlich, als würden wir uns in einer Schenke auf ein Bier treffen.
Er sah hinab in den Hof. »Heute Nacht ist es besonders schön, nicht wahr?«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte meinen nackten, blutigen Oberkörper zu verbergen. Erst da fiel mir auf, dass das Blut an meinen Händen bereits getrocknet war. Wie lange hatte ich denn dort reglos gesessen und dem Wind zugesehen?
»Meister Elodin«, sagte ich und verstummte dann wieder. Ich hatte keine Ahnung, was ich in einer solchen Situation sagen sollte.
»Bitte, wir sind doch hier unter uns. Nenn mich bei meinem Vornamen: Meister.« Er grinste und sah wieder in den Hof hinab.
Hatte er denn nicht bemerkt, in was für einem Zustand ich mich befand? Oder war er nur höflich? Vielleicht … Ich schüttelte den Kopf. Bei ihm wäre es sinnlos gewesen, irgendwelche Mutmaßungen anzustellen, denn ich wusste nur zu gut, dass Elodin nicht mit normalen Maßstäben zu messen war.
»Vor langer Zeit«, sagte er im Plauderton und ohne den Blick von dem Hof zu lösen, »als hier noch eine andere Sprache gesprochen wurde, hieß das hier Quoyan Hayel. Später nannte man es ›das Fragenhaus‹, und die Studenten machten sich einen Spaß daraus, Fragen auf kleine Zettel zu notieren und sie dann hier hin und her wehen zu lassen. Die Antwort auf so eine Frage erhielt man angeblich, indem man verfolgte, auf welchem Weg der Zettel den Platz verließ.« Er deutete auf die Straßen, die zwischen den grauen Gebäuden auf den Platz mündeten. »Ja. Nein. Vielleicht. Woanders. Bald.«
Er zuckte die Achseln. »Aber das war alles ein Irrtum. Ein Übersetzungsfehler. Man glaubte, Quoyan sei eine Vorform von Quetentan – Frage. Aber das stimmt nicht. Quoyan bedeutet ›Wind‹. Das hier ist richtig übersetzt ›Das Haus des Windes‹.«
Ich wartete einen Moment, ob er noch etwas sagen würde. Als er schwieg, erhob ich mich langsam. »Das ist sehr interessant, Meister …« Ich zögerte, da ich nicht wusste, wie ernst er das alles gemeint hatte. »Aber ich muss jetzt gehen.«
Elodin nickte gedankenverloren und winkte mir zu. Den Hof ließ er dabei keinen Moment lang aus dem Blick, verfolgte weiter die Wirbel des unablässig sich wandelnden Windes.
Zurück in meinem Zimmer im Anker’s saß ich eine ganze Weile im Dunkeln auf dem Bett und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte Schwierigkeiten, klar zu denken. Ich war erschöpft, hatte Verletzungen und war immer noch ein wenig betrunken. Die Wirkung des Adrenalins, das mich bis dahin angetrieben hatte, ebbte ab, und die Schnittwunde an meiner Seite fing wieder an zu schmerzen.
Ich atmete tief durch und versuchte mich zu konzentrieren. Bis dahin hatte ich mich auf meine Instinkte verlassen, nun aber musste ich sorgfältig über die Dinge nachdenken.
Konnte ich die Meister um Hilfe bitten? Für einen Moment keimte Hoffnung in mir auf, doch sie hielt nicht lange. Nein. Ich konnte nicht beweisen, dass Ambrose dahinter steckte. Und wenn ich ihnen die ganze Geschichte erzählte, musste ich auch gestehen, dass ich die Sympathie dazu genutzt hatte, die Angreifer zu verbrennen und zu blenden. Ob Notwehr oder nicht, das war zweifellos ein strafwürdiges Vergehen. Studenten waren schon für geringere Fehltritte von der Universität verwiesen worden, nur um den guten Ruf des Instituts zu wahren.
Nein. Ich konnte nicht riskieren, dass sie mich wegen dieser Geschichte rauswarfen. Und wenn ich zur Mediho ging, würde es zu viele Fragen geben. Wenn ich die Wunde dort nähen ließ, würde sich herumsprechen, dass ich verletzt war. Damit würde Ambrose erfahren, wie nah er seinem Ziel gekommen war. Nein, es wäre besser, den Eindruck zu vermitteln, dass ich es unversehrt überstanden hatte.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange Ambroses Schergen mir schon folgten. Der eine hatte gesagt: »Er ist uns schon zweimal entwischt.« Das bedeutete, dass sie womöglich wussten, dass ich hier im Anker’s wohnte. Ich war hier möglicherweise nicht mehr sicher.
Ich verriegelte das Fenster und zog den Vorhang zu, bevor ich meine Handlampe anschaltete. In ihrem Licht erblickte ich das Stück Papier, das in der Fensterritze gesteckt hatte. Ich faltete es auseinander und las:
Lieber Kvothe,
hier heraufzuklettern, macht tatsächlich genauso viel Spaß, wie es bei dir ausgesehen hat. Aber dein Fenster aufzubekommen, war gar nicht so einfach. Da ich dich nicht angetroffen habe, hoffe ich, dass du nichts dagegen hast, dass ich mir ein wenig Papier und Tinte borge, um dir diesen Brief zu hinterlassen. Und da du weder unten aufspielst noch hier oben friedlich im Bett liegst, könnte man sich, wenn man böswillig wäre, fragen, was du zu so später Stunde noch treibst und ob du womöglich etwas Zwielichtiges unternimmst. Ach je, jetzt muss ich heute Abend allein nach Hause gehen, ohne dass du mich begleitest und ich mich an deiner Gesellschaft erfreuen könnte.
Ich habe dich am vergangenen Felling im Eolian vermisst. Sehr schade, dass wir uns nicht gesehen haben. Dafür hatte ich aber das Glück, dort jemand Interessantes kennen zu lernen. Es ist ein ziemlich einzigartiger Mensch, und ich muss dir unbedingt das wenige, was ich über ihn weiß, erzählen. Wenn wir uns wieder sehen.
Ich bin jetzt im Schwan in Imre abgestiegen. Bitte besuche mich dort noch vor dem 23. dieses Monats, dann holen wir unser Mittagessen nach. Anschließend werde ich in Geschäften unterwegs sein.
Deine Freundin und angelernte Einbrecherin
Denna
PS: Sei bitte versichert, dass ich nicht bemerkt habe, in welch scheußlichem Zustand sich deine Bettwäsche befindet, und daraus keinesfalls auf deinen Charakter schließen werde.
Heute war der 28. Der Brief war nicht datiert, hatte aber wahrscheinlich mindestens anderthalb Spannen am Fenster gesteckt. Sie musste ihn einige Tage nach dem Brand im Handwerkszentrum dort hinterlassen haben.
Ich überlegte kurz, wie ich das einschätzte. War ich geschmeichelt, weil sie versucht hatte, mich zu finden? War ich wütend, dass ich den Brief nicht schon früher bemerkt hatte? Und was den Mann anging, den sie da kennengelernt hatte …
Das war alles in diesem Moment viel zu viel für mich – erschöpft, verletzt und immer noch ein wenig betrunken, wie ich war. Anstatt mich damit auseinanderzusetzen, säuberte ich die Schnittwunde, so gut es ging, an meinem Waschbecken. Ich hätte sie selbst genäht, kam aber nicht gut genug dran. Die Wunde fing wieder an zu bluten, und ich schnitt die nicht ganz so schmutzigen Partien meines ruinierten Hemdes ab und improvisierte daraus einen Verband.
Blut. Die Männer, die versucht hatten, mich umzubringen, hatten immer noch den Wünschelkompass, und zweifellos war auf der Dolchklinge etwas Blut von mir. Blut wäre bei so einem Kompass ein viel besserer Indikator als nur ein Haar, und das bedeutete, dass sie mich, selbst wenn sie bisher nicht wussten, wo ich wohnte, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen leicht finden konnten.
Ich hastete in meinem Zimmer hin und her und stopfte, weil ich nicht wusste, wann ich zurückkehren konnte, alles, was irgendeinen Wert besaß, in meinen Reisesack. Unter einem Stapel Papiere entdeckte ich ein kleines Klappmesser, das ich ganz vergessen hatte. Ich hatte es Sim beim Kartenspielen abgeknöpft. In einem Kampf würde es mir zwar nicht viel nützen, aber es war besser als nichts.
Dann schnappte ich meine Laute und meinen Umhang und schlich mich nach unten in die Küche, wo ich das Glück hatte, eine leere Weinamphore mit großer Öffnung zu finden.
Ich brach in Richtung Osten auf und überquerte den Fluss, ging aber nicht ganz bis nach Imre. Vielmehr bog ich nach Süden ab, wo ein paar Anleger in den mächtigen Omethi ragten und am Ufer ein schäbiges Wirtshaus und noch ein paar weitere Gebäude standen. Von diesem Hafen aus wurde Imre beliefert; er war so klein, dass er nicht einmal einen eigenen Namen hatte.
Ich stopfte den Rest meines blutigen Hemds in die Amphore und verschloss sie wasserdicht mit Sympathiewachs. Dann warf ich sie in den Omethi und sah zu, wie sie langsam flussabwärts trieb. Wenn die Männer anhand meines Bluts nach mir suchten, würde es so aussehen, als wäre ich nach Süden unterwegs. Hoffentlich folgten sie ihrem Kompass.